4 | Große Überraschungen

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Am späten Nachmittag kamen noch mehr Geburtstagsgäste. Nachbarn, Freunde, Kristins große Schwester und ihre Mutter. Stühle und Tische wurden herbeigeschleppt, der Tisch erweitert. Ein Nachbar brachte drei Heizpilze, andere einen Stapel Decken. Niemand hatte wirklich Lust, diesen schönen Tag im Haus zu verbringen, auch wenn die Temperaturen langsam wieder sanken.

Noah war mit den Nachbarskindern in der Scheune beschäftigt und gönnte Jörg endlich seine wohlverdiente Pause. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Irgendwann, als das reichhaltige Grillbuffet dezimiert und alle satt waren, holte mein Bruder seine Gitarre heraus und begann, ein paar Lieder zu spielen. Früher war ich sein größter Fan. Zumindest habe ich das immer ganz stolz von mir behauptet. Aber inzwischen hatten Jörg und Kristin mir diesen Rang abgelaufen. Die beiden saßen da, die Hände ineinander verschränkt, und es war ziemlich offensichtlich, dass sie total verliebt in ihren Partner waren. Man konnte nur neidisch werden, wenn man sie so in ihrer Dreierbeziehung sah.

Ich habe bis heute nicht verstanden, wie jemand daran zweifeln konnte, dass diese Art von Beziehung funktionierte. Dieses Polykül zeigte es seit über zwei Jahren mehr als deutlich. Und niemand hatte das Recht, diese offensichtliche Tatsache in Frage zu stellen oder zu kritisieren. Warum kann man Menschen nicht einfach so nehmen, wie sie sind? Vorausgesetzt natürlich, sie bewegten sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen. Es war doch völlig egal, wen man liebte und wie viele es waren. Hauptsache, niemand wurde verletzt und die Betroffenen waren glücklich mit ihrem Lebensstil.

Leider sah die Realität anders aus, weshalb die drei nicht so offen mit ihrer Art der Beziehung umgingen, wie sie es gerne getan hätten. Immer wieder hatten sie mit Unverständnis und Anfeindungen zu kämpfen. Vor allem Jörg musste sich als Anwalt einiges gefallen lassen. Als offen schwuler Anwalt hatte er von Beginn seiner Karriere an immer wieder Probleme und hat deshalb vor einigen Jahren aus der Not eine Tugend gemacht und sich auf die queere Community als Klientel konzentriert. Mein Bruder hatte als Musiker und Dozent an der Musikhochschule weniger Konfliktpunkte. Und Kristin arbeitete als Lektorin und Illustratorin inzwischen auch viel mit queeren Autorinnen und Autoren zusammen. Die drei hatten ihren Weg gefunden, sich ein Netzwerk von Freunden und Nachbarn aufgebaut, die ihre Beziehung vorbehaltlos akzeptierten, und waren glücklich damit.

Ich freute mich immer für meinen Bruder, wenn ich sie zusammen sah. Wenigstens einem von uns beiden war das Glück in der Liebe beschieden.

Als René sein letztes Stück beendet hatte, legte er die Gitarre beiseite. Sein Blick wanderte zu Jörg und Kristin und etwas veränderte sich. Erstaunt bemerkte ich, wie Kristin nervös an einem Zipfel der Decke spielte, die Jörg ihr um die Schultern gelegt hatte, und wie Jörg leicht nickte. Auch den anderen Gästen blieb die Veränderung nicht verborgen. Die Gespräche verstummten und alle warteten gespannt.

René erhob sich mit einem Räuspern. »Wir haben euch etwas mitzuteilen.« Mit einem Strahlen in den Augen wechselte er einen Blick mit Kristin und Jörg, die plötzlich auch ein Honigkuchenlächeln im Gesicht hatten.

»Oh oh«, flüsterte ich meinem Vater zu. »Ich habe ein bisschen Angst.«

Er lachte leise vor sich hin.

»Wir ... wir werden verheiratet.«

Für einen kurzen Moment war es ganz still am Tisch. Allen hatte es die Sprache verschlagen.

»Oh mein Gott«, flüsterte ich tonlos.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, gefolgt von tosendem Applaus.

»Das ist fantastisch«, rief jemand, und bald war die Luft erfüllt von Glückwünschen und Jubelrufen.

Ich stand auf und schlängelte mich durch die Gratulanten zu meinem Bruder und seinen Partnern.

»René«, sagte ich, als ich ihn endlich erreicht hatte, »das ist der Wahnsinn!« Ich umarmte ihn fest.

»Danke, Fina«, antwortete er mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte. »Wir sind überglücklich.«

Kristin, deren Augen wie zwei Smaragdsterne leuchteten, drehte sich zu mir um, und ich umarmte sie ebenfalls. »Du wirst eine wunderschöne Braut sein«, flüsterte ich ihr zu.

Selbst Jörg hatte Tränen in den Augen – Freudentränen.

Ich klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Pass gut auf sie auf«, sagte ich lächelnd.

»Ich werde mein Bestes tun«, antwortete er mit einem Lächeln, das seinen sonst so strengen Zügen eine ungewohnte Weichheit verlieh.

