10. Grusel in der Bibliothek

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"Even your own shadow leaves you when you enter darkness."

Nachdem die Freundinnen endlich das Gasthaus verlassen hatten, flanierten sie im Anschluss darauf noch für ein ein paar Stunden entlang der grauen Straßen, ohne jedoch eine weitere Bekanntschaft mit einem der hier ansässige Bewohner einzugehen.

Zu guter Letzt schien allerdings der Entschluss rasch gefasst, wieder in Richtung des Herrenhauses von Dunkelmoor aufzubrechen. Denn der Abend hatte bereits Einzug über der still schweigenden Landschaft gehalten und drückte nun jedem Fleckchen Erde seinen eigenen Stempel auf.

Sobald alle Einkäufe ordentlich in der geräumigen Küche verstaut waren, zogen sich die Frauen auf ihre ausgesuchten Zimmer zurück. Jede Erwachsene gedachte fürs Erste ihren eigenen Gedanken in Ruhe und Frieden nachzuhängen.

Jetzt allerdings schlichen sich die Drei, bereits in ihre Nachtgewänder eingekleidet, auf leisen Sohlen durch das schweigende Haus, um den Tag gemütlich ausklingen zu lassen.  Im Nu bereiteten sich die Freundinnen jeweils drei Tassen heiße Schokolade vor und begaben sich am Ende erneut auf den Weg.

Schließlich im Empfangsaal angekommen, ließ sich eine entschlossene  Louisa nicht lumpen und zog auf der Stelle sämtlich Spannlaken von den bedeckten Sitzmöbel herab. Mit der Eleganz eines schwerfälligen Walrosses machte es sich die Blondine im Handumdrehen auf der Couch bequem und klappte sogleich ihren mitgebrachten Laptop weit auf.

Zwar fuhr das brummende alte Gerät nur noch langsam hoch, doch Louisa klammerte sich weiterhin, wohl Nostalgiegründen geschuldet, um sein knatternden Dasein so wie ein Ertrinkende auf hoher See um ein Stück Treibholz.

»Keinen Tag hier und schon spüre ich, wie die Kreativität wieder durch meine Adern fließt», freute sich die Schriftstellerin wie Bolle, während sie aufgeregt auf die Tasten niederhaute, so schnell und laut, als wollte sie keinen einigen Einfall, wie nichtig er wohl auch sein mochte, vergessen.

Charlotte, hingegen, nahm neben der Schreibwütigen schnell Platz und versuchte sich ihrerseits an einem ziemlich knifflig aussehenden Kreuzworträtsel. Tiefe Falten furchten das fein  geschnittene Antlitz. Sogar ihr Mund nahm mit zunehmenden Nachdenken eine gepresste O-Form an, eine Beobachtung, die Victoria im Stille an einen Plankton saugenden Fisch erinnerte.

Auf einen Schlag spürte die Schwarzhaarige, mit einem guten Buch eingedeckt, wie sich die vergangenen Stunden abermals vor ihrem geistigen Auge abspielten, gleich einem flimmernden Schwarz-Weiß-Film aus den früheren 30er Jahren.

Denn eines Faktes wähnte sie sich sehr sicher. 

In der Zwischenzeit schien die tragische Geschichte der ursprünglichen Familie von Lahnstein wie ein kaum greifbarer Schatten in der Hinterstube ihres Verstandes aufzulauern, ließ sich kaum mehr von Blut, Fleisch und Knochen abschütteln. Es war der jungen Frau, als hätte sich die Erzählung wie eine geschmiedete Kette um Leib und Seele gebunden, sorgsam in der Absicht, sie nimmer mehr in die Freiheit zu entlassen.

Selbst ihr Bauchgefühl, dem sie normalerweise nur selten Beachtung schenkte, riet ihr pausenlos, die wahre Bedeutung der von Matthias benannten Blumen in Erfahrung zu bringen.

Natürlich wusste Victoria, von welch alberner Natur ihre verworrenen Gedanken herrührten und doch. Das drängende Verlangen, mehr über die Hintergründe der tragischen Tode zu erlernen, baute zwar auf keinerlei logischem Grund auf, schien aber dennoch von immens großer Bedeutung.

