Die 17. Minute

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Zum gefühlt hundertsten Mal wanderte mein Blick zu der Uhr an der Wand des Bahnhofgebäudes. Der Zeiger war gewandert, da war ich mir sicher. Er musste gewandert sein. Gerade eben noch hatte er zwischen der zwölften und dreizehnten Minute gestanden. Jetzt stand er genau bei dreizehn nach.

Noch drei Minuten. Noch 180 Sekunden. Nur noch wenige Augenblicke. Ich wünschte ich, ich könnte die Zeit anhalten. Doch das ging nicht. Der Zeiger würde weiterwandern. Von der dreizehnten Minuten auf die vierzehnte; von der Vierzehnten auf die fünfzehnte; von der fünfzehnten auf die sechszehnte und von der sechszehnten auf die siebzehnte. Nur, dass ich diese schon nicht mehr mitbekommen würde. Dann würde ich schon im Zug auf meinem Platz mit der Nummer 04 sitzen, um ins Ungewissen zu fahren.

Schon beinahe automatisch richtete sich mein Blick abermals an die Decke des verziegelten Bahnhofs, von welcher die alte Uhr herabhing. Nun stand der Zeiger wieder in der Mitte.

Ich wollte nicht gehen. Ich hatte nie gewollt zu gehen. Nicht heute. Nicht jetzt. Und eigentlich überhaupt nicht.

Aber wen interessierte das schon. Wen von da oben interessierte es schon, was ich wollte, wonach ich mich sehnte, was ich gerne an einem Tag, wie diesem tun würde.

Wenn es nach mir ging, würde ich jetzt zuhause sein, der Musik aus dem Radio lauschen und mit einem Lächeln auf den Lippen beobachten, wie mein Sohn aufgeregt um den Tisch lief und es gar nicht erwarten konnte, bis das Glöckchen klingelte und seine Mutter ihm seine Geschenke überreichen würde. Aber hier ging es eben nicht nach mir. Hier interessierte sich niemand dafür, was ich wollte.

Auch der Zeiger nicht. Ich wollte, dass er stehen blieb, dass er sich niemals weiterbewegen konnte. Doch natürlich war das schwarze breite Ding mittlerweile auf den Strich gewandert, der mir sagte, dass es bereits vierzehn nach war.

Noch zwei Minuten. Noch 120 Sekunden. Nur noch wenige Augenblicke, bis ich verschwunden war. Viel zu gut konnte ich mich an das Gesicht meines Sohnes erinnern, als dieser erfahren hatte, dass er das diesjährige Weihnachten Wohl oder Übel ohne mich verbringen musste. Und das nächste auch. Und ob ich am Ende zurückkommen würde oder nicht, war sowieso fraglich.

Wie oft hatte ich mir diese Frage in den letzten Tagen gestellt. Würde ich zurückkommen? Würde ich unsere kleine Wohnung je wieder betreten können? Und wenn ich zurückkommen sollte, wie würde es sein? Würde die kleine Wohnung noch existieren? Wie würde alles aussehen? Wer würde ich sein? Wäre ich noch der gleiche? Oder wenigstens gleich genug, um zurückkehren zu können?

So viele Fragen, so viele Ängste, so viel Ungewisses hatte sich in meinem Kopf angestaut. Ich wollte Antworten, wollte wissen, was die Zukunft mit sich bringen würde. Und doch wusste ich, dass es niemanden da draußen gab, der mir meine Fragen beantworten könnte.

Es reichte ein leichtes Schielen zur Seite und schon konnte ich erkennen, dass sich der Zeiger wieder zwischen zwei der schwarzen Streifen geschoben hatte. Kurz vor der fünfzehn lag er jetzt. Aber eben noch nicht ganz. Noch lag er in der Mitte, lag zwischen der vierzehn und der fünfzehn.

Damals, es war einige Jahre her, da hatte ein Freund von mir gehen müssen. Es war mein bester gewesen. Er hatte sich nicht fürs bleiben entschieden. Er war gegangen. Und nie wieder zurückgekehrt. Ich vermisste ihn. Erst immer, dann oft, immer seltener, am Ende kaum noch. Um ehrlich zu sein war es das erste Mals seit Ewigkeiten, dass ich mal wieder über ihn nachdachte.

Ob er auch mit Zweifeln gekämpfte hatte? Ob er auch überlegt hatte, nicht zu gehen? Ob er es bereute, gegangen zu sein?

