25 - Entschlüsse

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Sa. 17.2. a.d. 1571

Jorge und ich beschließen, dass wir erstmal nichts sagen, wenn wir ankommen. Aber am Abend sollen alle Verbündeten zusammenkommen, damit wir weiter beraten können. Also fahren wir ins Dorf ein, Jorge setzt mich an meiner Kate ab, er fährt den Karren nach Hause, bringt dem Drebber seinen Elias in den Stall und versorgt ihn, schickt seinen Sohn in jedes Haus, die Ankunft melden, verteilt die Einkäufe an die Bauern – und geht selbst zum Drebber, Meldung machen über all das, was wir heute erfahren haben. Ich begrüße meine Kinder und Hannes, plaudere über die Reise, koche ein Abendessen, bringe die Kinder ins Bett mit Gebet und Gesang. Ich singe und scherze und lache. Aber innen drin tut alles weh. Ich muss Hannes gehen lassen, und ich muss es für die Kinder erträglich gestalten. Auch wenn alles in mir schreit, dass ich ihn nie wieder hergeben will.
Ich hab es doch gewusst. Warum ist es dann so furchtbar schwer?
Ab und zu mustert mich Hannes still. Und ich weiß: ihn kann ich nicht täuschen. Er spürt, dass etwas nicht stimmt, spielt aber um der Kinder willen mit.

Endlich wird es Nacht. Das Dorf liegt in tiefer Dunkelheit und Ruhe. Irmel kommt herüber gehuscht, um bei den Kindern zu bleiben, schemenhaft sehe ich, dass der kleine Jasper bereits auf dem Weg mit dem blinden Jasper ist. Hannes und ich sammeln Jorge ein und gehen leise, im Schatten der Häuser, zum Pastor. Kurz nach uns treffen auch Klaas mit der Lene, der Vogt mit Siegfried und Bauer Ferz dort ein. Die Frau Pastor schenkt uns allen einen heißen Tee in die Becher. Dann sitzen wir eine Weile stumm da und halten uns an unseren Bechern fest. Alle wissen, dass es Neuigkeiten geben muss. Aber keiner will anfangen.

Hannes hält es schließlich nicht mehr aus, gibt sich einen Ruck und bricht das Schweigen.
„Jorge, Frau Adam – könntet ihr bitte erzählen, was heute passiert ist? Ich meine, greifen zu können, das etwas nicht stimmt. Und das fühlt sich gar nicht gut an."
Ich zucke zusammen, überlasse wieder Jorge das Reden.
„Leider, Hannes. Du hast Recht. Es is auch nich gut. Obwohl ...?"
Und dann erzählt er – von meinem so seltsam anders verlaufenen Besuch im Schloss, dem freundlichen, alten Diener, der Münze – und dem belauschten Gespräch mit dem Besoffenen in der Schenke. Alle halten die Luft an.
„Ik muss euch sicher nich sag'n, welche Schlüsse daraus zu zieh'n sind, oder?"
Stumm starren alle den Jorge an.
Schließlich ergreift unser Vogt das Wort.
„Hannes, ik weiß nich, ob ik mich für Euch freu'n oder fürcht'n soll. Dat is een Hauf'n Antwort'n, die wir zum Teil lieber nich bekomm'n hätten. Soll ik dat sortier'n?"
Hannes nickt bloß, aber er sagt kein Wort. Er ist sehr blass geworden.