Daher beschloss sie, sich nun endlich dem Betteln ihres aufgewühlten Seelenleben ergebend, für ein paar Minuten nach passenden Büchern zu schauen und dann endlich fünf Grade sein zu lassen.

Was tut man nicht alles für ein bisschen Schlaf und Frieden. Abgesehen davon, habe ich mir doch eh vorgenommen, irgendwann einmal die Bibliothek aufzusuchen. Warum also nicht jetzt die Gunst der Stunde nutzen?

»Mädels, ich werde mal kurz dem Lesesaal unsicher machen. Sollte nicht lange dauern, bin gleich wieder da!»

Louisa und Charlotte reckten, ohne ihre Aktivitäten für einen Augenblick zu unterbrechen,  jeweils einen Daumen zur Bestätigung in die Höhe.

Tiefe Luftzüge einholend, legte Victoria ihr mit geschlepptes Buch alsbald auf den unterstützenden Beistelltisch ab und schnappte sich stattdessen wieder ihre heiße Schokolade. 

Im Nu raste die schwarzhaarige Frau wie ein abgeschossener Pfeil durch die dusteren und verwinkelten Gänge des legendären Anwesens. Trotz aller Beleuchtungen gedieh die hier lebende Dunkelheit weiterhin in Hülle und Fülle. Finstere Schatten suchten sämtliche Nischen heim, dabei ständig einen unheilvollen Totentanz aufführend.

Binnen weniger Minuten war der hauseigenen Bibliothekssaal erreicht. Für ein paar lange Augenblicke verharrte Victoria zögerlich vor der verschlossenen Holztüre, ehe sie die Klinke herab drückte und das Portal letzten Endes sperrangelweit aufstieß.

Ihr, die hier eintretet, lasset alle Hoffnungen fahren, machte sich sogleich Victorias logisch denkender Part über ihr irrationale  Unruhe lustig, während die junge Frau zur gleichen Zeit das Reich Düsternis betrat.

Den geöffneten Einlass ließ sie allerdings nicht vollständig in seine Angeln zurückfallen, sondern lehnte die holzige Pforte lediglich am  Rahmen an, um rasch wieder auf den dahinter befindlichen Flur gelangen zu können.

Aufgrund des jüngsten Besuches ließ sich der altmodisch Lichtschalter schnell entdecken und nur wenige Momente später flutete bereits güldene Helligkeit die vor ihr aufgebahrt daliegende Bücherei.

Noch immer trieb der draußen tobende Wind sein dunkles Spiel, fegte heulend und erbarmungslos über die zittrigen Dächer des ehrwürdigen Anwesens hinweg,  so als würde es keinen nächsten Morgen mehr geben.

Eine klamme Kühle lag in der Luft, so kalt wie der tiefste Winter.

Rasch einem plötzlichen Impuls folgend, gesellte sich Victoria zu einem aufgehängten Gemälde, ein beobachtender Zeitzeuge aus einer längst verstummten Epoche.

Das Abbild, dessen malerisch dargestellten Züge ihr bereits aus dem Wohnsalon bekannt vorkamen, porträtierten sowohl den Grafen von Lahnstein als auch dessen erwachsenen Sohn.

Wahrlich entstand bei ihr schon bald der Eindruck, dass es sich bei jenem Zeitgenossen um einen Bilderbuch-Patriarchen handelte, mit dem einst bestimmt nicht gut Kirschen zu essen gewesen war. 

Nichtsdestotrotz ließ sich die Auffassung nicht leugnen, dass der Blaublütige durchaus eine stolze Haltung abgab. Grau melierte Haare, mit einer dunklen Schleife im Nacken zusammen gebunden, lugten unter einer weiß glänzenden Perücke hervor. Seine mit zittrigen Falten überzogenen Gesichtszüge sprachen ebenfalls für  ein markantes Wesen, scheinbar von einer härteren Natur als selbst der kräftigst geformte Stahl.

Und auch in seinen dunklen Iriden erkannte Victoria nicht den leises Hauch von Wohlwollen, sondern lediglich den Ausdruck von unnahbarer Kälte. Um seiner adligen Position den letzten Schliff zu verpassen, hüllte ein eng anliegendes Gewand inklusive Masche den Oberkörper in eine Aura der übermütigen Erhabenheit ein.

