11: Ankerpunkte

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Siegfried starrte auf die Tür. Doch davon ging sie auch nicht auf und ihm blieb nichts weiter übrig, als das zu tun, was er schon seit dreiundfünfzig Minuten tat: Warten. Mal wieder. Das hatte Lillian ihm aufgetragen. Mal wieder. Erneut warf er einen Blick auf die Uhr – neben einem quadratischen Tisch und acht Stühlen das einzige Möbelstück hier im Raum. Vierundfünfzig Minuten.

Wieder stand der Hexer auf und lief den kleinen Raum einmal mehr ab. Fünfzehn Schritt in der Länge. Acht Schritt in der Breite. Immer noch. Seufzend trat Siegfried ans Fenster. Doch auch der Ausblick auf den steinernen, tristen Hinterhof hatte sich nicht geändert.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Fünfundfünfzig Minuten.

Ein Flackern in seinen Augenwinkeln lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu dem leeren Hinterhof. Nur, dass er nicht mehr leer war. Eine feine, hell leuchtende Linie grub sich in die gegenüberliegende Wand, schlängelte sich Stück für Stück über das Mauerwerk, bis sie sich in sich selbst schloss und einen akkurat gezogenen, leuchtendenden Kreis von gut zwei Meter Durchmesser ergab. Siegfried schluckte.

Er wusste, was das war, auch wenn er es noch nie gesehen hatte. Ein Teleportationszauber. Doch die Menge an Aura, die für solche Magie verwendet wurde, war jenseits von allem, was lohnenswert war. Normalerweise. Aber die Person, die mit Hilfe dieses Zaubers gleich durch den Kreis kommen würde, sah das offenbar anders. Sie war es wohl wert, einen enormen Auraaufwand in Kauf zu nehmen, für den mindestens dreißig Schweine geschlachtet werden mussten. Eher mehr. Doch mit Lillians Ring wäre so etwas kein Problem. Wie viele solcher Artefakte es wohl gab?

Die Mauer innerhalb des Kreises war verblasst. Stattdessen war er erfüllt von pulsierender Helligkeit, die von Sekunde zu Sekunde heller wurde. Und dann, als Siegfried nicht mehr hinsehen konnte, zeichnete sich der Schatten eines Menschen darin ab. Der Schatten trat mit einer energischen Bewegung nach vorne, direkt aus der Mauer heraus. Siegfried hätte sich fast verschluckt, als er den Mann erkannte, der da plötzlich im Hinterhof stand. Marshall Van Leesten. In ganz Deutschland gab es nur ein Ordensmitglied, das in der Hierarchie gleichwertig mit diesem Hexer war. Was wollte dieser hochrangiger Ritter hier?

Fasziniert schaute Siegfried ihm nach, als Van Leesten den Hof überquerte und hinter der Tür verschwand. Dafür hatte sich das Warten fast gelohnt.


Als die Tür aufschwang, zuckte Siegfried zusammen und sprang vom Fenster weg. Marshall Van Leesten höchstpersönlich stand vor ihm – zusammen mit einer der Empfangsdamen, die ein Tablett mit Gläsern und Wasserkaraffe in den Raum bugsierte.

Sein ranghöchster Vorgesetzter ging um die Dame herum, direkt auf Siegfried zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Herr Werstein! Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, kurz auf mich zu warten. Da war noch ein dringendes Gespräch mit einem Hüter, das ich führen musste, ehe ich kommen konnte."

Siegfried hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Natürlich wusste er, dass es für jeden Kontinent eine andere Wächtergruppe gab – aber was ein Ritter des Ordens aus Europa mit einem Hüter aus Nordamerika zu besprechen hätte, entzog sich seiner Kenntnis. Trotzdem nickte er, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, als er die dargebotene Hand ergriff. „Lillian sagte mir, dass ich hier warten soll. Sie wollte sich kurz um ihre Verletzungen kümmern und dann dazu kommen."

Während er sprach, versuchte er, seinen Händedruck perfekt zu dosieren. Nicht zu schwach und nicht zu fest. War das richtig? Wo blieb eigentlich die Vampirin? So schwer war sie doch nicht verletzt gewesen. Oder doch?

„Gut, gut. Darüber bin ich ehrlich gesagt nicht unglücklich, denn ich wollte Sie einmal allein sprechen, Herr Werstein." Van Leesten lächelte neutral und Siegfried hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.