Die Luft vibrierte förmlich von den vielen Stimmen und dem Lachen der Gäste. Der Nachbar mit den Heizpilzen stieß ein lautes »Dreifach Hoch!« aus und hob sein Bierglas. Andere stimmten ein und bald klirrten die Gläser.

Mitten in dieser warmen Atmosphäre kuschelte sich plötzlich Noah an mich. Er wirkte ein wenig verwirrt von dem ganzen Trubel. Jörg beugte sich zu ihm hinunter und hob ihn auf seine Arme.

»Wir feiern eine Hochzeit«, erklärte er dem Kleinen.

»Eine Piratenhochzeit?«, fragte Noah erwartungsvoll mit großen Augen.

»Vielleicht nicht ganz piratenmäßig«, lachte Jörg, »aber ein großes Abenteuer wird es bestimmt.«

Kristin kam zu ihnen und küsste Noah sanft auf die Stirn. »Und du wirst unser Ringträger.«

Noah klatschte vor Freude in die Hände. Ich war mir sehr sicher, dass er nicht wusste, was diese Aufgabe bedeutete, aber die Vorstellung, ein wichtiger Teil dieses großen Ereignisses zu sein, schien ihm zu gefallen.

»Und wann ist es soweit?«, fragte Kristins Mutter Helga. Sie strahlte genauso wie ihre Tochter.

»Im Juni«, antwortete René.

»Das ist nicht mehr lange hin«, bemerkte ich.

»Ja, das stimmt«, er nickte ernst, während René sich auf die Lippen biss und Kristins Lächeln noch breiter zu werden schien. »Aber wir haben schon das Wichtigste organisiert. Wir feiern eine freie Trauung hier auf dem Hof. Ein Freund sorgt für das Catering, Kollegen von René für die Musik. Sonst haben wir keine großen Ansprüche. Und außerdem wollen wir alles Nötige erledigt haben, bevor das Kind da ist.«

Er sagte das so trocken, dass ich es zuerst für einen Scherz hielt, aber Kristins leuchtende Augen verrieten die Wahrheit.

»WAS? Du bist schwanger?«

Sie nickte überglücklich und lachte, als ich sie überschwänglich in meine Arme zog. Wieder brandete Applaus und lautes Pfeifen auf. Kopfschüttelnd beobachtete ich alle drei, wie sie sich für die erneuten Glückwünsche bedankten.

Mein Vater umarmte seinen Sohn überglücklich und schien ihn nicht mehr loslassen zu wollen.

»Du wirst Vater!«, stellte ich an meinen Bruder gewandt unnötigerweise fest, nachdem sie beide sich voneinander gelöst hatten.

Er lächelte, seine Augen funkelten verräterisch, als er nickte. »Ich werde Vater. Unglaublich, oder?«

»Aber wie geht das mit drei Elternteilen?«, fragte Papa nachdenklich. »Ist das in Deutschland überhaupt möglich?«

René verzog den Mund. »Nein, das wird ein bisschen schwierig. Aber wofür haben wir uns denn einen Anwalt ins Polykül geholt?«

Kristin kam zu mir und strahlte bis über beide Ohren. »Und ein Kleid habe ich auch schon«, teilte sie mir aufgeregt flüsternd mit. »Noch nicht anprobiert, aber ich bin neulich an einem Brautmodengeschäft vorbeigefahren und habe mich Hals über Kopf verliebt. Du musst unbedingt mitkommen! Ich brauche deine Meinung als Trauzeugin.«

Amüsiert beobachtete Kristin, wie ich ihre Worte zu verstehen begann.

»Ich soll ...«

»... meine Trauzeugin sein, genau!« Unsicherheit legte sich auf ihre Züge. »Oder willst du das nicht?«

Es dauerte eine Weile, bis die Information vollständig in meinem Gehirn angekommen war. Trauzeugin? Ich? Kristin war mir in den vergangenen zwei Jahren zu einer sehr guten Freundin geworden. Man könnte sagen, zur besten Freundin. Aber mit dieser Ehre hätte ich nie im Leben gerechnet.

Meine Antwort dauerte viel zu lange. Neben mir hörte ich meinen Vater leise murmeln: »Jetzt sag schon ja«. Aber erst als René seinen Ellenbogen in meine Rippen rammte, wurde ich aus meiner Starre gerissen.

»Ja, ja ... oh mein Gott, ja! Natürlich mache ich das!«

Kristin fiel mir schreiend um den Hals und wir lachten gemeinsam. Tränen schossen mir in die Augen, die ich schnell wegwischte, als sie sich von mir löste. Oh mein Gott! Ich würde Trauzeugin für die Partnerin meines kleinen Bruders sein.

Später am Abend, als ich mit einer Decke um die Schultern da saß und in den Himmel blickte, wo die Sterne um die Wette funkelten, fühlte ich eine tiefe Dankbarkeit in mir. Ein Teil dieser wunderbaren Familie zu sein, die bald noch größer werden würde. Wenigstens hier hatte das Universum ein Einsehen mit mir.

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