Kapitel 1

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    Das warme Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich auf dem Wasser, tauchte den Fluss in glitzerndes Rot. Anne saß am Ufer, stützte sich auf die hinter ihrem Körper liegenden Hände und hatte den Kopf auf einer Schulter abgelegt. Sie genoss die wenige Wärme, die mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages auf ihr Gesicht fiel, lauschte dem fernen Stimmengewirr der Matrosen, das vom Gasthaus an ihr Ohr drang. Die still auf dem ruhigen Wasser des Denekle liegenden Schiffe waren in rote Farbe und weiche Schatten getaucht. Es schien Anne fast, als sogen sie das Abendrot in sich auf, bevor die Sonne hinter dem Horizont verschwand.

    Anne schloss die Augen. Sie spürte das Gewicht ihres Körpers auf ihren stützenden Armen, die schräg fallenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und den Wind, der sacht mit ihren glatten Haarsträhnen spielte, zärtlich ihre Haut streifte wie der flüchtige und doch liebevolle Kuss einer Mutter. Anne genoss das Gefühl. Sie hörte das leise Glucksen des Wassers, das sich hier im Hafen träge durch den Fluss wand. Das Gelächter aus dem Gasthaus wehte von fern an ihr Ohr, vermischte sich zu der Geräuschkulisse, die sie so sehr liebte.

    Halb öffnete sie die Augen wieder, sah unter schweren Lidern, wie die ruhig daliegenden Schiffe sacht hin- und herschaukelten. Um diese Zeit lief keines mehr aus dem Hafen aus, die Matrosen hatten sie längst verlassen und schwer vertäut im Wasser liegen lassen.

    Die Sonne kroch mehr und mehr hinter den Horizont, nahm die warmen Strahlen mit sich und hinterließ Kälte und dämmerige Dunkelheit. Anne merkte die Müdigkeit, die wie dicke Balken auf ihren Lidern lastete, in ihre Glieder kroch und sie schwer zu Boden zog, sie träge machte. Doch Anne wollte nicht aufstehen, wollte ewig hier sitzenbleiben und der untergehenden Sonne zusehen, bis sie ganz verschwunden war. Sie liebte diesen Ort so sehr, liebte ihn um diese Zeit, getaucht in die ruhige Atmosphäre des Abends.

    Anne liebte den Sonnenuntergang, besonders hier, am Fluss, wo sie das Wasser riechen konnte, wo es kleine Wellen schlug und für kurze Momente, die wie Ewigkeiten erschienen, von roter Farbe durchdrungen war.

    Anne liebte die Ruhe, die hier einkehrte, wenn kein Schiff sich mehr rührte und die Matrosen längst alle ins Gasthaus eingezogen waren. Doch heute, heute starrte Anne der untergehenden Sonne, von der kaum mehr ein Fitzelchen hinter dem Horizont hervorspitzte, mit Wehmut entgegen. Das hier war vielleicht der letzte Tag, an dem sie hier am Fluss sitzen und in stille Gedanken versunken das Abendrot betrachten konnte, sich fühlen konnte wie ein einfaches Mädchen, für einen Moment ohne Verpflichtungen und Sorgen, ganz frei.

    Ein Lächeln schlich sich auf Annes Lippen, während sie immer mehr von Dunkelheit umhüllt wurde, der Wald weit hinten sich bedrohlich in die anbrechende Nacht erhob. Ein einfaches Mädchen war Anne nie gewesen. Die Momente hier am Fluss, am Hafen, waren gestohlene Augenblicke der Ruhe, in denen sie sich selbst die Lüge eines schlichteren Lebens erzählte. Anne entstammte den Hohen Familien, sie war geboren mit der Bestimmung, eines Tages ein hohes Amt auszuüben, für das man von noch höherer Geburt sein musste. Sie war dazu bestimmt, Beschützerin ihres Landes zu werden. Morgen Beschützerin zu werden.