Victoria ließ ihre Wachsamkeit schließlich nach rechts schweifen und begann in Windeseile das ästhetische Abbild des mit abgelichteten Sohnes genauer unter die Lupe zu nehmen.

Beinahe wäre ihr ein kleiner Seufzer der Bewunderung über die Lippen entwichen, doch gerade noch zur rechten Zeit wusste die junge Frau ihr drohendes Staunen aufzufangen. 

Wie einst sein Vater war er von einer beachtlich hochgewachsenen Körpergröße, sein schlanker aber muskulöser Leib schien durch die gleichartige Kleidung hervorragend zur Geltung gebracht. Edle Gesichtszüge, alabasterweiße Haut und grün-graue schimmernde Augen stachen wie Leuchtsignale aus seinem wohlgeformten Gesicht hervor. Dunkelbraunes Haar, gleichfalls im Nacken zusammen getragen, passte ganz hervorragend zu ihm. 

Und trotz seiner standesbewussten Haltung sprach eine kaum benennbare Spiegelung aus seinem düsteren Blick. Gleich einem lebendigen Geist, so wirkte sein Erscheinungsbild fern und doch auch mit beiden Händen zu greifen nahe.

Langsam aber sicher löste Victoria ihre Achtsamkeit wieder von den eindrucksvollen Bildern ab und wandte sich stattdessen in Richtung der aufgestellten Bücherregale. Schnellen Schrittes glitt die junge Frau in Richtung des aufgesuchten Ziels.

Botanik. Ich muss muss nach diesem Genre suchen.

Wie aus dem Nichts ertönte ein knallartiges Geräusch, welches das faserdünne Gewand der Stille in tausend kleine Fetzten zerriss.

Vor Schreck zuckte Victorias unweigerlich zusammen, konnte gerade noch rechtzeitig ihre getragene Tasse aufrecht halten. Schleunigst trat die junge Frau zwischen den Regalen hervor,  um gleich darauf der möglichen Ursache auf den Grund zu gehen. 

Ohne Zögern nahm sie Kurs auf den einsam und verlassen dastehenden Sekretär, damit sie zumindest ihrer Tasse vorübergehend in Sicherheit bringen konnte. 

Und als würde all dies nicht bereits zur Genüge erreichen, so nahm Victoria nun auch einen starken Temperatursturz zur Kenntnis. Auf der Stelle schien es so kalt,  dass ihr gehauchter Atem wie ein blasser Schleier in der Luft hing, zwischen dieser Welt und dem Jenseits schwebend.

Just breitete sich eine prickelnde Gänsehaut auf ihrem gesamten Leib aus, die feinen Härchen auf ihren Unterarmen standen der Urlauberin buchstäblich zu Berge. Fröstelnd band sie sich mit zitternden Fingern den seidenen Morgenmantel enger um den Körper, eine Maßnahme, die allerdings kaum eine fruchtende Ernte trug.

Vermutlich ist einfach nur die Heizung ausgefallen. Sollte doch in einem solch alten Gemäuer durchaus schon einmal vorkommen, nicht wahr?

Ohne mit der Wimper zu zucken, griff Victoria nach ihrer warmen Tasse, um sich zumindest für einen kurzen Augenblick mit tröstender Hitze einzudecken. Denn diese grauenhafte Kälte ging ihr im wahrsten Sinne des Wortes durch Mark und Bein

Als das zuckrige Getränk erstmals ihren Gaumen benetzte, so war es ihr allerdings, als müsste sie sich an Ort und Stelle zu ihren Füßen übergeben.

Das schmeckt nicht nach Heißer Schokolade...sondern wie kochendes Blut, stellte die bis in Knochenmark entsetzte Frau fest, während ihr vor Ekel gurgelnde Kehle verzweifelt nach Luft schnappte.

Mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft versuchte sie ihre verspürte Abscheu zu zähmen, doch ihr war mittlerweile so übel,  dass ihr gar keine andere Wahl blieb, als das Gesöff auszuspucken.

Wie ein Schulschwamm, der nach dem Abwischen der Tafel das brackige Wasser inhalierte, sog der Perserteppich die spritzenden Funken auf, bis am Ende lediglich dunkel glimmende Flecken von jenem unansehnlichen Geschehnis berichteten.

