Der Muffin

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Am nächsten Tag regnete es noch immer. Nachdem ich eine halbe Stunde lang auf meinem Bett gelegen und dem Regen gelauscht hatte, den der Wind gegen die Fensterscheiben peitschte, war ich es leid. Ich war es leid, alleine in meiner Wohnung zu sitzen und unermüdlich meinem Gedankenkarussell zu folgen, das wohl niemals ein Ende nehmen würde und mich immer und immer wieder an ein und dieselbe Stelle brachte. Frustriert sprang ich auf und zog mir Jacke und Schuhe an.

Nur Minuten später fand ich mich vor dem Café wieder. Ich hatte gar nicht gemerkt, wohin ich gegangen war – meine Füße schienen mich wie von selbst an diesen Ort getragen zu haben.

Unentschlossen blieb ich vor der Tür stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Sollte ich es wagen? Sollte ich das Risiko eingehen, dass dieser Tag ebenso tränenreich endete wie der Vergangene? Dabei hatte es doch geholfen. Einer der Steine, die mein Herz hatte tragen müssen, war von mir abgefallen und auf dem Erdboden in tausend Teile zersprungen, die sich hoffentlich nie wieder zu einem Ganzen zusammenfügen würden. Ich fühlte mich ein wenig freier, seit ich das Café gestern verlassen und mir eingestanden hatte, dass ich noch immer um meine Schwester trauerte. Alles war ein wenig leichter geworden.

Kurzerhand öffnete ich die Tür und trat hindurch. Möglicherweise war das gestrige Erlebnis nur Zufall gewesen. Und der seltsame Kellner hatte mit etwas Glück zurzeit keine Schicht.

Heute war es etwas leerer hier und so konnte ich mich zwischen einem Platz am Fenster und einem in der Mitte des Raumes entscheiden. Ich wählte den Fenstertisch und warf einen verstohlenen Blick hinter den Tresen.

Verdammt!

Er war wieder da. Vermutlich wurde ich wirklich verrückt.

Der Kellner wandte den Kopf und schaute nun direkt in meine Richtung. Meine Haltung ihm gegenüber schien durch meinen Gesichtsausdruck nur allzu deutlich zu werden, denn er grinste schadenfroh, als wüsste er genau, wie wenig ich seiner Anwesenheit abgewinnen konnte. Ohne Umschweife stieß er sich vom Tresen ab und kam auf meinen Tisch zugelaufen.

»Warum so genervt?«, fragte er.

Ich schnaubte. »Weil ich heute wirklich nicht in der Stimmung bin, mir Ihr ach so schlaues Geschwafel anzuhören.«

Der Kellner wurde ernst und hob die Augenbrauen. »Zufällig habe ich Ihnen mit meinem ach so schlauen Geschwafel den Ausgang Ihres letzten Besuchs prophezeit.« Er ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und musterte mich eingehend. »Und ich hatte recht. Es geht Ihnen besser.«

»Na, dann«, entgegnete ich kurz angebunden. Entweder er war bereits so verrückt, dass er in seiner eigenen Realität lebte, oder er entsprang meiner Fantasie. In beiden Fällen wusste ich keinen Grund, weshalb ich übermäßig freundlich zu ihm sein sollte, wenn mir nicht danach war.

Ich ignorierte ihn und griff nach der Speisekarte. »Einen Karamell-Cappuccino, bitte. Und ...« Ich hielt inne. »Ist das Ihr Ernst? Nur der Schokoladenkuchen und die Muffins sind nicht ausverkauft?«

Der Kellner zuckte die Schultern.

»Dann nehme ich einen Muffin«, beschloss ich stirnrunzelnd. Welches Café hatte denn um fünf Uhr nachmittags bereits fast alle Vorräte an Gebäck aufgebraucht?

Zu meiner Erleichterung stand er auf und verschwand hinter einer Tür neben dem Tresen.