„Also. Frau Agnes von Minnigerode stirbt een paar Jahr' nach ihr'm Mann kinnerlos, un een junger Verwandter erbt dat Leh'n. Sicher eener von der Seite des Grafen her. Er taucht aber nie auf. Der alte Verwalter geit innen Ruhestand zu seiner Tochter, een neuer Verwalter wird eingestellt. Dieser Mann gibt sich bescheid'n un freundlich, hat seines Herrn Vertrau'n un darum völlig freie Hand, reißt nach un nach alles an sich, gebärdet sich immer herrschaftlicher, muss sich also sicher fühl'n. Die Stimmung im Lehen wird schlechter, das Volk wird ausgequetscht un schikaniert, der Verwalter Brud'nhus'n lebt in Saus un Braus, un siene rechte Hand, der Hauser, gleich mit. Soweit hab'n wir hier das alles erlebt.
Nu gibt es offensichtlich een Grund, warum der junge Lehnsherr doch zum ersten Mal zu sein'm Leh'n reitet – un warum der Brud'nhus'n dat weet. Dat passt ihm nich, denn er hat sich inzwisch'n so viel Macht aufgebaut, dat es ihm wohl gelung'n ist, eene Braut über Stand zu find'n. Dafür wär ihm aber der Lehnsherr im Weg, also beschließt er, den umbring'n zu lass'n. Wir wissen nich, woher er weet, wann un von wo der Herr komm'n wird. Aber er weet dat wohl, vielleicht durch en Bot'n, der den Herrn ankünnig'n sollte. Also beauftragt er sei'n Steuereintreiber, der sich hier in der Gegend viel besser auskennt, dat Problem zu beseitig'n. Der Hauser wiederum schickt in dieser stürmisch'n Novembernacht lieber vier Männer in den Grenzwald, um sein'n Herrn zu ermord'n, statt selbst nass zu werd'n. Das misslingt, sie verwund'n den Mann zwar, verlier'n aber die Spur. Nachdem sie erst Lütgenhus'n un dann auch Rhumaspring durchsucht hab'n, kehr'n 'se heim un vertell'n dem Hauser, dat der Mann wohl noch lebt. Der aber vertellt dem Brud'nhus'n, dat der Auftrag erledigt is, un fängt neb'nbei heimlich an zu such'n. Dat der Herr mit so eener Verletzung bei so een'm Wedder weit gekomm'n is, glaubt er nich. Er vermutet wohl auch, dat er daran gestorb'n sien könnte, sucht aber nach Mann – oder Leiche - un Peerd, um Gewissheit zu hab'n. Die Grenzunruh'n un der seltsame neue Knecht bei uns mach'n ihn nervös.
Gleichzeitig bereitet sich der Brud'nhus'n mit groß'm Aufwand un Pomp auf sein'n Schwiegervadder un vielleicht schon auf siene Braut vor, die er irgendwann demnächst frei'n will. Er ahnt nich, dat die Gefahr nich gebannt is. Dat macht den Hauser immer nervöser, weshalb er sicher inner nächsten Tied sehr unangenehm werden wird. Er weet, nach wem er sucht, aber nich, nach welchem Gesicht oder wo er such'n muss. Leider hat er nu Hurtig entdeckt un wird uns darum gewaltig annen Fers'n kleb'n."

Unter dem Tisch greift die Lene nach meiner Hand. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich den Atem angehalten habe. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Hannes den Kopf in die Hände sinken lässt und tief durchatmet. Seine Stimme klingt wie irgendwas zwischen verzweifelt und resigniert.
„Also doch Zimmermann in Duderstadt."
Mehr sagt er nicht.
Pastor Crüger schüttelt den Kopf.
„Nein, Herr von Minnigerode. Nicht Zimmermann in Duderstadt. Sondern Erbe des Herrn von Minnigerode und seiner Frau Agnes, vermutlich aus dem Süden, zwei Tagesreisen südwestlich von Duderstadt stammend, auf der Reise zu seinem Erbgut beinahe hinterrücks ermordet – und jetzt quicklebendig zwischen uns sitzend. Unser Verdacht, dass Ihr von adliger Herkunft seid, dürfte sich hiermit bestätigt haben. Seid willkommen. Es ist uns eine Ehre, dass wir Euch Unterschlupf und Hilfe gewähren durften."

„Hannes! Ich bin Hannes!"
Zornig blitzen seine Augen auf, als er den Kopf wieder hebt.
„Und es ist doch egal, wer ich bin, hier bin ich nicht sicher. Also werde ich in neun Tagen wie geplant mit Euch nach Duderstadt aufbrechen und mich bei Eurem Bruder verstecken, bis ... Ach, keine Ahnung, was!"
Er sackt wieder in sich zusammen.
„Und Ihr, Pastor Crüger, solltet Euch noch vorher zu Eurem Bischof begeben, ihm reinen Wein einschenken und beten, dass der Euch glaubt. Denn wenn Ihr aus Duderstadt zurückkehrt und der Knecht mitsamt Pferd plötzlich wieder verschwunden ist, dann gnade Euch Gott. Dann solltet Ihr die klare Rückendeckung Eures Bischofs haben, sonst macht Euch der Hauser einen Kopf kürzer."

