Kapitel 3

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»Du solltest etwas essen, bevor du losgehst.« Kris Warren stand in der Tür zwischen Küche und Flur und schüttelte den Kopf.

Hailey warf sich ihren Mantel über, rückte den Stoff ihres grauen Sweatshirts zurecht und lächelte ihre Mutter an.

»Ich bin mit Meggie verabredet. Ich werde in ihrem Café etwas essen«, versicherte sie. »Ich verspreche es«, fügte sie hinzu, wohl wissend, dass keine Worte eine so sturköpfige Frau wie ihre Mutter überzeugen würden.

»Komm einfach zum Maittagessen nach Hause, okay?«, seufzte diese und gab schließlich auf. Gerade als sie in der Küche verschwinden wollte, fiel ihr plötzlich etwas ein: »Ah, ein paar Tage vor deiner Rückkehr habe ich mit Mary gesprochen. Ich sollte sie auf einen Kaffee einladen. Sie und Greg haben dich wirklich vermisst.«

Hailey zwang sich zu einem Lächeln. Die Calloways wohnten ein paar Häuser weiter in der gleichen Straße, waren mit ihren Eltern befreundet und hatten sie als Kind wie ihre eigene Tochter behandelt.

»Sicher, Mum.« Sie griff nach den Schlüsseln, die auf einem Tisch in der Nähe lagen. »Dad wird doch sicherlich nicht böse sein, wenn ich mir noch einmal sein Auto ausleihe, oder?«

»Natürlich nicht, mein Schatz. Er und Thomas werden wahrscheinlich den ganzen Tag in der Firma verbringen.« Sie verstummte für einen Moment. »Ich bin mir sicher, er wird es nicht einmal bemerken. Nun geh und grüß Meggie von mir. Pass auf dich auf, fahr vorsichtig.«

»Mum«, warf sie sanft ein. »Ich bin kein kleines Kind mehr, okay?«

»Für mich wirst du immer meine kleine Hailey bleiben.« Ein Schatten zeichnete sich auf dem Gesicht ihrer Mutter ab.

Hailey machte einen Schritt nach vorne und umarmte ihre Mutter.

»Ich werde Spaghetti mit Pesto zubereiten« flüsterte Kris, als wolle sie das Thema wechseln, um nicht zu weinen. »Sei einfach zum Mittagessen wieder da, okay?«

»Okay, Mum.«

Der alte Chevrolet sprang erst beim dritten Versuch an. Hailey brauchte mehr als zwanzig Minuten, um ins Stadtzentrum zu fahren, aber als sie schließlich vor dem Eingang des Blue Coffee stand, schlich sich ein zufriedenes Grinsen auf ihr Gesicht. Meggie hatte von ihrem eigenen Café geträumt seit – nun, eigentlich seit immer. Hailey war stolz darauf, dass ihre Freundin es geschafft hatte.

Als sie die Tür aufstieß und eintrat, läutete die Glocke, die über der Tür hing, leise. Der Innenraum des Cafés war klein, aber sehr gemütlich: Die blauen Wände mit den aufgemalten Wolken fielen einem sofort ins Auge, genau wie die blau-weißen Sofas und runden Tische. Mehrere von ihnen waren besetzt.

Gegenüber vom Eingang, auf der anderen Seite des Raumes, befand sich die Theke. Links und rechts davon standen Vitrinen, in denen bunte Köstlichkeiten ausgestellt waren: Muffins, Torten und Donuts.

Hailey war bewusst, wie viel Herzblut Meggie in diesen Laden gesteckt hatte. Jedes Detail, von den Servietten bis hin zu den Bildern an den Wänden, war sorgfältig ausgewählt worden.

»Entschuldigung.« Sie blieb an der Theke stehen, hinter der ein dunkelhaariges Mädchen in einem blauen Kleid und einer blauen Schürze mit dem Blue Coffee-Logo stand.