Gerne hätte ich ihn all das gefragt. Gerne hätte ich ihn gerade einfach in meine Arme geschlossen, ihn bei mir gehabt. Dann wäre ich jetzt nicht so alleine; nicht so alleine mit mir; nicht so alleine mit meinen Gedanken.

Es war nun ein viertel Stunde her, dass der große Zeiger hoch oben auf der zwölf gethront hatte. Nun lag er mitten auf der Fünfzehn. Noch eine Minuten. Noch 60 Sekunden. Noch einmal musste der Sekundenzeiger seine Runde in der Uhr drehen. Dann war es vorbei. Dann war meine Zeit abgelaufen. Dann war ich weg. Dann würde ich nicht mehr wiederkehren.

Nicht nur einmal war in mir der Gedanke gekeimt, einfach auf nichts zu hören. Einfach hier zu bleiben. Nicht das zu tun, was von mir verlangt wurde. Meinen eigenen Weg zu gehen und nicht den, den andere für mich vorgesehen hatten. Doch dann waren wieder die Zweifel in mir aufgekommen. Hatte ich denn überhaupt eine Wahl? Konnte ich es mir leisten, so zu denken? Und konnte ich es mir leisten, nicht zu gehen, bei meiner Familie zu bleiben, in meinem Dorf, dem, was ich liebte?

Ich glaubte nicht daran, dass ich dort, wo ich hinfahren sollte, glücklich seien würde. Ich wollte es nicht glauben. Nie hatte ich mein Dorf verlassen. Als ich selbst ein Kind war, hatte ich manchmal hier am Bahnhof neben der alten Bahnhofsuhr gestanden und gehofft, dass irgendwann ein Zug kommen würde, der auch mich mitnehmen würde. Doch jetzt, wo es so weit war, wollte ich es nicht mehr. Was sollte ich auch dort, irgendwo, wo ich nicht glücklich war, wo mir die Menschen fehlten, die ich liebte?

Dreißig Sekunden. Dreißig Sekunden war der Sekundenzeiger vorangeschritten. Nun hatte der Minutenzeiger sich bereits hinter die fünfzehn geschoben. Nur ein kleines Stücken, aber doch gut erkennbar. Meine Zeit lief langsam aber sicher ab, soviel war sicher.

Was sie jetzt wohl machten? Ohne mich? Ob sie schon beim Essen saßen? Ob sie an mich dachten? Wie würde ihr Abend aussehen? Würden sie trotzdem die Kerzen anzünden, ein Weihnachtslied singen, nur um dann so zu tun, als sei alle gut, als sei ich gar nicht weg?

Und wie würde es nächstes Jahr aussehen? Wie lange würde es dauern, bis sie mich vergessen hatten? Anfangs würden sie vermutlich viel an mich denken. Sie würden sich oft fragen, wie es mir ginge, was ich tun würde, ob ich zurückkommen würde. Und mit der Zeit, dann wenn ich immer noch nicht wieder da wäre, würde die Hoffnung immer kleiner werden. Sie würde verschwindend klein werden. So klein, bis sie mich schließlich vergessen hatten. Und ich sie.

Das Tuten der Lokmotive riss mich aus meinen Gedanken. Ein letzten Mal erhaschte ich einen Blick auf die Uhr. Der Zug war pünktlich. Die Uhr zeigte sechzehn nach. Die Zeit war vorbei. Da waren keine Minuten, keine Sekunden, keine Augenblicke mehr. Der Zug war da. Er hatte angehalten.

Mit einem leisen Quietschen öffneten sich die Türen. Manche Menschen stiegen aus. Andere ein. Es herrschte ein wildes Treiben. Gruppen versuchten sich nicht zu verlieren, Personen eilten von A nach B. Und ich... Ich war mittendrinnen, mitten im Gewusel, mitten unter ihnen.

Mein Blick glitt zur Uhr. Eine Minute. Eine Minute hatte das alles gedauert. Der Zeiger stand auf der Siebzehn nach. Ich hatte nicht damit gerechnet, diese Zeit noch mitzubekommen. Und doch stand ich hier, blickte dem davonfahrenden Zug hinterher, überlegte kurz, ihm hinterherzuwinken, entschloss mich dann allerdings schließlich doch dagegen.

Stumm drehte ich mich um. Den Blick auf die Uhr sparte ich mir. Dann ging ich. Ich ging nach Hause.

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