    Das aufgeregte Ziehen machte sich wieder in ihrem Bauch bemerkbar. Sie liebte ihr Land, sie liebte Kentaira und sie war bereit, ihm zu dienen. Sie wusste, dass morgen die Wahl ihrer Großmutter auf sie fallen würde. Grazeda, die einzige Otamorin der Hohen Familien, würde unter den Jugendlichen unter ihnen die Beschützer auswählen. Es war ein alter Brauch, eine Tradition, dass die Auswahl stattfand, sobald der Jüngste einer Generation der Hohen Familien zwölf Jahre alt war. Mesa, Annes Cousine, war es heute geworden. Und morgen würde sich entscheiden, ob sie oder ihr Bruder Beschützer wurden. Morgen, wenn die Magie ihrer Großmutter einflüsterte, welche sechs unter ihnen für die Aufgabe bestimmt waren, auf die sie alle ihr ganzes Leben lang vorbereitet worden waren, nach der sie alles ausgerichtet hatten.

    Anne atmete tief die kühle Abendluft ein, die mit prickelnder Erwartung gefüllt schien. Sechs von ihnen würde die Ehre zuteilwerden, sechs Namen würde Grazeda morgen, von tiefster violetter Magie geleitet, aussprechen. Einen Pomponella des Schattens, einen der Sonne. Jessana, Annes Schwester, war die Einzige unter ihnen, die die Fähigkeit der Schattenmagie in sich trug. Sie war die Einzige, die diesen Platz im Beschützerkreis einnehmen konnte. Schwieriger wurde es mit dem Sonnen-Pomponella, denn niemand aus ihrer Generation in den Hohen Familien trug die Magie der Sonne in sich. Ein unbekannter Name würde fallen, eine einfache Familie zur Hohen ernannt werden.

    Was hatten sich Annes Verwandte Vorwürfe gemacht, dass sie nicht mehr Kinder hatten, keinen Sonnen-Pomponella hervorgebracht hatten. Was hatten sie aufeinander geschimpft, nie die Schuld bei sich selbst gesehen und mit Anklagen um sich geworfen. Die alteingesessenen Hohen Familien hassten es, wenn sie jemanden in ihre Reihen aufnehmen mussten, der nicht hineingeboren war in den hohen Rang. Doch sie würden sich damit abfinden müssen. Ein fremder Sonnen-Pomponella im Beschützerkreis, es war das erste Mal in den beinahe 600 Jahren seiner Existenz, dass das geschah.

    Doch zwischen ihnen, die den Hohen Familien entstammten und somit ein ganzes Leben auf diese Aufgabe vorbereitet worden waren, würde Grazeda noch vier andere auswählen. Einen Elementar des Wassers, einen des Feuers, einen der Erde – und einen der Luft. Annes Magie. Sie war ein Luft-Elementar.

    Lächelnd öffnete sie die halbgeschlossenen Augen, zog einen Arm hinter ihrem Körper hervor und rief das Prickeln in ihre Fingerspitzen, das Kribbeln ihrer Magie. Sanft versetzte sie die Teilchen in Schwingung, ließ Wind entstehen, der sich um ihre Finger schmiegte.

    Und obwohl die kleinen Wirbel um ihre Hände nur ein kleiner Vorgeschmack ihrer Fähigkeiten waren – nicht umsonst übte sie täglich bis aufs Äußerste – könnte Anne sich kein schöneres Gefühl vorstellen, als von ihrer angenehm kribbelnden Magie erfüllt zu sein, sie lenken zu können. Noch ließ sie nur ein wenig davon in ihre Fingerspitzen kriechen, doch im Training in der Akademie der vereinten Magie, wenn sie alle Dämme niederriss, flutete die Magie ihre Adern mit all ihrer Intensität, ließ sie ihren Rausch spüren und nahm all ihre Sinne ein, erstickte alle Gedanken und ließ nur noch Platz für die absolute Konzentration, wenn sie den Sturm der Magie in ihrem Inneren lenken und nutzen wollte, anstatt ihn unkontrolliert aus ihr herausbrechen zu lassen.