Bevor Hailey noch etwas sagen konnte, erschien Meggie schon. Sie legte den Ordner, den sie in den Händen hielt, ab, trat hinter dem Tresen hervor und umarmte Hailey.

»Ich konnte nicht mehr schlafen, seit du gestern geschrieben hast, dass du gleich morgen vorbeikommst, weil du mir etwas sagen musst.« Meggie löste sich von ihrer Freundin. In dem roten Pullover und der dunklen Jeans sah sie wirklich gut aus. »Worum geht es?«

»Vielleicht sollten wir uns dafür lieber hinsetzen.«

»Ja, sicher.« Sie zog Hailey zu einem der freien Tische. »Zwei Milchkaffees bitte, Clary«, rief sie der Angestellten zu.

Hailey zog ihren Mantel aus und warf ihn über die Rückenlehne eines Stuhls, auf den sie sich dann setzte. Meg beobachtete sie die ganze Zeit.

»Und?« Sie bewegte sich nervös. »Sag mir bloß nicht, dass du gleich am ersten Tag deiner Rückkehr auf Calloway gestoßen bist.«

»Nein«, seufzte sie und sah sich um. Keiner der Anwesenden schien sich für die beiden zu interessieren, trotzdem senkte sie ihre Stimme und beugte sich zu ihrer Freundin. »Wusstest du, dass die Firma meiner Eltern in Schwierigkeiten ist?«, fragte sie.

Meggie öffnete ihre Augen ein wenig weiter. Leider war sie schon immer eine schlechte Schauspielerin gewesen.

»Du hast es also gewusst.«

»Hailey, ich...«

»Warum hast du mir nichts gesagt, Meg?«, stöhnte sie.

»Thomas hat mich darum gebeten«, antwortete sie. »Wir haben uns getrennt, aber als ich erfahren habe, dass eure Firma verschuldet ist, habe ich deinem Bruder angeboten, ihm meine Ersparnisse zu leihen. Verglichen mit den Schulden der Warren Company wäre das jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen.« Sie wurde sichtlich betrübt. »Ich weiß, dass ich es dir hätte sagen sollen, aber du hast dich so auf deine Heimkehr gefreut, und ich wollte sie dir nicht verderben, Hailey.«

»Ich fürchte, dafür ist es jetzt zu spät.« Hailey fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. »Ich war mir so sicher, dass es dem Unternehmen gut geht.«

»Soweit ich weiß, haben die Probleme angefangen, kurz nachdem Thomas die Hälfte der Aktien übernommen hat. Offenbar hat er das Geld investiert, und irgendetwas ist dabei schiefgelaufen.« Meggie hielt inne. »Es tut mir leid, Hailey. Wenn ich dir irgendwie helfen kann?«

»Victor Sharman hat zugestimmt, die Schulden der Warren Company aufzukaufen«, warf sie in den Raum und starrte ausdruckslos auf das Bild, das hinter ihrer Freundin hing. Es zeigte ein Sonnenblumenfeld im Licht der aufgehenden Sonne.

»Sharman?«, wiederholte diese. Ihre Stimme zitterte. »Soweit ich weiß, ist es das, was seine Firma tut. Er kauft bankrotte Unternehmen auf, bringt sie wieder auf die Beine und verkauft sie dann mit großem Gewinn weiter.«

»Er sagte, er würde es tun, wenn ich bereit wäre, seine Frau zu werden.« Wieder ließ sie Meg nicht ausreden, aber vielleicht waren die Worte auch wie von selbst aus ihrem Mund gepurzelt.

Meggie schnappte nach Luft. Dann bewegte sie leicht ihre Lippen, die sich schließlich zu einem Lachen formten. Sie glaubte, es sei ein besonders schlechter Scherz, genau wie Hailey es am Tag zuvor gedacht hatte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Meg begriff, wie falsch sie damit lag.

»Du? Die Frau von Victor Sharman?«, quietschte sie.