„Hannes."
Klaas klingt ganz schüchtern. Hannes sieht ihn dankbar an bei dieser Anrede.
„Ik ... Ihr? ... Du ... hast da was überseh'n. Wenn Du der Lehnsherr von Gieboldehus'n bist, dann sind der Brudenhus'n un der Hauser deine Untergeben'n, un du kannst sie einfach zum Düvel jag'n, des Mordes anklag'n oder mit Blümch'n füttern. Verstehst du? DU entscheidest, nich die. Du musst nur beweis'n könn'n, wer du bist. Dann wendest Du Dich an unser'n neu'n Herzog um Hilfe, marschierst unangekündigt mit een paar Landsknecht'n hier auf un lässt die zwee Halunk'n hübsch inner Hölle schmor'n. Du schickst die betrog'ne Braut mitsamt Schwiegervadder in die Wüstenei, nimmst dir die Tied, in dein Leh'n wieder Ruhe un Ordnung un Gerechtigkeit zu bring'n. Un am Ende entscheidest du in aller Ruhe, wo un wie du leb'n willst."
Nur langsam dämmert Verstehen in Hannes Gesicht herauf. Wenn er erst einmal hier weg ist, ist er nicht mehr in Gefahr. Er muss nach Süden reisen, er muss dort Ludo finden. Und dann kann doch alles gut werden. Fast alles. Denn für mich und die Kinder wird nichts gut werden. Krampfhaft unterdrücke ich meine Tränen bei diesen Worten, lehne mich zurück, damit meine traurige Miene im Schatten ist. Damit ich irgendwie verbergen kann, wie schwer mir das Herz wird.

Für Hannes ist es so viel Neues, das muss er erst einmal verdauen. Dann wird sein Gesicht wieder traurig und verschließt sich vollkommen. Lange warten wir ab und versuchen zu verstehen, was da in ihm vorgeht. Schließlich kommt ein ganz tiefer Seufzer.
„Aber die Kinder."
Ich springe auf und renne raus. Hinter mir höre ich seine unendlich gequälte Stimme.
„Anna!"
Dann fällt die Tür zu.
Ich laufe nach Haus, so schnell ich kann, flüchte mich in Irmels Arme und weine, bis ich keine Tränen mehr habe. Nun ist er also fort. Und nicht erst, wenn er nach Duderstadt abreist. Jetzt schon ist er fort – nach oben, in gesellschaftliche Höhen, in die ich ihm niemals werde folgen können. Aber das allerschlimmste ist: an seiner Stimme habe ich gehört, dass ihn das genauso quält wie mich ...

 So.18.2.1571

Herzen im Gleichklang

Hannes kommt nicht nach Haus in dieser Nacht. Erst am nächsten Morgen, als ich schon tausend neugierige Fragen von Jakob und sehnsüchtige Blicke von Susanna überstanden habe, sehe ich ihn mit Klaas und der alten Lene zur Kirche kommen. Er weicht meinem Blick aus. Aber immerhin löst er sich von dem Grüppchen und kommt sofort mit schnellen Schritten auf die Kinder zu, die ihm freudestrahlend entgegenlaufen. Mein kleines Mädchen schlingt sofort die Arme um seinen Hals, und Jakob hüpft an der Hand von Hannes in die Kirche. Hannes Augen leuchten. In der Kirche krabbelt Susanna wieder auf meinen Schoß, aber Jakob geht stolz erhobenen Hauptes mit Hannes auf die Seite der Männer, setzt sich sehr aufrecht hin und lässt die große Hand nicht los. Dass Jakob so an ihm zieht und ihn bei sich haben will, erlaubt es Hannes auch, dass er sich setzen kann, statt bei den Knechten zu stehen. Und doch weiß ich, dass er viel drum gäbe, wenn er noch der einfache Knecht Hannes wäre.

Als sei nichts gewesen, kommt Hannes nach der Kirche wieder mit zu uns nach Hause. Wir essen gemeinsam. Wir singen und spielen gemeinsam. Jakob besiegt Hannes beim Murmelspiel, an Susannas Kopf muss er Zöpfe flechten üben, das Peterchen will Aufmerksamkeit. Die Kinder genießen es, ihn um sich zu haben. Aber wir beide schauen uns nicht an. Nie. Es ist wie eine blickdichte Wand zwischen uns. Und irgendwann, als er sich mal wieder unbeobachtet glaubt und sehnsüchtig zu mir herüber schaut, begreife ich: wir beide versuchen, unseren Schmerz vor dem anderen zu verbergen, damit es nicht noch schwerer wird.
Und damit sollten wir schleunigst wieder aufhören!
Als es endlich Abend wird und die Kinder auf der Pritsche schlafen, verschwindet Hannes nach oben.