Also nickte er und blickte der Dame nach, die gerade wieder den Raum verließ und die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich ins Schloss zog. „Mich?"

Wieder dieses neutrale Lächeln. „Keine Angst, Herr Werstein. Ich wollte mit Ihnen nur über ihren vergangenen Auftrag sprechen. Wie ist er gelaufen?"

Siegfried stockte. Er dachte an die Flammen, den Rauch, den entflohenen Brandstifter, die aktivierten Talismane im Taxi – seine Fehler. „Schwierig", antwortete er schließlich etwas verzögert, ohne den aufmerksamen Blick des Marshalls erwidern zu können.

„Verstehe", antwortete Van Leesten dann mit einem knappen Nicken. „Und die Zusammenarbeit mit Raik und Lillian? Wie gestaltete die sich?"

Auch auf diese Frage wusste Siegfried keine richtige Antwort.

Als sich sein Schweigen in die Länge zog, hob der Marshall auffordernd die Augenbrauen. „Ich weiß, dass die beiden manchmal etwas eigenwillig sein können und gerade wenn man länger mit ihnen zu tun hat-"

„Nein. Nein", fiel Siegfried seinem Vorgesetzten hastig ins Wort. „So ist es nicht. Also. Doch. Vielleicht ein bisschen. Lillian will nicht wirklich mit Raik zusammenarbeiten." Das war die Untertreibung schlechthin, wenn man bedachte, warum die Vampirin sich dagegen sträubte. „Aber wenn es darauf ankommt, dann verlassen sie sich blind aufeinander."

Van Leesten lächelte.

Irgendwie hatte Siegfried das Gefühl, dass er genau das gesagt hatte, was sein Vorgesetzter hören wollte. Aber er verstand es nicht. „Mit Verlaub", setzte er deshalb vorsichtig an. „Wenn ich fragen darf: Warum? Warum zwingen sie, Lillian mit jemandem zusammenzuarbeiten, mit dem sie eine solche Vorgeschichte verbindet?"

Van Leestens Blick glitt erst zu ihm, dann zum Fenster und wieder zurück. Schließlich nickte er und Siegfried fühlte sich, als hätte er einen Test bestanden, dessen Aufgaben er nicht kannte. „Wissen Sie, was ein Ankerpunkt ist, Herr Werstein?", während er das fragte, ging Van Leesten zum Tisch und goss sich Wasser in sein Glas.

Siegfried nickte unsicher und verfolgte mit morbider Faszination, wie das Wasser leise gluckernd in einem zweiten Glas landete, während er krampfhaft in seinem Gedächtnis nach der richtigen Antwort suchte. „Naja. Wir hatten das Thema in der Ausbildung angerissen. Irgendwas mit Unsterblichkeit... und..."

Van Leesten wedelte mit der Hand und drückte ihm das zweite Wasserglas in die Finger. „Richtig, richtig. Ankerpunkte sind für diejenigen Unsterblichen wichtig, die ursprünglich einmal Wesen waren, deren Geist nicht für Unsterblichkeit gemacht ist. Vampire als klassisches Beispiel. Das waren mal Menschen oder Hexer oder ähnliches mit einer Lebensspanne von achzig, neunzig, vielleicht einhunder Jahren. Jetzt ist ihre Lebensspanne theoretisch unendlich. Doch tatsächlich verkraften das die Meisten nicht. Sie begehen mit zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig Jahren Selbstmord." Er trank etwas Wasser, während Siegfried ihn anstarrte und sein eigenes Glas regelrecht umklammerte. „Sie können das Leben nicht mehr ertragen."

Das hatte Siegfried nicht gewusst. Er runzelte die Stirn. „Was hält dann Vampire wie Lillian am Leben?" Immerhin war sie über dreihundert Jahre alt.

„Gut erkannt!", lobte der Marshall augenzwinkernd. „Genau das ist die Frage, die Sie sich bei jedem alten Unsterblichen stellen müssen! Wir nennen das ihren Ankerpunkt. Der Grund, der ihrer Existenz einen Sinn oder ein Ziel verleiht. Wenn man den kennt, dann hat man einen Zugang zu ihnen. Eine Verhandlungsbasis, vielleicht sogar Kontrolle. Ohne dieses Wissen sind wir für sie maximal ein Mittel zum Zweck."