Kurze Zeit später kehrte er mit einem Muffin und meinem Kaffee zurück.

»Danke«, brummte ich.

»Kein Wunder, dass heute der Muffin an der Reihe ist«, murmelte der Kellner seufzend und warf mit einen vielsagenden Blick zu. »Bei Ihrer heutigen Grundeinstellung...«

»Was?«, fragte ich verständnislos und runzelte die Stirn.

Anstatt einer Antwort schüttelte er nur den Kopf und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Misstrauisch begutachtete ich den Muffin und pikste vorsichtig mit meinem Zeigefinger hinein, als befürchtete ich, unter der Schicht aus hellem Teig könne sich eine Bombe versteckt halten. Als ich aber keinen spürbaren Widerstand bemerkte, befreite ich den Muffin aus dem bunten Papier und biss hinein. Es war ein Zitronenkuchen. Weich und nicht zu trocken. Perfekt.

Und es geschah ... nichts. Die Welt blieb wie sie war; meine Gefühle blieben, wie sie waren. Kein plötzlicher Kloß im Hals, kein plötzlicher Druck auf der Brust, keinerlei Bedürfnis, den Tränen freien Lauf zu lassen.

In Kürze hatte ich den Muffin vertilgt und sammelte nun die letzten Krümel auf dem Teller ein, um sie mir in den Mund zu schieben. Mit den Fingernägeln versuchte ich, die letzten Reste von dem Muffin-Papier zu kratzen, allerdings klebte der Teig so sehr, dass es mir fast unmöglich war. Nur winzige Krümel lösten sich Stück für Stück und schoben sich ungefragt unter meine Fingernägel.

Genervt stöhnte ich und zog damit sofort die Blicke der anderen Besucher am Nebentisch auf mich. Ich übersah sie geflissentlich und pfefferte das Papierchen zurück auf den Teller. Wut packte mich. Wut auf die widerspenstigen Teigreste; Wut auf mich selbst, weil es mir nicht gelingen wollte, die Krümel abzukratzen; Wut auf die verurteilenden Blicke, die mir zugeworfen wurden; Wut auf den Inhaber des Cafés, weil er sich nicht für eine bessere Konsistenz der Muffins einsetzte; Wut auf den nervigen Kellner, der in Rätseln sprach. Wut auf das mickrige, unbedeutende Leben, das ich führte, und von dem kaum jemand auch nur Notiz nahm.

Wut auf die Welt.

Ich war schon so oft wütend gewesen. Aber nur im Stillen, im Geheimen, ganz tief in mir drinnen, wo niemand das Brodeln des Feuers hören konnte, das langsam in mir aufstieg. Immer hatte ich es versteckt. Aus einem einfachen Grund. Weil es leichter war, zu schweigen. Nicht selten war es einfacher, alles in sich hineinzufressen, anstatt jemandem meine Meinung ins Gesicht zu sagen. Das Schweigen machte keine Probleme und nervte niemanden. Warum also sollte ich meiner Wut freien Lauf lassen?

»Weil sich dadurch in deinem Leben nichts ändern wird.« Erst als ich seine Stimme hörte, bemerkte ich, dass der Kellner neben mich getreten war. »Sag den Leuten, was dir nicht passt. Und zwar nicht nur mir, sondern allen. Deiner Familie, deinen Freunden, deinen Kollegen bei der Arbeit. Jedem.«

Und als ich an diesem Abend das Café verließ, war mein Gesicht wieder tränenüberströmt. Und wieder fühlte es sich dennoch ein Stückchen leichter an.

Aber erst, als ich fast zu Hause war, stellte ich fest, dass der Kellner Recht behalten hatte. Der Muffin hatte mich verärgert – er präsentierte die Wut. Die Wut, die ausgerechnet heute allgegenwärtig gewesen war.

Ich erschauderte. Was zur Hölle hatte es mit diesem Café auf sich? Und was mit dem Kellner, der von Tag zu Tag unheimlicher wurde?

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