    Anne ließ die Hand, die sie in den Schatten der Nacht kaum noch erkennen konnte, langsam wieder sinken. Ihr Blick richtete sich sehnsuchtsvoll in weite Ferne, noch über die bedrohlich in die Dunkelheit ragenden Baumwipfel des Waldes hinweg, der direkt hinter den Stadtmauern lag und doch so weit entfernt wirkte. Sie träumte von fremden Welten, von Städten – außer der Hauptstadt Aira gab es noch sechs weitere in Kentaira –, von Dörfern in Provinzen, von vielen verschiedenen Menschen, von fremden Flüssen und seltsamen Pflanzen, von Bergen und vom Meer. Anne hatte nie etwas anderes als die Stadtmauern Airas gesehen und seit sie denken konnte, wünschte sie sich fort von hier. Fort von den immer gleichen Gassen, die sie schon so oft durchstreift hatte und die sie im Schlaf kannte. Fort selbst von dem vertrauten Hafen, an dem sie hier saß und an dem sie schon so viele Stunden verbracht hatte. Als Kind hatte sie immer mit den Matrosen in ein Schiff steigen und einfach den Denekle hinuntersegeln wollen, und tief in ihr hegte sie noch immer diesen Wunsch. Sie wollte all die Geschichten, die die Schiffer, die Händler und Reisenden ihr über die Jahre hinweg im Gasthaus in ihr Herz gelegt hatten, selbst erleben, ihre Beschreibungen von fremden Orten mit eigenen Augen sehen, das Salz des Meeres riechen und seine Freiheit, die unendliche Weite des Himmels spüren.

    Anne kannte dieses Fernweh, das tief verwurzelt in ihrem Herzen saß. Es begleitete sie schon ihr ganzes Leben, seit sie denken und träumen konnte.

    Die Träume, die sie hegte, ihre Sehnsüchte, sie waren nie näher gewesen als jetzt. Wenn Grazeda morgen bei der Auswahl ihren Namen sprach, dann würden sie sich bewahrheiten. Dann würde sie mit den anderen Beschützern in ein Schiff steigen und die Welt besegeln, jede Stadt in Kentaira bereisen und viele kleine Provinzen dazwischen.

    Wenn. Wenn sie nicht Vendra Isamis Namen sprach, die andere Luft-Elementar ihrer Generation der Hohen Familien. Vendra war Annes Konkurrentin um den Platz im Beschützerkreis. Wurde sie ausgewählt, zersplitterten alle Träume, alle Hoffnungen, in tausend Teile wie eine dünne, fragile Glaskugel, die auf dem Boden auftraf. Es waren irrationale Ängste, aber sie hielten sich hartnäckig in Annes Herz, ließen sie Nacht für Nacht aus dem Schlaf schrecken, wenn die Beschützerin Vendra Isami in Annes Alpträumen zur schaurigen Realität wurde.

    Anne besann sich. Sie besann sich auf die Worte ihrer Großmutter, die sie ihr so oft gesagt hatte, als Kind in ihr Ohr geflüstert hatte. Sie war etwas Besonderes. Grazeda hatte es schon so oft deutlich gemacht. Die Magie hatte es ihr eingeflüstert, als sie Anne, damals kaum mehr als ein Neugeborenes, ihren Namen gegeben hatte. Damals hatte sie gespürt, welch besondere Rolle sie eines Tages einnehmen würde. Und schenkte man ihr Glauben, spürte sie es manchmal auch heute noch.

    Sie war ein Otamor, die Magie zeigte ihr die Zukunft, zeigte ihr Bestimmungen. Auf welche Weise sie das tat, das hatte Anne nie ganz verstanden. Grazeda hatte es immer als das Flüstern der Magie bezeichnet. Dieses Flüstern musste so mächtig sein, dass es Annes Vorstellungen weit überstieg.

    Ihre Großmutter war eine Otamorin, und wenn sie die Zukunft vorhersagte, irrte sie nie. Und sie sagte, Anne sei etwas Besonderes. Besondere Menschen wurden Beschützer. Die Wahl würde morgen auf sie fallen. Sie sollte die Zweifel verscheuchen, die ihr einzureden versuchten, Vendra könnte den Platz des Luft-Elementars im Beschützerkreis einnehmen, an ihrer statt. Diese Gedanken waren Gift, sie sollte nicht auf sie hören. Sie würde nicht zu den dreien gehören, die enttäuscht wurden. Ganz sicher nicht.

    Die Nacht hatte sich nun gänzlich über die Stadt gelegt, die Kälte kroch unter Annes Haut und die Feuchtigkeit in der Luft ließ ihr Kleid sich klamm an ihren Körper legen. Kein Kribbeln war mehr in ihren Fingerspitzen zu spüren, stattdessen waren sie ausgekühlt. Anne war viel zu lange hier gesessen, hatte sich in ihren Gedanken verloren. Sie sah die Hand vor Augen kaum mehr.