Siegfried nickte verstehend. Das machte Sinn. Irgendwie. Vor allem beantwortete es Fragen, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie sich stellte. Um einen Moment Zeit zum Denken zu gewinnen, trank er nun doch einen Schluck aus seinem Wasserglas. „Und Lillians Ankerpunkt ist ihre Familie?" Umso mehr konnte er verstehen, warum Lillian ihren ehemaligen Partner nicht mehr haben wollte.

Der Marshall von Norddeutschland lächelte so neutral wie zuvor. „Gut erkannt. Sehr gut. Tatsächlich hat sie einen Pakt mit dem Orden: Sie unterwirft sich unseren Regeln und im Gegenzug unterstützen wir ihre Nachkommen, um deren grundsätziches Überleben möglich zu machen. Wir sorgen für Arbeit, während Kriesen, Ärzte während Krankheiten oder Essen während Hungersnöten."

Siegfried zog die Augenbrauen hoch. „Das scheint ein teurer Handel zu sein."

„Aber er ist es Wert."

„Warum? Und warum erzählen Sie mir das?"

„Oh. Ich halte es für sinnvoll, dass Sie ein paar Dinge über die beiden wissen, da es sein kann, dass Sie in Zukunft noch öfter mit ihnen zu tun haben."

Oh Gott - konnte er das nicht irgendwie verhindern?

„Also", fuhr Van Leesten ohne Weiteres fort. „Denken Sie nach. Was könnte der Grund sein, warum wir solch einen Aufwand für Lillian C'Ira betreiben?" Wieder trank sein Vorgesetzter einige Schlucke aus seinem Glas und Siegfried kam nicht umhin zu beobachten, wie der Adamsapfel des Marshalls beständig auf und ab hüpfte. Er hatte nicht das Gefühl, es zu wissen. Er konnte nur raten – und einer Eingebung folgen: „Raik?"

„Was ist mit Raik?"

„Naja", begann Siegfried unsicher. Hatte er falsch getippt? Aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. „Er – er ist auch unsterblich. Und er ist eigentlich ein Werwolf. Also auch nicht wirklich dafür gemacht und..."

Van Leesten sah ihn so an, wie eine hungrige Schlange wohl ein Kaninchen anstarrt. Verunsichert brach Siegfried ab. Doch der Marshall wedelte mit einer Hand auffordernd weiter, um ihn wieder zum Sprechen zu bringen. Also schloss er mit dem Einzigen, was nach der vorherigen Unterhaltung Sinn machte: „Kennen wir Raiks Ankerpunkt? Und warum ist Raik so viel wichtiger als andere Ordensmitglieder?"

Van Leesten schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Natürlich ist uns jedes Mitglied wichtig!"

„Natürlich", echote Siegfried geflissentlich.

„Aber Raik... junger Knappe" – Siegfried zuckte bei der Nennung seines aktuellen Rangs innerhalb des Ordens zusammen. Es klang wie ein sanfter Tadel. „Im Gegensatz zu einem Vampir ist er wahrhaft unsterblich. Zumindest soweit wir wissen gibt es nichts, das ihn wirklich endgültig vernichtet. Der letzte Großmeister hat ihm sogar einmal einen Finger abgehackt und verbrannt. Raik hat sich einfach einen anderen, körperfremden Finger an seine Hand gelegt – und der ist angewachsen. Hat sich sogar wieder an seinen Körper angepasst, sodass er aussieht wie vorher."

Siegfried zog scharf die Luft ein und Van Leesten schauderte. „Das – werter Herr Werstein – das ist Macht. Damit kann er Königreiche zu Fall bringen. So eine Kraft wollen wir auf unserer Seite haben, nicht gegen uns. Und das stellen wir sicher, indem wir seinen Ankerpunkt unter Kontrolle halten. Und wir wollen nicht, dass Raik sich einen neuen Ankerpunkt sucht, der es ihm Wert ist, sämtliche Anweisungen, die er bekommt, Folge zu leisten."

Sein Ankerpunkt...

„Lillian", hauchte Siegfried.

Van Leesten lächelte und stieß sein Glas sanft klirrend gegen das von Siegfried. „Exakt. Deshalb wurde es Zeit, dass die beiden sich langsam wieder zusammenraufen. Darum der Auftrag mit dem Tanzen und den Übungsstunden. Damit sie gezwungen sind, sich wieder miteinander zu befassen, sich zu koordinieren und zusammenzuarbeiten." Der Marshall zwinkerte verschwörerisch. „Das war übrigens die Idee meiner Frau."

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