Ich zögere – lange. Aber dann steige ich doch die Leiter hinauf, stecke meinen Kopf durch die Luke und schaue Hannes einfach fragend an. Er nickt, stumm. Und ich nehme all meinen Mut zusammen, denn wir können jetzt nicht acht Tage lang umeinander herumschweigen. Dann werden wir wahnsinnig.
„Hannes?"
Ganz langsam hebt er den Kopf, schaut mir direkt in die Augen, lächelt ganz leise.
„Danke."
Mein Gesicht muss völlige Verwirrung zeigen, denn sein Lächeln wird breiter.
„Danke, dass Ihr mich weiterhin einfach Hannes nennt, Frau Adam. Die anderen haben sich gestern Abend bald die Zunge abgebrochen, weil sie mich unbedingt aufs Podest heben wollten, obwohl wir uns doch gar nicht wirklich sicher sein können, dass ich wirklich der Lehnsherr bin. Es ist nun wahrscheinlich, aber deshalb möchte ich doch wirklich nicht gleich, dass alle vor mir auf dem Boden rutschen."
Nun muss ich auch lächeln. Ich setze mich wie immer auf den Schemel.
„Das kann ich nicht mehr. Am Anfang fiel es mir ja auch schwer. Aber Ihr seid für mich schon so lange der freundliche, kluge, umsichtige, kinderliebe einfach-nur-Hannes. Da will mir ein 'Herr von Minnigerode' einfach nicht über die Lippen. Jedenfalls nicht einen Augenblick früher, als ich muss."

Er schüttelt den Kopf.
„Das Verrückte ist: ich finde die neuen Erkenntnisse alle total schlüssig und kann das alles sofort glauben. Aber ich bin mir absolut sicher, dass ich kein Herr von Minnigerode bin. Dieser Name ist so weit weg von mir wie ... keine Ahnung."
Ich bin unendlich erleichtert, dass wir wieder normal miteinander reden können. Darum taste ich mich weiter vor.
„Hannes? Mögt Ihr mir sagen, was gestern Abend noch weiter beredet wurde?"
Nun wendet er seine Augen doch ab. Er wird ganz leise.
„Wenn Ihr mir sagt, warum Ihr so plötzlich davongelaufen seid?"
Ich halte den Atem an.
„Ach, Hannes."
Ich sitze neben ihm und spiele nervös mit meinen Fingern, während er vor seinem Brettertisch hockt. Ich habe den Blick gesenkt. Da schiebt sich leise eine große starke Hand in mein Blickfeld, greift nach meinen kleinen Händen, umschließt sie ganz und drückt sie sanft.

„Ich werde Euch vermissen, Hannes. Und die Kinder auch. Sehr."
Er nickt.
„Ich auch. Und nicht nur die Kinder. Euch, Anna, Euch werde ich vermissen."
Eine Weile schweigen wir so. Aber dann gibt sich Hannes einen Ruck.
„Wir haben gestern miteinander beredet, wann wir reisen, wie wir reisen. Haben nachgedacht, wie ich mehr über die Minnigerodes herausfinden kann, wo sich das etwa befindet, an wen ich mich wenden kann. Pastor Crüger meint, dass es einen Ort namens Minnigerode im Eichsfeld gibt. Wie dann dieser Minnigerode nach Gieboldehusen gekommen ist, muss ich klären. Aber es ist wenigstens ein Anhaltspunkt.
Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir auf dem Hinweg ausreisen, wie wir hereingekommen sind – Der Pastor auf dem Wagen, der Knecht auf dem Pferd nebenher. Nur, dass wir diesmal meine gesamte Habe mitnehmen und durch den Zoll bekommen müssen. Ich soll mich aber dabei so ungeschickt anstellen, dass Pastor Crüger ganz viel mit mir schimpfen muss. Dadurch wird das Augenmerk auf mich gelenkt, weg von meinem Gepäck und weg von Hurtig. Für den Rückweg wird Pastor Crüger einen echten Knecht anwerben. Wenn der Hauser dann ins Dorf kommt, soll der Neue statt meiner präsentiert werden. Und das Dorf hat dann einen brauchbaren Knecht, der ja sowieso gebraucht wird."

Noch immer hat Hannes meine Hände nicht losgelassen.
„Und Ihr?"
Er zuckt mit den Schultern.
„Ich bin dann auf mich allein gestellt, werde versuchen, zeitig meine Identität zu klären und vor Ostern als der rechtmäßige Lehnsherr in Gieboldehusen aufzutauchen. Das heißt zwar, dass ich wiederkommen werde. Aber dann bin ich nicht mehr der Knecht Hannes."
Schweigen.
„Der muss für immer fort."
Langsam und vorsichtig zieht er meine eine Hand zu sich ran, hebt sie zum Mund und küsst sie ganz sacht auf den Handrücken. Ein leises Zittern durchläuft mich. Er senkt unsere Hände, schaut sie an, streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. Meine Hand in seiner Hand fühlt sich so warm und geborgen an. Dazu flüstert er.
„Und mit deinem Hannes verschwindet auch meine Anna mitsamt den wundervollsten Kindern dieser Welt in vielleicht unerreichbare Ferne."