Clary blieb abrupt in der Nähe ihres Tisches stehen. Eine große weiße Tasse fiel ihr aus der Hand und landete mit Schwung auf dem Boden. Der Kaffee ergoss sich auf die hellen Holzdielen.

»Oh Gott, es tut mir so leid, ich räume das sofort auf!«, rief sie panisch, und war schon einen Moment später auf dem Weg in Richtung Tresen.

Hailey richtete ihren Blick wieder auf Meggie: Überraschung und leichter Unglaube waren im Gesicht ihrer Freundin zu finden.

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht«, seufzte sie.

»Du warst fünf Jahre lang weg, kommst zurück und plötzlich will Victor Sharman, dass du ihn heiratest, um die Firma eurer Familie zu retten? Das klingt wie ...«

»Das Drehbuch eines schlechten Films. Ich weiß, Meggie.« Sie stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab. »Ich war genauso schockiert wie du, als Thomas mir gestern davon erzählt hat.«

»Bist du einverstanden?«

»Nein!« rief sie. »Nein, natürlich nicht.«

Meggie spitzte nachdenklich die Lippen.

»Eigentlich ...«, sie zuckte mit den Schultern. »Das ergibt Sinn.«

»Sinn?«, wiederholte Hailey verwirrt.

»Hör zu, Sharman ist im ganzen Land bekannt. Wenn jemand bekannt ist, macht das neugierig, verstehst du? Wenn jemand wie Victor Sharman buchstäblich aus dem Nichts auftaucht und innerhalb weniger Jahren ein Unternehmen hochzieht, das den gesamten Markt beherrscht, möchte man wissen, woher der Kerl kommt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Man gibt seinen Namen in eine Suchmaschine ein und – nichts. Überhaupt nichts. Keinerlei Informationen über seine Vergangenheit, seine Familie oder gar seinen zweiten Vornamen. Eine Zeit lang gab es sogar das Gerücht, dass er gar nicht existiere. Man sieht ihn nur selten, er wohnt angeblich außerhalb der Stadt und pendelt zwischen Haus und Firma hin und her.«

»Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst, Meg.«

»Geheimnisse, meine Liebe, wecken Neugier, und Neugier Gerüchte. Es gab in der Tat viele davon über Victor Sharman. Einmal hat eine Klatschseite geschrieben, er sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Als sich herausstellte, dass es nicht stimmte, haben sie das Gerücht in die Welt gesetzt, dass er vielleicht schwul sei, weil er keine Frau hat. Damals fielen dadurch die Aktien seines Unternehmens. Vielleicht hat er beschlossen, die Gelegenheit zu ergreifen?«

»Und diese Gelegenheit bin ich?«

»Er hätte quasi alles dafür verlangen können, dass er die Firma deiner Eltern rettet, aber Leute wie er haben schon alles. Vielleicht dachte er, eine Heirat, selbst eine erkaufte, würde die Gerüchte endlich beenden?« Sie war in Gedanken versunken. »Außerdem«, sie lehnte sich zu Hailey herüber, »war das Unternehmen deiner Eltern doch der größte Konkurrent von Sharman Enterprises, als die Firma den Markt eroberte. Vielleicht will er durch die Heirat mit dir beweisen, dass er alles haben kann und dafür sehr weit gehen würde?« Sie schüttelte den Kopf. »Was wirst du jetzt tun?«

»Mit Victor Sharman?«, fragte Hailey.

Meggie nickte.

»Nichts«, seufzte Hailey. »Ich habe im Moment andere Probleme als ein Millionär mit einem Ego, das größer ist als diese ganze Stadt.«

***

Hailey hatte den ganzen Vormittag mit Meggie verbracht und konnte zeitweise sogar die Probleme vergessen, die so plötzlich auf sie zugekommen waren. Ihre Schwermut kehrte jedoch zurück, als sie am Nachmittag den Wagen in der Einfahrt ihres Elternhauses parkte.