    Vorsichtig erhob sie sich, wischte fahrig die Erde von ihrem Kleid. Nichts als die kleine Lampe, die an der Tür des Gasthauses hing, durchbrach die Dunkelheit der Nacht. Eine runde Kugel aus Glas, an einem Haken über der Holztür befestigt. In der Mitte schwebte frei ein kleiner Sonnenball, verbreitete schwach sein orangenes Licht und diente Anne als Orientierungspunkt in der Schwärze. Anne richtete den Blick fest darauf, als sie über den unebenen Boden voran stolperte, immer bedacht darauf, der Richtung, in der der Fluss lag, nicht zu nahe zu kommen. Sie war schon einmal hineingefallen, als kleines Kind. Kaltes Grauen packte sie bei der bloßen Erinnerung. Damals wäre sie beinahe ertrunken, und diese Erfahrung reichte ihr für ein ganzes Leben.

     

    »Kleine Mädchen wie du sollten nachts nicht alleine herumstreifen«, rief eine männliche Stimme ihr aus der Dunkelheit zu. Sicher an sie gerichtet? Sie drehte und wendete den Kopf, um zu sehen, woher sie kam. Doch ihre Augen, von der Finsternis getrübt, konnten die zugehörige Person nirgends ausmachen. Sie blieb verschluckt vom schwarzen Mantel der Nacht.

    Zumindest, bis der Mann unter den Schein der Lampe vor die Tür des Gasthauses trat und sich ihr so zeigte. Lange Schatten zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, ließen es kantig und seine Augen düster wirken. Doch das musste vom Licht kommen, das so ungünstig auf ihn fiel und seine Gestalt nur schwach erleuchtete.

    Anne musterte seine Erscheinung. Er trug dunkle, einfache Kleidung, einen Art Mantel. In seinem Gesicht zeichneten sich einige ungepflegte Bartstoppeln ab. Er schien helle Haut zu haben, gelblich vom Licht der Lampe und befleckt von Schmutz und Schatten. Vermutlich ein Schiffer, auf der Durchreise und nur wenige Tage in der Stadt. Anne kannte ihn nicht.

    Sie hatte hier schon viele zwielichtige Gestalten gesehen, doch sie hatte die Angst vor ihnen längst verloren. Meistens entpuppten sie sich als harmlos, das Schifferleben hatte sie weichgeschliffen und sie waren gutmütige Seelen, wenn auch einige von ihnen Trunkenbolde waren, mit seltsamem Humor. Meistens taten sie keiner Fliege etwas zuleide.

    Doch für den Fall, dass »meistens« nicht eintraf, blieb Anne doch immer ein wenig misstrauisch. Notfalls konnte sie sich immer noch mit ihrer Magie behelfen. Sie war stärker als die der meisten Schiffer, die von ihren Fähigkeiten nur selten Gebrauch machten und so wenig Übung hatten. Sie entstammte schließlich den Hohen Familien und investierte somit täglich mehrere Stunden in ihr Training.

    Die seltsame Gestalt starrte sie an, ohne etwas zu sagen. Jetzt war sie sicher, dass vorher tatsächlich sie gemeint gewesen war.

    »Ich bin ja schon auf dem Weg nach Hause!«, rief Anne ihm zu, blieb jedoch weiter stehen, ging nicht näher zum Gasthaus heran. Sie taxierte den Fremden mit Blicken, der ruhig dastand, sich nicht rührte. Sie fragte sich, warum er sie angesprochen, warum er ihr das zugerufen hatte.

    »Du bist eine von denen, nicht wahr?«

    Sie runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. »Eine von den was?« Sie klang schärfer als beabsichtigt. Die Worte verharrten einen Moment knisternd in der Luft, bevor er antwortete.

    »Eine von den Hohen Familien.« Verwirrt, ja ratlos, sah Anne ihn an. Woran hatte er das festgemacht? Kannte er sie womöglich?

    »Ja«, sagte sie leise, ihr Misstrauen wuchs. »Woher-«

    Sein Schnauben unterbrach sie. »Geh nach Hause, Mädchen.« Sein Tonfall war harsch. Sie blinzelte. Was wollte er nur von ihr? »Kleine Beschützer-Mädchen haben um diese Uhrzeit draußen nichts mehr zu suchen. Du solltest in deinem weichen Bett liegen und schlafen.« Zuletzt wirkte er beinahe resigniert. Anne wurde immer verwirrter von seinem Auftreten. Sie fragte sich, was der Sinn dieses Gesprächs – wenn man es denn so nennen konnte – war.