Erst mehrere Minuten später wagen wir wieder, uns zu bewegen. Das warme Gefühl von Geborgenheit in der Gegenwart des anderen verfliegt wieder, der verzauberte, vertraute Moment ist vorüber, Hannes gibt leise meine Hand frei.
„Pastor Crüger wird morgen nach Herzberg zu seinem Dekan aufbrechen. Sein Bischof in Hildesheim ist zu weit. Viel zu weit. Aber der Dekan sei ihm gewogen, sagt er. Er habe dort schon mehrfach von den seltsamen Zuständen hier im Lehen berichtet, und der Brudenhusen sei auch dem Dekan ob seiner Brutalität und Habgier ein Dorn im Auge. Er war jedenfalls ganz zuversichtlich, dass er Unterstützung bekommen wird. Der Drebber hat gemeint, demnächst nehme er Miete für Pferd und Wagen. Aber er hat es nicht so gemeint. Irgendwie ... waren alle so gelöster Stimmung. Es war ganz seltsam. Als fühlten sie sich schon jetzt frei von der Last durch die beiden Tunichtgute. ... Ich kann es ihnen nicht verdenken. Bin ich tatsächlich dieser unbekannte Lehnsherr, dann habe ich euch allen furchtbares Unrecht angetan mit meinem Desinteresse und mit diesem habgierigen Verwalter. Ich werde einiges wieder gut zu machen haben."

Kopfschüttelnd sehe ich Hannes an.
„Was ist das nur für ein Unsinn, Hannes. Ihr müsst furchtbar jung gewesen sein. Irgendwer hat für Euch entschieden, diesen Verwalter einzustellen. Ihr habt Euch auf alle anderen verlassen. Und nicht Ihr seid so unehrenhaft. Der Brudenhusen ist es. Das ist doch nicht Euer Unrecht!"
Mir wird der Kopf schwer, ich bin ungeheuer müde. Hannes merkt das.
„Anna, geht ins Bett. Und macht Euch um die nächsten Tage keine Sorgen. Ich möchte die Zeit hier genießen, solange ich kann. Und ich möchte es dann den Kindern selbst sagen, dass ich für eine Weile fort muss. Alles andere ist Spekulation. Wir wissen nicht, was in zwei oder vier Wochen sein wird. Bitte, Anna, lasst uns die Zeit noch schön miteinander haben."
„Von Herzen gerne, Hannes."
Einen Moment lang schauen wir uns noch in die Augen – dann stehe ich auf und gehe zur Luke. Als nur noch mein Kopf herausschaut, lächeln wir uns noch einmal an.
„Gute Nacht, Hannes."
„Gute Nacht, Anna."

Ich habe noch keine Ahnung, wie ich es bewerkstelligen soll. Aber zu wissen, dass es Hannes genauso geht wie mir. Dass er mich genauso vermissen wird, wie ich ihn. Dass unsere Herzen im Gleichklang schwingen, auch wenn das Leben uns nicht lassen will – das macht es nun doch irgendwie leichter.
So, wie wir es uns vorgenommen haben, leben wir die folgenden sieben Tage. Hannes verbringt viel Zeit mit den Kindern. Jakob geht auch für eine Weile nicht zum Müller, weil Britt nun schwer trägt an ihrem späten Kind. Sie freuen sich darauf. Es wird mühsam werden, das ist abzusehen. Aber Jakob genießt so noch viel mehr die Aufmerksamkeit von Hannes.

So. 25.2.1571

Die Fastenzeit bricht an. Hannes ist viel bei Klaas oder Jorge und lernt alles über die Frühjahrsarbeit des Bauern, die Feldbestellung, die Aussaat. Aber nun nicht mehr, um gut den Knecht Hannes miemen zu können. Wie trockenes Gras saugt er alles auf, was mit unserem Leben zu tun hat, er will alles wissen, will alles verstehen.
Gemeinsam beobachten die Männer, wie das Wetter milder wird und der Schnee zu tauen beginnt. Alle hoffen, dass nun nicht durch matschige Wege alle Reisepläne ins Rutschen kommen. Der Pastor fährt nach Herzberg und kommt nach zwei Tagen wieder. Sein Dekan hat ihm volle Unterstützung zugesagt und ihm ein Schreiben mitgegeben, das ihn schützen soll.