Am nächsten Tag wollte sie zum Hauptsitz der Bank fahren, der die Warren Company Geld schuldete. Sie hoffte, mehr Zeit gewinnen zu können, um einen Ausweg aus dieser misslichen Lage zu finden. Sie musste alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihrer Familie zu helfen und das Unternehmen, das vor allem ihrem Vater alles bedeutete, zu retten.

»Hailey?« Die Stimme ihrer Mutter ertönte, kurz nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte.

»Ja, Mum, ich bin wieder da«, verkündete sie und zog ihren Mantel aus. Sie hängte ihn auf einen Kleiderbügel und ging den Flur entlang in Richtung Wohnzimmer. »Haben Dad und Thomas schon ...« Sie verstummte, als sie ihren Vater über den Esstisch gebeugt sah. Ihre Mutter stand direkt hinter ihrem Mann, legte ihm die Hand auf die Schulter und hatte einen traurigen Gesichtsausdruck. »Stimmt etwas nicht?«

»Wir haben einen Brief von der Bank bekommen, Hailey«, antwortete sie und warf ihrer Tochter einen besorgten Blick zu. »Der Termin für die Versteigerung wurde verschoben. Die Versteigerung wird nicht nächsten Montag, sondern schon in zwei Tagen stattfinden.«

Edward Warren ließ die Schultern hängen. Er nahm seine Brille von der Nase und rieb sich mit dem Handrücken die müden Augen.

»Das verstehe ich nicht. Warum haben sie sich plötzlich dazu entschieden, die Versteigerung vorzuziehen?«

»Ich weiß es nicht, Liebling.« Ihre Mutter schaute ihren Mann an. Sie streichelte ihm beruhigend über den Rücken. »Thomas ist zum Bankdirektor gegangen, um mit ihm zu sprechen, aber ich glaube nicht, dass das etwas ändern wird. Selbst wenn die Auktion in einer Woche stattfände, würde das wohl kaum einen Unterschied machen.«

»Ihr wollt also einfach so aufgeben?« In der Stimme des Mädchens klang Verzweiflung mit. »Dad, dieses Unternehmen ist schließlich dein Lebenswerk.« Sie sah ihren Vater an. »Ihr könnt nicht einfach so aufgeben.«

»Wir werden nicht aufgeben«, versicherte er seiner Tochter und richtete schließlich seinen Blick auf sie. »Deine Mutter und ich haben beschlossen, dass wir das Haus verkaufen werden.«

»Wie bitte?«

»Das ist die beste Lösung«, versuchte ihre Mutter sie zu überzeugen. Ihre Stimme war sanft und ruhig – zu ruhig. »Mit dem Geld werden wir die Schulden des Unternehmens abbezahlen und etwas Kleineres anmieten können.«

Hailey schüttelte den Kopf. Zwischen diesen Wänden war sie aufgewachsen. Es war ein Ort, an dem ein Teil ihres Herzens für immer sein würde.

»Nein«, widersprach sie und trat einen Schritt zurück. »Wir brauchen nur ein bisschen mehr Zeit.«

»Hailey«, Kris streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. »Hailey!«, rief sie, als diese eilig das Wohnzimmer verließ. »Wohin gehst du?«, fragte sie und ging in den Flur. Doch alles, was sie sah, war die offenstehende Eingangstür...

***

»Es tut mir wirklich leid, Miss Warren, aber CEO Sharman hat das Gebäude vor über einer Stunde verlassen.« Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht der jungen Empfangsdame, obwohl man in ihren Bewegungen eine Mischung aus Irritation und Verärgerung erkennen konnte.

»Besteht die Möglichkeit, dass ich ihn irgendwie kontaktieren kann?«

»Wir dürfen die Kontaktdaten des Geschäftsführers nicht herausgeben. Es wäre am besten, wenn Sie einfach morgen noch einmal vorbeikommen würden. Ich kann Ihren Namen auf die Liste setzen.«

»Danke«, warf Hailey ein. »Das wird nicht nötig sein«, fügte sie hinzu und trat einen Schritt zurück.