    Diese Begegnung war wahrhaftig seltsam. Sie war es gewohnt, dass die Schiffer nicht immer freundlich waren, aber sie verstand nicht einmal, warum er sie überhaupt angesprochen hatte. Sie ließ den Blick genauer über ihn wandern. War er betrunken? Dann sollte sie Vorsicht walten lassen. Betrunkene waren zu vielem fähig.

    Vorsichtig setzte sie sich nun wieder in Bewegung, nicht in Richtung des Gasthauses diesmal, sondern halb blind in die Dunkelheit hinein, dorthin, wo sie das Herz der Stadt vermutete. Von dort aus konnte sie die Orientierung wiederfinden und bis zu ihrem Haus am Stadtrand gelangen.

    Anne hatte nur wenige Schritte getan, da drehte sie sich, einem spontanen Impuls folgend, wieder um. Der Fremde stand noch immer unverändert vor der Tür des Gasthauses. Obwohl seine Augen nicht von der Lampe erhellt und von den Schatten der Nacht verschluckt wurden, wusste sie doch, dass sie auf ihr lagen.

    »Wer bist du?«, rief sie ihm zu, konnte die Neugier nicht aus ihrer Stimme verbannen.

    Ein leises, dunkles Lachen kam aus seiner Kehle, verhallte in der Dunkelheit. Es wirkte fast, als fände er die Frage lustig und traurig zu gleich. Als wäre sie absurd. »Eso«, antwortete er ihr, die Stimme kaum erhoben. »Eso Cúria.« Und fast melancholisch fügte er an: »Ich war lange nicht mehr hier.«

    Perplex starrte Anne ihn an, ihr Mund stand leicht geöffnet. Sie kannte diesen Namen. Sie kannte ihn aus flüchtigen Erzählungen, die schnell wieder beendet wurden und in betretenem, angespanntem Schweigen endeten. Sie kannte die Person hinter diesem Namen nicht, weil sie Aira vor vielen Jahren verlassen hatte. Verbittert war er gewesen, so erzählte man sich. Von Neid zerfressen. Während seine beiden Brüder Beschützer geworden waren, in der Gunst ihrer Eltern standen, geheiratet und Kinder bekommen hatten, hatte er die Stadt verlassen und war nicht wiedergehkehrt. Er hatte sang- und klanglos seine Familie verlassen, war angeblich ohne ein Abschiedswort auf ein Schiff gestiegen und seitdem nicht wiedergesehen worden.

    Anne kannte den Namen, weil Eso Cúria ihr Onkel war. Der Bruder ihres Vaters, verschwunden vor vielen Jahren, noch vor ihrer Geburt. Und dass er hier vor ihr stand, vor der Tür des Gasthauses, sein Gesicht vom schwachen Schein der Lampe über ihm erhellt – das war vollkommen unmöglich.

    »Du lügst.« Anne sprach laut und diese beiden Worte kamen als unumstößliche, dunkle Tatsache aus ihrem Mund.

    Wieder lachte der Fremde nur. »Bist du die Kleine von Fliran?« Fliran war der Name ihres Vaters. »Wie hieß sie noch gleich? Jessira?«

    »Jessana«, verbesserte Anne, der Name ihrer älteren Schwester kam als Zischen zwischen ihren Lippen hervor. Sie rieb ihre Hände ineinander. Ihr war nicht wohl bei dieser Sache.

    »Jessana, also?«, fragte er. Er wirkte so ruhig, als hätte nie eine Last auf seinen Schultern gelegen, als hätte er in seinem ganzen Leben nie etwas zu befürchten gehabt.

    Oder aber, als hätte er genug erlebt, dass die Schatten der Nacht und ein kleines Mädchen einige Meter vor ihm ihn nicht ängstigen konnten. »Oder bist du doch Rivkos Tochter? Hat er jetzt auch Kinder?« Er nannte Annes anderen Onkel. Den anderen Bruder ihres Vaters. Gedankenverloren strich er sich über das Kinn, über die Bartstoppeln darauf.