Nun regte sich allerdings ihr aufgeweckter Überlebensinstinkt, der ihr aus schreiendem Halse zurief, schnellstens das Weite zu suchen. Daraufhin lief Victoria, wie ein Wirbelwind auf zwei Beinen, schnurstracks in Richtung der noch halb offenen stehenden Tür.

Jedoch fiel das Portal, wie von Geisterhand geführt, bereits im nächsten Augenblick in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Gleich einer aufgebrachten Furie rüttele die Schwarzhaarige an dem Henkel, doch dieser gab in seiner Haltung keinen Meter nach.

»Hört gefälligst auf mit diesem kranken Mist, ihr habt euren Spaß gehabt! Lasst mich hier raus, verdammt nochmal!«,  brüllte Victoria fuchsteufelswild, erhielt jedoch leider keine Antwort auf ihre ausgestoßene Drohung.

Schließlich ließ sie nach der vergebenen Liebesmüh wieder von dem versperrten Eingang ab.

Nein, solch einen bösartigen Streich würden mir Charlotte und Louisa niemals aufzwingen, schlussfolgerte die junge Frau im Stillen, ihre Hände pressten nun demonstrativ auf ihre Hüfte nieder. Ihr eigene Herz pochte so schnell, als gedachte es ihrer Brust entspringen zu wollen.

Aber wer dann?

Erneut ertönte dieser undeutbare Laut, doch dieses Mal versuchte sich Victoria an einem anderen Ansatz.

Quasi nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung, sprintete die Eingesperrte auf die vordersten Bücherregale zu. In jenem Moment glaubte die junge Erwachsene zu wissen, dass dieses höchst seltsame Geräusch jenem Ort entspringen musste.

Und tatsächlich.

Ein herabgefallenes Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Mit bebenden Händen griff Victoria nach dem Lesewerk. Unweigerlich stockte ihr der Atem, sobald ihr der aufgemalte Titel ins Auge sprang.

Die allbekannte Botanik des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Intuitiv suchte Victoria mit ständig hin und her huschenden Iriden den gesamten Raum ab, doch scheinbar hielt sich keine Menschenseele, abgesehen von ihrer selbst, in dem betroffenen Lesesaal auf.

Rasch schlug die Schwarzhaarige das Lesewerk auf, um die von ihr aufgesuchten Begriffe nachzuschlagen.

»Ah, die Akelei. In der Blumensprache bedeutet das: Du bist ein Schwächling. Und hier haben wir die Aster. Deren Motto scheint Du bist mir nicht treu zu sein«, las sie laut vor, um ihre Nerven, angespannt wie Drahtseile, ein klein wenig zu entlasten.

»B... wie Brennnessel. Ich habe dich durchschaut. Gelbe Nelken: Ich verachte dich und zum Schluss W...wie weiße Rosenknospen: Die Unfähigkeit zu lieben oder das Herz, das keine Liebe empfindet.«

Bevor sich Victoria einen Reim auf das Rätsel zu machen wusste,  war es ihr, als läge ein Hauch von einem maskulinem Eau de Cologne in der Luft. Wahrlich, der betörende Duft haftete sich sogleich wie eine beißende Klette an ihre Nase an, ließ nicht mehr von dieser ab. 

Unwillkürlich jagte ein Schauder über ihren Rücken hinweg und bereits nur einen Augenblick später glaubte die junge Frau eine eiskalte Hand auf ihrer Schulter zu spüren. Aufgeschreckt drehte sich Victoria um die eigene Achse, um den Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen, doch wie bereits erwartet, gab es auch hier keinerlei Spur eines weiteren Anwesenden.

Mittlerweile schlug ihr das Herz bis zum Halse, es war, als litte sie an ein einem fürchterlichen Fiebertraum.

Kalter Schweiß lief Victoria mittlerweile über das verkniffene Gesicht herab, während ihr angeschlagener Kreislauf schließlich seinen finalen Tribut zollen musste. 

Letzen Endes glitt ihr überforderter Geist in eine umfassende Ohnmacht ab. Wie ein geplatzter Luftballon sackte ihr Körper zu Boden, ihr Bewusstsein schien bereits längst in eine andere Spähe abgeglitten.


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