Sie drehte sich um und ging auf den Ausgang zu. Die Erkenntnis, wie wenig Zeit sie hatte, verstärkte ihre Nervosität nur noch.

»Entschuldigung, aber ich glaube, der Aufzug steckt fest.« Eine männliche Stimme ertönte hinter ihr.

Hailey blieb in der Mitte der großen Halle stehen. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres hellen Mantels und schaute sich um. Die Empfangsdame folgte dem Mann und drückte währenddessen ein Telefon an ihr Ohr.

Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, wäre sie wahrscheinlich nicht so weit gegangen: Hailey rannte zur Rezeption, kletterte hinter den Empfangstresen und beugte sich über den Laptop. Alle paar Sekunden warf sie einen Blick in Richtung der nahegelegenen Aufzüge. Aber die Empfangsdame war zu sehr damit beschäftigt, dem Kunden zu versichern, dass die Störung bald behoben sein würde, als dass sie ihren Arbeitsplatz im Blick gehabt hätte.

Hailey sah eilig mehrere Dateien durch. Sie fand einen detaillierten Plan des Gebäudes, die Telefonnummern der einzelnen Abteilungen sowie einen offenen Tab mit vegetarischen Rezepten.

Ihre Hände zitterten, als sie die Stimme der Empfangsdame in ihrer Nähe hörte. Im selben Moment öffnete sie eine beliebige Datei. Sie musste fast laut auflachen, als sie schließlich fand, wonach sie gesucht hatte.

***

Obwohl das Display ihres Handys vier Uhr nachmittags anzeigte, als Hailey in den Wald fuhr, fühlte es sich an, als wäre es plötzlich Abend geworden. Die hohen Äste der Bäume warfen lange Schatten auf den mit Kieselsteinen bedeckten Waldweg, den sie mit dem Oldtimer ihres Vaters entlangzufahren versuchte.

Sie blickte noch einmal auf den Zettel, den sie mit dem Daumen gegen das Lenkrad drückte. Darauf stand der Name einer Straße, die nicht zu existieren schien. Hätte ein Passant, dem sie im Wald begegnet war, ihr nicht den Weg gezeigt, hätte sie sich wahrscheinlich verfahren.

Hailey richtete ihren Blick auf den Weg, der sich vor ihr erstreckte, und musste seufzen. Dichtes Grün umgab sie von allen Seiten und ließ sie daran zweifeln, dass man hier überhaupt irgendetwas finden würde.

»Komm schon«, murmelte sie ungeduldig und beugte sich vor.

Plötzlich entdeckte sie das Fragment einer grauen Mauer zwischen den stattlichen Ästen der Bäume. Wenige Sekunden später hielt sie den Wagen vor einem großen Messingtor an. Was sie sah, als sie ausstieg, verschlug ihr den Atem.

Sie erwartete, dass jemand, der ein Unternehmen im Zentrum einer Großstadt führte, in einer Villa oder einem exklusiven Wohnblock mit Blick auf Philadelphia lebte. Das Gebäude, vor dem sie stand, war jedoch etwas Anderes. Das große, dunkle Steinhaus wirkte schön und einschüchternd zugleich. Hailey konnte nicht klar erkennen, von welchem Baustil sich der Planer des Hauses hatte inspirieren lassen, denn sie sah Elemente aus verschiedenen Epochen.

Das Tor quietschte, als das Mädchen es aufstieß und die hohe Mauer durchschritt. Eine steife Brise ließ die von den Bäumen gefallenen Blätter vor dem Haus tanzen.

Erst da wurde Hailey klar, was sie getan hatte: Sie hatte sich in Firmendokumente gehackt, vertrauliche Daten gestohlen und befand sich ganz allein am Haus eines Fremden.

