𝑰𝑰 | 3 | Grenze

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Es ist Nacht und er steht an der Grenze seines Landes. Mal wieder. Über ihm leuchten die Sterne, klein und scheinend wie weiße Farbspritzer auf einer dunklen Leinwand. Sie erstrecken sich über den gesamten Himmel, bis hinter die Grenze und noch weiter. Unendlich. Sie tragen das Versprechen nach Freiheit in sich.

Wann immer er den Kopf in den Nacken legt und zu ihnen hinauf starrt, überkommt ihn ein Sehnen, ein Wunsch, ein Wille. Nacht für Nacht stellt er sich vor, wie es wohl ist, frei zu sein. Frei wie die Sterne. Frei in Weg, Sprache und Tun.

Wann immer er den Kopf senkt, steht er Auge in Auge mit einem unüberwindbaren Zaun. Er ist gespickt von Stacheln und in manchen Nächten kommt es ihm so vor, als sei er in seiner Höhe unendlich. Unendlich – wie die Sterne. Das ist wohl die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen.

Auch heute wandert sein Blick zwischen Himmel und Zaun hin und her. Das Ziehen in seiner Brust ist so präsent wie lange nicht mehr. Wenn er doch nur wüsste, wie es jenseits der Grenze aussieht. Ist das Land dort auch so vertrocknet? Leiden die Menschen? Haben sie hunger? Durst? Krankheiten?

Er weiß es nicht.

Herrscht das Recht? Die Selbstbestimmung? Das Volk?

Er weiß es nicht. Noch nicht.

Mit einem Gebet zu den Sternen umfasst er den Zaun. Seine Hände sind klamm und zittern, aber er lässt nicht los. Stattdessen hebt er den Fuß, sucht eine geeignete Stelle und zieht sich nach oben. Ein Meter ist geschafft. Dann noch einer. Und noch einer. Immer weiter. Ein leises Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er hat es fast geschafft! Die Freiheit ist so nahe; er kann sie beinahe riechen. Nur noch ein Stück und dann -

Ein Knall.

Er erstarrt. Er kennt das Geräusch. Hört es manchmal, wenn er nicht vor dem Zaun steht, sondern neben seiner kleinen Schwester auf dem kalten Boden liegt. Wenn er versucht zu schlafen, es aber nicht kann. Grenzübergänger. So werden sie genannt. Und so werden sie getötet.

Ein weiterer Knall, inzwischen viel näher. Sie sind bald bei ihm! Er muss sich beeilen!

Zügig greift er mit den Händen nach oben, wobei er schon das Ende des Zauns in seinem Griff spürt. Dort gibt es noch mehr Stacheln. Sie schlitzen ihm die sowieso schon wunden Handflächen auf, sodass das Blut bis über seine nackten Unterarme fließt und an den Ellenbogen zu Boden tropft. Auch seine Schienbeine sind übersät von roten Kratzer. Doch er spürt den Schmerz gar nicht. Nur das Adrenalin, das seinen schmächtigen Körper zum Vibrieren bringt, nimmt er wahr.

Er wirft einen schnellen Blick in die Tiefe, sowie er ein Bein über den Zaun schwingt. Unter ihm stehen bewaffnete Männer, gekleidet in Schwarz, wodurch sie beinahe mit der Dunkelheit verschmelzen. Er hört sie rufen und schimpfen, kann sie aber nicht verstehen. Zu groß ist die Entfernung.

Das zweite Bein folgt dem ersten. Er hat es geschafft! Er ist hinter der Landesgrenze! Jetzt muss er nur noch nach unten klettern und dann – Freiheit. Er lächelt und schaut ein letztes Mal ohne den geringsten Wehmut zu seinem Land. In dem Moment hört er den nächsten Schuss. Es ist ein Schuss auf Geratewohl. Die schwarzen Männer sind sich nicht sicher, ob sie ihn – jetzt, wo er schon auf der anderen Seite ist – noch treffen.

In der ersten Sekunde möchte der Junge lachen. Er ist frei! Sie können ihm nichts mehr antun! Aber dann fühlt er den Schmerz. Zunächst ist es ein Stechen in seiner Schulter, das ihn überrascht keuchen lässt. Dann wird das Stechen zu einem rasenden Feuer, das sich über seinen gesamten Arm ausbreitet. Schließlich steht sein ganzer Leib in Flammen. Sie lassen ihn schreien. So laut, so durchdringend, so voller Qualen.

Er lässt den Zaun los. Unter ihm liegen etliche Meter und der sichere Tod.

Während er fällt, reißt er die Augen weit auf. Er schaut gen Himmel, prägt sich die Sterne, die strahlenden Sterne, ein. Sie sind klein und scheinend wie weiße Farbspritzer auf einer dunklen Leinwand. Sie erstrecken sich über den gesamten Himmel, bis hinter die Grenze und noch weiter. Unendlich. Sie tragen das Versprechen nach Freiheit in sich.

So nah und doch so fern.

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[ 696 Wörter ]


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