Des Abends sitzen wir gemeinsam auf Hannes kleinem Dachboden über meiner Diele, reden, schweigen, halten einander an den Händen, um ertragen zu können, was mit uns beiden gerade geschieht. Und wir sind nun endgültig beim gemeinsamen „du" angekommen, solange uns keiner zuhört.
„Hannes?"
„Hm?"
„Warum bist du so wild darauf, doch noch das Bauernhandwerk zu verstehen? Du brauchst das doch jetzt nicht mehr."
Entschlossen schüttelt er den Kopf.
„Doch, Anna. Grade jetzt! Hat je ein Lehnsherr in den Schuhen seiner Bauern gesteckt? Wahrscheinlich nicht. Ich habe euer Leben geteilt. Ich habe während eines langen Winters erlebt und gelernt, wie ein Bauer täglich um sein Brot, um Gerechtigkeit und um seine Zukunft ringt. Ich habe am eigenen Leibe erfahren, was Willkür, was Unfreiheit mit den Menschen macht. Ich kann das nicht beiseite schieben. Es ist zu spät, um bei der Frühjahrsbestellung wirklich mitzutun. Aber ich muss verstehen, was ihr braucht, was ein Dorf zum Leben braucht, was meine Aufgabe sein muss und wie ich sie füllen will. Allein, wenn ich sehe, wie sich alle auf diese Anstrengung vorbereiten. Dass Ochsen, die nach dem Winter nicht mehr genug Futter haben, nun den Pflug durch die nasse, schwere Erde ziehen sollen. Dass die Kinder hungern, weil die Väter und die Knechte bei Kräften bleiben müssen. Dass..."
Er rauft sich die Haare.

„Ich werde – so Gott will – bald die Verantwortung für euch alle tragen. Und ich schwöre – bei mir im Lehen soll nie wieder jemand hungern, sofern es irgendwo genug zu essen gibt! Ich brauche nicht Samt und Seide. Ich brauche nicht Gold und Perlen. Und ich brauche ganz bestimmt keine Menschen um mich, die tun, was ich sage, weil sie Angst vor mir haben. Ich brauche freie Bauern, die genug Saatgut und Werkzeug haben, Kinder, die satt sind und gerne lernen, Dörfer, die in Frieden und Sicherheit gedeihen können. Und wenn mir je jemand etwas Edles sticken soll, dann nur du!"
Bei diesen Worten lächeln wir uns an. In diesen Worten liegt das Versprechen, dass es uns gut gehen soll. Und dass wir beide uns wiedersehen werden.
Und doch wird es jeden Abend schwerer zu lächeln. Der Abschied rückt näher und legt sich wie eine schwere Decke auf uns, die uns niederdrückt und uns die Luft zum Atmen nimmt.

Am Freitag schließlich nimmt sich Hannes die beiden großen Kinder auf den Schoß und versucht, ihnen zu erklären, dass er fort muss.
„Jakob? Susanna? Kommt ihr mal her zu mir? Ich muss euch was erzählen."
Schnell krabbeln sie auf seinen Schoß.
„Passt auf, ihr Zwei. Für euch bin ich immer der Hannes gewesen. Ich war einfach so da, weil der Pastor mich mitgebracht hat. Und ich habe euch beide so unglaublich lieb gewonnen, als wäret ihr meine eigenen Kinder. Aber ich bin eigentlich gar kein Knecht. Ich bin ein Mann auf Wanderschaft, und ich habe kein Zuhause. In drei Tagen wird der Pastor wieder nach Duderstadt reisen, von wo er mich hergebracht hat. Ich werde mit ihm reisen. So Gott will und ich lebe, werde ich wiederkommen. Aber ich kann euch leider nicht sagen, wann und wie das sein wird. Ich werde euch furchtbar vermissen. Aber jetzt fürs erste muss ich euch hergeben und hier lassen. Ich kann nur hoffen, dass ihr mir nicht allzu sehr böse seid."
Er gibt sich alle Mühe. Aber am Ende hat er doch einen schweigenden Jakob und eine weinende Susanna im Arm – und muss selbst weinen, weil es so sehr weh tut.