Doch getrieben von Wut und Traurigkeit, vor allem aber von Angst, konnte sie nicht anders handeln. Das Wohl ihrer Familie stand für sie an erster Stelle. Und so schob sie all ihre Zweifel beiseite, stellte sich vor die schwarze Doppeltür und klopfte an. Sie ließ ihren Blick an den dunklen Wänden des Hauses entlangschweifen. Über sich bemerkte sie einen riesigen Balkon. Die Geländer waren praktisch unsichtbar, da sie von einer dicken Schicht Efeu bedeckt waren, der auf den Steinen wuchs.

Sie zuckte zusammen, als sich die silberne Klinke bewegte und sich die Tür öffnete. Eine zierliche ältere Dame tauchte vor ihr auf und ließ Hailey einen Schritt zurücktreten.

»Es tut mir leid, ich ...«, ihre Lippen formten ein unsicheres Lächeln. »Ich glaube, ich bin am falschen Haus, ich suche Victor Sharman.«

»Dann bist du hier genau richtig, mein Kind«, antwortete sie herzlich und öffnete die Tür ein wenig weiter.

Erst jetzt konnte Hailey einen etwas besseren Blick auf sie werfen. Die Frau konnte nicht älter als sechzig sein, sie hatte ein fröhliches, strahlendes Gesicht, und ihr graues Haar war hochgesteckt.

»Bitte, komm herein« bat sie und trat zur Seite.

Hailey machte zögernd einen Schritt nach vorne. Sie schloss vorsichtig die Tür hinter sich und stieß beim Umdrehen fast mit der Frau zusammen.

»Ist es in Ordnung, wenn ich dich hier allein lasse?«, fragte sie. »Ich habe einen Braten in den Ofen geschoben und muss alle paar Minuten einen Blick darauf werfen, sonst verbrennt er mir.«

»Ja, natürlich.«

»Ausgezeichnet!« Sie strahlte. »Herr Victor wird «, fügte sie hinzu und ging weg. Kurz danach verschwand die Frau in einem Raum auf der rechten Seite.

Hailey holte tief Luft und sah sich um, sie versuchte im Halbdunkel des Flurs etwas zu erkennen. Das Licht der Lampen, die zu beiden Seiten der großen Eichentreppe angebracht waren, reichte nicht bis zu der Stelle, an der sie stand.

Der Holzboden knarrte, als sie einen Schritt nach vorne machte. Die Dunkelheit schien sich wie eine unerträgliche Last auf ihren Körper zu legen. Dieses Gefühl war gleichzeitig erschreckend und beruhigend.

Sie hielt inne, als sie ein Bild an der Wand hängen sah. Es war mittelgroß, in einen schwarzen Rahmen eingefasst und zeigte – sie legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Leiden alle Millionäre an dem Phänomen, dass sie ihre eigenen Porträts aufhängen?

Der Raum roch nach etwas, das an Regen erinnerte, was wahrscheinlich an dem Wald lag, der das Haus umgab.

»Hailey.«

Sie erschauderte beim Klang ihres Namens, so wie er ausgesprochen wurde: Mit einer Leichtigkeit, als ob der Klang für den Mann selbstverständlich wäre.

Sie hob den Kopf und begegnete dem Blick seiner stählernen Augen, die ihr zum zweiten Mal Unbehagen bereiteten.

Victor Sharman erschien am oberen Ende der Treppe, bekleidet mit einer schwarzen Hose und einem weißen Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte. Er ging nach unten und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Hailey erinnerte sich plötzlich daran, warum sie hier war. Sie eilte los und ging auf die Treppe zu. Victor Sharman, der die Vehemenz ihrer Schritte bemerkte, hielt auf halbem Weg an. Die Muskeln seines Kiefers zuckten, als er sie ansah. Das strenge Gesicht blieb teilweise in der Dunkelheit verborgen.

»Der Termin für die Versteigerung ist verschoben worden«, sagte sie vorwurfsvoll. »Die Veranstaltung findet schon übermorgen statt.«

»Und ich glaube, du behauptest, ich hätte da meine Hände im Spiel gehabt?«, fragte er und hob sein Kinn.

