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«Ich möchte auf dem Blatt nur eine einzige Linie finden», erklärt Frau Schwarz, unsere Kunstlehrerin, die sich den Namen zum Lebensstil gemacht zu haben scheint. Sie ist eine vornehme Dame, die auf die sechzig zugeht, und trägt das ganze Jahr über nur schwarze Kleidung, im Winter Rollkragenpullover und Hosen, im Sommer auch einmal eine kurzärmelige Bluse und einen Rock. Die Haare trägt sie als kinnlangen Bob, natürlich auch schwarz, nur die Fingernägel bleiben davon verschont. Künstler, hat mein Vater augenzwinkernd gesagt, als ich ihm einmal ein Bild in der Zeitung gezeigt habe. In der Stadthalle finden sich regelmäßig Ausstellungen mit ihren Skulpturen, beinahe gruselig detailreiche Darstellungen von Meereslebewesen in allen erdenklichen Posen. Auch im Unterricht merkt man, dass sie weiß, wovon sie spricht, und mit der ganzen Seele dabei ist. Ihr ist es zu verdanken, dass ich kein Bild mehr anschauen kann, ohne Fluchtlinien zu sehen und mir Gedanken über die Komposition zu machen.

«Sie darf sich gern kreuzen», fährt sie fort, «aber ich möchte sie von Anfang bis Ende verfolgen können. Das Motiv ist euch ganz selbst überlassen, aber vielleicht ist eine Spirale etwas zu einfach, Carsten.»

In der fünften Klasse, ganz am Anfang, hatte ich Angst vor ihr. Auf den ersten Blick wirkt sie streng, als stammte sie noch aus einer Zeit, in der Rohrstöcke gebraucht wurden. Doch der Eindruck hat sich nicht bestätigt, sie gehört zu denen, die den Schülern am meisten durchgehen lassen. Außerdem ist sie immer bereit, Mühe anzuerkennen, auch wenn das Ergebnis nicht immer bei allen ansehnlich ist. Sie weiß immer weiter, wenn man irgendwo hängt, und versucht doch nicht, uns ihre Ideen aufzuzwingen.

Auf ihr wohlwollendes Lächeln reagiert er mit einem Grinsen und lässt den Stift wieder auf den Tisch fallen.

Während Charlotte neben mir einfach anfängt, schwebt die Spitze meines Bleistifts über dem Schmierblatt und traut sich nicht. Es klingt so einfach, eine einzelne Linie, irgendetwas wird sich daraus schon ergeben. Aber gerade durch diese Einschränkung, die alles im Bild miteinander verbindet, will schon der Anfangspunkt wohlüberlegt sein. In den vergangenen Stunden haben wir uns an einzelnen Objekten erprobt, und jetzt vor der Komposition, auf die ich die ganze Zeit gewartet habe, fühle ich mich überfordert. Alles, was es zu bedenken gilt, steht sich in meinem Kopf gegenseitig im Wege und versucht, den ersten Platz in der Liste der Prioritäten zu ergattern.

«Du musst dich davon lösen.» Frau Schwarz hat die unangenehme Eigenschaft, sich anzuschleichen und sich dann über einen zu beugen, was schon zu einigen umgekippten Wassergläsern geführt hat. Wenn sie das bei anderen tut, sieht sie dabei immer ein bisschen aus wie der Schatten eines riesigen Vogels.

«Bitte?»

«Ich weiß, dass du gern planst und dir immer viele Gedanken machst, Astrid, aber das hier ist eine wunderbare Gelegenheit, einmal davon abzukommen und etwas anderes zu probieren. Nimm das erste Bild her, das du siehst, wenn du die Augen schließt, und versuche, es auf einfache Flächen runterzubrechen.»

«Ich weiß nicht. Es hat so etwas Endgültiges. Ich kann nicht einfach neu ansetzen, wenn ich einmal angefangen habe.» Ich komme mir albern vor, während ich das zu meinem Schmierblatt sage.

«Sie ist gerade zwischen Dutzenden Aktionspotenzialen, also Ideen, gefangen», erklärt Charlotte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. «Meistens hilft da ein Klaps auf den Hinterko... nicht?» Sie zieht einen Mundwinkel hoch, bis man den Eckzahn sieht. Er steht etwas außer der Reihe und darum lächelt sie auf Fotos nie besonders breit, damit man ihn nicht sieht.

«Ich geb' dir gleich einen», erwidere ich, was bei einigen anderen Lehrern nicht die klügste Reaktion wäre. Aber Frau Schwarz weiß, was Spaß ist und was nicht.

Sie beugt sich so weit zu mir runter, dass ihre Haare mein Ohr kitzeln. «Niemand verlangt, dass du den ersten Versuch nimmst», flüstert sie, als wäre das ein Geheimnis. «Und niemand verbietet dir ganz, ganz dünne Vorzeichnungen.»

Damit geht sie weiter zwischen den Reihen entlang und hinterlässt nur dieses seltsame Kribbeln, das man immer verspürt, wenn ein Lehrer einem so nahe war.

Ich versuche, allen störenden Perfektionismus weit von mir zu schieben, und schließe die Augen.

Was ich sehe, überrascht mich nicht.

***

Von der Rückseite meines Blocks lächelt sie mir schon wieder so freundlich entgegen, dass ich nicht anders kann, als es zu erwidern. Es ist mir einfach so passiert. Eigentlich wollte ich etwas ganz Anderes zeichnen, aber das Ergebnis ist dieselbe grünhaarige junge Frau. Ebenso wie auf die Ränder jedes Arbeitsblatts schleicht sie sich im Kunstunterricht auf jedes meiner Bilder, wenn die Vorgaben es zulassen. Sie lassen es meistens zu. Dabei weiß ich nicht einmal, warum sie mich so sehr beschäftigt.

Es hat lang gedauert, aber irgendwann hat auch der letzte Lehrer verstanden, dass es meine Aufmerksamkeit nicht einschränkt, wenn ich im Unterricht zeichne. Ganz im Gegenteil. Die ganze Zeit nur Monologen lauschen zu müssen, ohne etwas zu tun zu haben, da kann man irgendwann nicht mehr folgen.

Ich verstehe, dass es unhöflich auf manche wirkt, aber klärende Gespräche helfen da viel. Wenn man mir eine Frage stellt, kann ich sie meist beantworten. Hin und wieder melde ich mich sogar aus eigener Initiative, womit ich zu den wenigen in der Klasse gehöre, die sich nicht nur berieseln lassen, während sie ihre Zeit hier absitzen.

Selbstverständlich kommt es auf den Unterricht an. In Philosophie und Politik kommen immer wieder Diskussionen in Gang, in Mathematik arbeiten wir parallel an Aufgaben mit und in den Naturwissenschaften machen wir viele Experimente und zeichnen beinahe so viel wie im Kunstunterricht.

Im Gegensatz zu einigen anderen Motiven, die ich genauso deutlich im Kopf habe, gelingt das grünhaarige Mädchen mir jedes Mal. Ich muss nicht mit den Linien kämpfen, sie fügen sich wie von selbst in den sanften Schwung der schulterlangen Haare, das rundliche Gesicht und diese wachen Augen, in denen immer auch Traurigkeit liegt.

Charlotte rempelt mich mit dem Ellenbogen an, wahrscheinlich geht ihr das Kratzen der Mine auf der Pappe langsam auf die Nerven. Hastig packe ich meine Stifte zurück in die Federmappe und klappe den Block auf.

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