Am Sonntag nach der Kirche verkündet der Pastor seine erneute Reise nach Duderstadt, und der Vogt bittet sofort zur anschließenden Versammlung. Alle. Auch die Frauen und älteren Kinder, das ganze Dorf. Neugierig tuschelnd gehen wir dafür hinüber in den großen Saal. Alle kleinen Kinder werden von der Drebberin und der Crügerin zum Pfarrhaus gebracht. Dicht gedrängt stehen Männer und Frauen an den Wänden entlang, jeder Platz ist besetzt. Und nun wird der staunenden Dorfgemeinschaft erzählt, wie Hannes wirklich zu uns gekommen ist, was wir in den letzten dreieinhalb Monaten alles erlebt haben. Und dass Hannes mit großer Wahrscheinlichkeit unser Lehnsherr ist, der nun antreten wird, uns von dem schrecklichen Gespann in Gieboldehusen zu befreien. Ehrfürchtig gehen alle einen Schritt zurück und sinken auf die Knie vor ihrem Herrn. Ich sehe Hannes an, dass er alle Kraft zusammennehmen muss, um nicht entsetzt davonzulaufen.
Es wird erklärt, dass Hannes noch immer in Gefahr ist, was der Grund für das Versteckspiel und den Grenz-Schmuggel-Zoll-Aufruhr und die Sauhatz war, dass aber nun Hoffnung besteht, dass alles gut wird. Die Bauern werden vorbereitet auf den Sturm, der bis dahin noch über uns hereinbrechen kann, weil der Hauser heftig suchen wird. Sie werden erinnert, was Hannes uns in der kurzen Zeit alles Gutes getan hat. Und in der ganzen Zeit wächst und wächst die Ehrfurcht der Menschen im Saal – und Hannes Furcht vor seinem eigenen Leben auch.
Es ist nicht schwer, die Bauern, unseren Müller und den Schmied darauf einzustimmen, dass wir nun zusammenhalten und schweigen müssen wie ein Mann, damit der Hauser hier nicht doch noch Hannes Spur aufnehmen kann.

Wieder verbeugen sich alle vor Hannes. Dann entsteht ein seltsames, langes Schweigen. Alle Blicke liegen abwartend auf dem vertrauten Fremden. Und schließlich, nachdem die ganze Zeit der Vogt, der Pfarrer, Jorge und Klaas geredet haben, erhebt Hannes sein Haupt und seine Stimme.
„Ich ... Es ... fällt mir ungeheuer schwer, hier vorne zu stehen. Dass ich wohl euer Lehnsherr bin, habe ich nun herausfinden können durch Beobachtung und Erkenntnis. Aber ich finde das nicht IN mir. Ich weiß, dass ich Erziehung und Bildung genossen haben muss. Aber in mir drin fühle ich mich tatsächlich wie der Knecht Hannes, der in dieses Leben hineingestolpert ist und dessen Leben sich immer zwischen den Häusern dieses Dorfes abgespielt hat. Ich weiß und fühle nichts anderes. Nichts anderes als das überwältigende Gefühl der Dankbarkeit für diese Gemeinschaft und jeden einzelnen Menschen hier im Dorf. Ich fühle mich seltsam bei eurer Verehrung, ich zucke zusammen, wenn mich einer mit meinem herrschaftlichen Namen anredet. Und ich bin stolz, dass zu meinem Lehen so aufrechte, ehrliche, gottesfürchtige und gerechtigkeitsliebende Menschen gehören. Seit sechs Jahren habt ihr zu leiden unter der ungerechten und anmaßenden Herrschaft des Brudenhusen. Und ihr seid dabei doch gute Menschen geblieben. Ich ... ich werde lernen, eure Verneigung und Unterwerfung anzunehmen.
Aber vor allem anderen – was auch immer in den nächsten Wochen geschieht – möchte ich mich in Ehrfurcht verneigen – vor euch."

Nach und nach hat Hannes sich freigeredet, ist sicherer geworden, weiß sichtbar und fühlbar, was er sagen möchte. Nun beugt er, eh ihn jemand daran hindern kann, das Knie und verneigt sich in ehrlicher Demut vor den einfachen Dörflern, weil es seinem dankbaren und aufrechten Wesen entspricht. Es ist totenstill im Saal. Der blinde Jasper lächelt still in sich hinein. Hannes erhebt sich wieder und bittet die Menschen, sich zu setzen. Er muss dreimal bitten, bis sie es tun.