Hailey ballte ihre zitternden Hände zu Fäusten. Sie versuchte, ihre Wut im Zaum zu halten. Er fragte nicht, woher sie wusste, wo sich sein Haus befand.

»Dessen bin ich mir fast sicher.«

Ein aufrichtiges und gleichzeitig belustigtes Schmunzeln erschien auf seinem Gesicht.

»Warum sollte ich mir solche Mühe geben?«, erkundigte er sich, ganz so, als sei Haileys Verärgerung eine willkommene Ablenkung für ihn.

»Wie die meisten Menschen deinesgleichen, Victor Sharman, kannst du es nicht ertragen, wenn jemand Nein zu dir sagt.«

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er langsam die letzten Stufen hinunterstieg. Er blieb weniger als einen Meter von ihr entfernt stehen und atmete tief ein. Er wirkte die ganze Zeit so höllisch ruhig.

»Du hast recht. Ich bin es nicht gewohnt, dass meine Angebote abgelehnt werden. Und so eins unterbreite ich relativ selten«, gab er zu.

»Soll ich mich auch noch dafür bedanken?« Sie konnte ihre Wut nicht mehr kontrollieren. Die Haltung dieses Mannes irritierte sie zutiefst, und das Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, brachte sie dazu, schreien zu wollen.

Seine Mundwinkel formten ein Lächeln, das so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war. Er warf einen kurzen Blick zur Seite. Er sah das Bild an, an dem Hailey stehen geblieben war. Die Muskeln in seinem Gesicht spannten sich sichtlich an, und er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Sharmans Gesicht wurde augenblicklich kalt. Er sah furchterregend aus, was das Mädchen dazu veranlasste, einen Schritt zurückzutreten, wodurch sie seine Aufmerksamkeit erregte.

»Ich habe also recht, nicht wahr?« Ihre Stimme hallte von den leeren Wänden wider. Sie schnaubte, als der Mann nicht antwortete. »Es ist egal. Ein Tag, zwei Tage oder eine ganze Woche. Meine Antwort lautet immer noch nein.«

»Ich dachte wirklich, du würdest vernünftig sein.«

»Vernünftig?«, wiederholte sie. »Hältst du deinen Vorschlag für vernünftig?«

»Andernfalls wird deine Familie alles verlieren.«

»Warum sollte dich das interessieren?« Sie machte einen Schritt nach vorne.

In dem Moment, in dem Victor seinen Kopf hob und ihr direkt in die Augen sah, spürte sie, wie der Schrecken sich wie eine Faust um ihre Kehle legte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Vor dem Feind Schwäche zu zeigen, war wie das Hissen einer weißen Fahne.

Auch hier antwortete er nicht auf die Frage, die sie gestellt hatte. Er trat einen Schritt zurück und informierte sie lediglich:

»Mein Vorschlag bleibt bestehen. Du hast bis morgen Zeit.«

Bevor Hailey etwas sagen konnte, machte Sharman einen weiteren Schritt nach hinten und vergrößerte so den Abstand zwischen ihnen. Er wandte seinen Blick von ihr ab.

Das Mädchen, das genau wusste, dass sie auf keine der Fragen, die sie stellen wollte, eine Antwort bekommen würde, ging verärgert in Richtung Ausgang.

»Glaubst du wirklich, dass du das Familienunternehmen retten kannst?«, fragte er, als sie vor der Haustür stehen blieb. »Oder ist es nur ein Wunsch, der durch die Erkenntnis hervorgerufen wird, dass ich deine einzige Rettung bin?«

Hailey legte ihre zitternde Hand auf die kalte Türklinke. Sie stieß die Tür auf und verließ die Mauern dieses höllischen Hauses.

***

Als sie in der Einfahrt parkte, zeigte ihre Armbanduhr siebzehn Uhr dreiundzwanzig an. Draußen war es bereits dunkel geworden, sodass das Licht auf der Veranda angeschaltet war.