    »Ja«, rief Anne hinüber, mit erhobener Stimme, klang mutiger, als sie sich fühlte. »Er hat jetzt Kinder.« Sie machte eine kurze Pause, überlegte, wie viel sie ihm preisgeben wollte. »Sie heißen Semil, Isé und Mesa. Aber ich bin nicht sein Kind, mein Vater ist Fliran. Jessana ist meine Schwester.« Sie stockte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Mein Name ist Anne Phyria.«

    Wieder strich er sich mit der Hand über das Kinn. »Also haben sie sie akzeptiert?« Er sprach plötzlich leise, wirkte nachdenklich. Ein wenig traurig. Anne war noch unschlüssig, ob sie ihm trauen sollte oder ob er sich nur als ihr verschollener Onkel ausgab, um was auch immer zu erreichen. Sie hatte keine Ahnung, wer den Namen Eso Cúria überhaupt kannte. Aber wenn er wirklich ihr verschollener Onkel war, dann war es nur logisch, dass er von Jessana wusste, nicht aber von Anne und ihren Cousins und Cousinen. Jessanas Geburt hatte er noch miterlebt, die der anderen Kinder nicht.

    »Wen akzeptiert?«

    »Serenja. Deine Mutter. So hieß sie doch, oder?« Anne nickte langsam, auch, wenn sie sich nicht sicher war, ob er es sehen konnte. Die Nacht hüllte sie ein wie ein schwarzes Tuch und die Lampe erhellte nur einen kleinen Kreis, in dem sie sich nicht befand; sie war zu weit weg.

    »Akzeptiert wird sie nicht«, murmelte Anne, sah mit einem Blick voll Trauer und Resignation zu Boden. Da war dieses dumpfe, rumorende Gefühl in ihr, das immer aufkam, wenn das Gespräch auf dieses Thema fiel. »Aber sie … hat sich eingelebt.« Ihre Mutter war nicht gern gesehen unter den Hohen Familien. Sie stammte aus dem einfachen Volk, war nicht mit den Hohen Familien verwandt. Dass sie Annes Vater Fliran geheiratet hatte, war ein Tabubruch, obwohl dergleichen im Laufe der Geschichte schon mehrmals vorgekommen war. Anne wusste, dass ihr von den anderen Hohen stets Verachtung entgegenschlug, weil sie nicht in ihre Reihen gehörte, kein Abkömmling des ersten, legendären Beschützerkreises war, dem die Hohen Familien entstammten. Anne war es gewöhnt, dass die Gespräche einfroren, sobald man sie erwähnte, sie war es gewöhnt, die kaum versteckte Abscheu in den Gesichtern zu sehen und die Blicke, die den ihren auswichen. Es versetzte ihr nur noch einen kleinen Stich, doch selbst dieser Schmerz wurde immer seltener. Sie hatte früh gelernt, dass es klug war, ihre Mutter so wenig wie möglich zu erwähnen, aus jeder Konversation zu verbannen. Das war am einfachsten. 

    »Also alles beim Alten.« Eso schnaubte verächtlich, mit einem verbitterten Unterton. Er schwieg einen Moment, bevor er die Stimme wieder erhob. »Geh jetzt, Mädchen. Es ist spät. Deine Eltern werden sich Sorgen machen, wenn du nicht bald nach Hause kommst. Und deine … Schwester.« Dieses letzte Wort schien ihm schwerer über die Lippen zu gleiten. Anne verstand nicht, wieso.

    »Kommst du nicht mit?«, fragte Anne verwirrt. »Willst du nicht deinen Bruder wiedersehen, nach so langer-«

    »Es hat einen Grund, warum ich fortgegangen bin«, unterbrach er sie unwirsch. »Du brauchst deinem Vater nichts von mir zu erzählen. Ich war schon immer unwichtig.«

    Es war ein Schlag ins Gesicht. Es zeigte, was Eso von ihnen hielt, von Annes Familie. Sie presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, nickte knapp, drehte sich um und stolperte in die Dunkelheit, beeilte sich, nach Hause zu kommen. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie von dieser Begegnung halten sollte. Was sie von ihrem eigenwilligen Onkel halten sollte, der freiwillig seine Familie verlassen hatte, sie nie wiedersehen wollte. Unwillkürlich fragte Anne sich, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. So etwas tat man doch nicht leichtfertig, aus einer Laune heraus. Oder etwa doch? Anne hatte man gesagt, er sei von Neid zerfressen gewesen. Tat man etwas so Schwerwiegendes aus einem solchen Gefühl heraus? Anne fand keine Antwort darauf. Vielleicht würde sie nie eine finden. 

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