Nun ergreift noch einmal der Vogt das Wort.
„Wir müss'n nu gut überleg'n, wie wir die nächste Tied übersteh'n werd'n. Wie wir bereits geseh'n hab'n, wird Herr von Minnig... Herr ..."
Er seufzt.
„... wird Herr Hannes für jed'n Schad'n, den dat Düvelsgespann hier anricht'n wird, aufkomm'n. Wir könn'n also ruhig un gelass'n unner dem Tob'n hinwegtauch'n. Wichtig is nur, dat niemand ahn'n lässt, was wir alles wet'n. Un dat wir alle dieselbe Geschichte vertell'n. Der Pastor hat den Knecht un das Peerd mitgebracht. Aber wie der Hauser beim letzt'n Steuertag seh'n konnte, is der Knecht eenfach zuuuu dumm. Un dat Peerd reit'n konnte der Pastor auch nich, weil es niemand auf sein'n Rück'n lässt. Da is er beim Kauf einfach betrog'n word'n, weil er keene Ahnung hatte. Un nu hat er eb'n beides wieder zurückgebracht und bei seinem Bruder gelassen. Den Gaul un den Knecht. Er hat een'n neu'n, ordentlich'n Knecht anheuern könn'n fürs Dorp, aber der Tölpel von der Sauhatz, der is weg un kommt auch nich wedder."
Einen Moment lang ist es noch still. Doch auf einmal fangen Mathis und Laurenz an zu lachen. Sie begreifen grade, dass sie Teil eines geheimen Plans waren, dass es Absicht war, dass Hannes mit ihrer Hilfe die Sau gradewegs in den Misthaufen gelenkt hat. Und endlich löst sich die ganze Spannung im Raum in fröhliches Gelächter auf.

Als die Versammlung schließlich vorbei, alle Kinder wieder eingesammelt und alle auf dem Weg nach Hause sind, wirft mancher dem Hannes einen scheuen Blick zu, lächelt ihn an, murmelt ein paar ganz persönliche Dankesworte. Das kann er viel besser aushalten als die ungeteilte Aufmerksamkeit aller eben im Saal. Er hat Susanna auf seine Schultern gehoben, den Jakob an der Hand genommen und läuft wie immer an meiner Seite zurück zur Adamskate. So fühlt es sich richtig an.
Wir reden auch gar nicht. Wir essen ein warmes Mittagsmahl, Hannes spielt mit den Kindern. Als es Zeit ist, essen wir unser Nachtmahl, Hannes verabschiedet sich von den Kindern, und wir singen die drei in den Schlaf. Dann steigt Hannes, wahrscheinlich zum letzten Mal, auf seinen Dachboden, breitet seine Habseligkeiten aus und beginnt zu packen. Er entscheidet, welche Kleidung er morgen übereinander anziehen wird. Was in die Satteltaschen kommt und was als das Gepäck des Pastors getarnt werden soll. Er säubert die Faustbüchse, zählt sein Geld, gibt mir viel mehr davon, als mir lieb ist, legt etwas für den Zoll und die Reise beiseite und verstaut die Geldkatze ganz unten in seinem Bündel mit feiner Kleidung.

Dann öffnet er seinen Beutel mit persönlichen Dingen, um nach langer Zeit wieder den Inhalt zu besehen. Dabei fällt mir etwas ein.
„Hannes, als du das erste Mal deinen Beutel besehen hast, da ist dir ein Ring heruntergefallen. Bevor die Bauern für die Reparatur auf mein Dach gestiegen sind, habe ich hier sauber gemacht und dabei den Ring wieder gefunden."
Ich nestele meinen Beutel auf und will ihm den Ring zurückgeben. Aber er greift schnell nach meiner Hand.
„Lass Anna. Er wird dir zu groß sein, aber ich möchte, dass du ihn behältst als Zeichen meiner ..."
Ich halte den Atem an.
„Ach, warum sollte ich das nicht aussprechen! Anna, als Zeichen meiner Liebe zu dir. Bitte behalte ihn."
Ich steige die Leiter hinunter und lasse mir von Hannes seine Habseligkeiten anreichen. Wir stapeln alles an der hinteren Türe, wo Klaas in aller Herrgottsfrühe mit Hurtig auftauchen wird. Auch der Pastor muss diesmal vor Tag und Tau aufstehen. Wenn die Sonne aufgeht, sind die beiden hoffentlich schon über die Grenze davon. Bevor Hannes die Leiter hinaufsteigt und sich zum letzten Mal auf seine Pritsche legt, bleibt er an der Leiter stehen und sieht mich mit ganz viel Wärme an. Dann greift er meine beiden Hände, haucht je einen Kuss darauf – und klettert schnell nach oben.

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2.1.2022

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