Mit langsamen Schritten stieg sie die wenigen Stufen der Holztreppe hinauf. Sie blieb stehen, als sie ihren Bruder sah. Thomas saß auf einer Bank, die Augen geschlossen und die Arme vor der Brust verschränkt. Er zuckte nicht einmal, als sie sich neben ihn setzte.

Als sie Kinder waren, verbrachten sie viele Sommerabende auf dieser Bank. Thomas erzählte ihr immer Gruselgeschichten, weshalb Hailey dann nicht einschlafen konnte. Erst später erkannte sie, dass sich die Monster, mit denen ihr Bruder sie zu erschrecken versuchte, hinter menschlichen Gesichtern verbargen, die ihr manchmal schmerzlich vertraut waren.

»Hast du mit unseren Eltern gesprochen?«, fragte sie leise.

Ihr Bruder nickte, ohne seinen Blick zu heben.

»Sie wollen das Haus verkaufen. Unser Haus!« Sie senkte den Kopf. Schwarze Haarsträhnen fielen ihr über die Wangen und verdeckten teilweise ihr Gesicht.

Das Haus. Die Veranda, auf der sie und Thomas an Sommerabenden gemeinsam gesessen hatten. Der Garten, in dem sie ihre ersten Schritte gemacht hatte.

»Ich weiß von Meggie, dass ...« Sie schwieg, als er seine Augen öffnete.

Er sah sie an. Sein Gesicht wirkte sehr müde.

»Es ist nicht deine Schuld.«

»Doch«, antwortete er. »Wenn ich nicht beschlossen hätte, das Geld bei einem unserer Partner zu investieren, würdest du jetzt nicht hier sitzen und an all die Momente zurückdenken, die mit diesem Haus verschwinden werden.«

Hailey schüttelte den Kopf.

»Tom.«

»Du brauchst mich nicht zu trösten«, versicherte er ihr und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, dass du dir deine Rückkehr anders vorgestellt hast. Es tut mir leid, Hailey. Es tut mir wirklich leid.« Er stand auf, ohne sich von seiner Schwester aufhalten zu lassen.

Thomas verschwand im Haus. Sie wollte ihm folgen, wusste aber nicht, was sie ihm hätte sagen sollen. Kein Wort schien passend.

Das Schlimmste war jedoch die Erkenntnis, dass Tom – wie ihre Eltern – einfach aufgegeben hatte.

Nur in ihr glomm ein Rest Hoffnung.

***

Das Arbeitszimmer war in Dunkelheit getaucht und wurde nur durch einen schwachen Lichtschein aus dem Korridor erhellt.

Victor Sharman saß hinter einem großen, schweren Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf das Bild, das sich ihm vor den Fenstern bot: Dunkle Bäume bewegten sich im Wind und das Rauschen des Waldes erfüllte den Raum.

Er dachte an Hailey Warren, an die Gewissheit, mit der sie sein Angebot abgelehnt hatte. Sie hatte länger ausgeharrt, als er gedacht hatte. Hatte er sie unterschätzt?

Letzten Endes spielte das aber keine große Rolle, denn alle Wege, die sie einschlug, führten direkt zu ihm.

Mit einem Seufzer stand er auf und ging zu einem der Fenster. Draußen sah er nur Dunkelheit: dicht und erschreckend.

»Möchten Sie zu Abend essen, Herr Victor?« Annie erschien in der Tür zu seinem Arbeitszimmer.

»Nein.«

»Wenn das so ist, dann brühe ich Ihnen vielleicht einen frischen Tee auf?«, schlug sie vor.

Er wandte den Kopf und schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln.

»Gibt es etwas, das ich noch für Sie tun kann, bevor ich nach Hause fahre?«

»Bereiten Sie bitte eines der Zimmer im ersten Stock vor«, sagte er.

»Oh, werden wir Besuch bekommen?«, fragte sie begeistert. »Für längere Zeit?«

Victor schaute wieder aus dem Fenster. Ein plötzlicher Windstoß bewegte die Bäume.

»Ich hoffe, für eine lange Zeit«, antwortete er. 

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