32 - Scham und Reue

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Do.15.3. a.d. 1571

Am nächsten Morgen ist dieser Wunsch jedoch erstmal wieder ganz klein und in den Hintergrund gerückt. Irmel Krumm schleicht sich früh herein, melkt die Ziegen und stellt uns die Milch hin. Dazu hat sie uns einen Eimer Wasser mitgebracht und etwas Brot. Ich werde von den Geräuschen wach und steige herunter.
„Grüß dich, Irmel."
Sie sieht mich nur kurz an.
„Grüßt Euch, Hannes."

Ein kurzes Lächeln, dann ist sie wieder verschwunden. Caspar, Melchior und Balthasar rappeln sich von der Pritsche auf, strecken die doch etwas verfrorenen, steifen Glieder und setzen sich zu mir an den Tisch. Wir essen schweigend, und ich vermisse schon wieder Anna. Ihre Seele atmet hier, in dieser kleinen Kate, wo sie gesungen, mit den Kindern gespielt, gebetet, gearbeitet und ihre sanfte, positive Lebenseinstellung ausgestrahlt hat. Jetzt sitzt sie – wie ein Vogel gefangen im Käfig – in Gieboldehusen. Und das macht mich einfach wahnsinnig.

„Herr Hannes?"
Ich blicke auf in das freundliche Gesicht von Balthasar.
„Wollt Ihr uns, bis der Vogt kommt, vielleicht die ganze Geschichte erzähl'n? Ik denk, es wird Tied, dat auch wir wiss'n, was wir hier eigentlich tun."
Er hat Recht. Ich habe ihnen bisher eine ganze Menge vorenthalten. Und so hole ich tief Luft und erzähle ihnen meine ganze Lebensgeschichte – von dem Zeitpunkt an, an dem ich hier auf diesem Dachboden aufgewacht bin und von meiner erstaunlichen Rettung durch eine noch erstaunlichere Frau erfahren habe.

Dann endlich kratzt es an der Hintertür. Klaas und der Drebber kommen herein. Meine drei „Wächter" erheben sich und entbieten dem Vogt ihren Gruß. Nachdem ich alle einander vorgestellt habe, berichten Klaas und der Vogt noch einmal in Ruhe, was hier seit dem unseligen Steuertag alles vorgefallen ist. Dass der Freese regelmäßig Knechte in die Stadt schickt, die Kontakt zu einem alten Diener im Schloss aufgebaut haben. Es gehen Nachrichten mit Anna hin und her. Sie ist nicht mehr so sehr alleine dort.

Und ich berichte von meiner Reise zur Äbtissin in Minnigerode.
„So wie es aussieht, bin ich also wahrscheinlich ein Neffe von Agnes von Minnigerode, Sohn ihres Bruders, und stamme eigentlich von weit im Norden, hinter Hannover. Das würde es übrigens für mich auch erklären, warum ich mich bisher nicht um mein Lehen gekümmert habe."
Klaas schüttelt wieder den Kopf.
„Un warum um Himmels Will'n, wenn Du schon den Seg'n einer Äbtissin hast, bist du nich auf'm direkt'n Wege nach Salzderheld'n geritt'n, hast den Herzog über die Zustände hier un den Beinahemord an dir informiert un ihn dazu gebracht, diesem unselig'n Zauber sofort een Ende zu mach'n? Was hat dich geritt'n hierher zu komm'n? Wenn du bei Verstand bist, weißt du genau, dat du hier überhaupt nischt tun kannst!"
Darauf kann ich nichts antworten. Er hat Recht. Es war verrückt, ein Schnellschuss der ganz unsinnigen Sorte. Aber es musste einfach sein.
„Weil ich nicht bei Verstand war?"
Die anderen schauen mich verblüfft an, dann beginnen sie, schallend zu lachen.

Vogt Drebber schmunzelt.
„Das glaube ich Euch aufs Wort, Herr Hannes. Und das wird jetzt nicht einfach. Die Boten vom Freese berichten, dass die ganze Stimmung in der Stadt und im Schloss sehr angespannt ist. Der Brudenhusen selbst scheint sehr nervös zu sein. Unser neuester Verdacht ist, dass er inzwischen – auf welchem Wege auch immer – begriffen hat, dass der Anschlag auf Euch fehlgeschlagen ist, und dem Hauser gehörig Feuer unterm Hintern macht. Es geit dat Gerücht durch die Stadt, dat die beiden Männer einander überhaupt nicht mehr übern Weg trau'n. Un dat wird wahrscheinlich heiß'n, dat der Hauser hier demnächst aufmarschier'n un dat gesamte Leh'n auseinandernehm'n wird. Wenn der Brud'nhus'n tatsächlich weet, dat Ihr lebt, dann kann der Hauser nur entweder Eure Leiche beischaff'n oder selbst zur Leiche werd'n. Will heiß'n: Ihr seid hier extrem gefährdet ..."

Nun werde ich bockig. Ich weiß es selbst, aber ich kann nicht anders.
„Das ist doch erst recht ein Grund, sie da irgendwie rauszuholen. Wenn der Mann durchdreht, hat er sie auf dem Präsentierteller. Wir müssen ..."
Caspar hat genau hingehört und schnell verstanden. Er stöhnt ungeduldig.
„... gar nischt. Wir müss'n gar nischt! Wenn ik dat richtig verstand'n hab, sieht der Hauser een Zusamm'nhang mit dies'm Dorp, einfach weil es am Wege liegt. Aber Frau Adam is zum Stick'n dort. Nich als Geis'l weg'n Euch. DEN Zusammenhang hab'n die beid'n noch nich hergestellt. Sie jetzt da rauszuhau'n, würde unmissverständlich klar mach'n, dat die den allerschönst'n Lockvogel ihres Leb'ns bei sich sitz'n hab'n. Dat darf auf kein'n Fall eintret'n. Wie es utkiekt, hat se Verbündete im Schloss, die ihr wohlwoll'n – der alte Diener, inzwisch'n auch eene Magd. Un: sie selbst hat doch nu ausgerichtet, dat wir hier nischt tun soll'n. Was wollt Ihr denn noch hör'n?"

Allmählich dämmert mir das ganze Ausmaß meiner panischen Reaktion, und ich frage mich, wie ich so alt werden konnte, ohne mich selbst vor lauter unsinniger, undurchdachter Taten umzubringen. Ich raufe mir die Haare. Ich wage es nicht, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Fast klingt das Flüstern nicht wie meine eigene Stimme.
„Und jetzt?"
In diesem Moment kommt der kleine Jasper zur Tür hereingeschossen.
„Klaas? Kannst du schnell die Lene hol'n? Der Müllerin geit's schon wedder nich so gut."
Dann ist er auch schon wieder verschwunden. Klaas seufzt, steht auf und entschuldigt sich.
„Verzeiht. Britt hat nich mehr lang, un es löpt nich gut. Da muss ik gleich hin."

Verwirrt schauen die drei „Könige" ihm hinterher. Der Vogt erklärt die Situation.
„Unsere Müllerin ist nicht mehr die Jüngste und noch einmal guter Hoffnung. Aber es ist schwierig. Und unsere Lene ist unsere Kräuterfrau. Sie ist aber schon alt und lahm. Darum muss nun der Klaas hin, sie holen und sie auf den Mühlenhügel tragen."
Der praktisch veranlagte Melchior kratzt sich am Kopf.
„Dann sollte diese Lene nich so weit weg von dieser Müllerin sien."

Ich stutze. Und dann fällt der Groschen.
„Stimmt. Und wenn die Lene hier herkommt, hat sie nicht nur einen kürzeren Weg zu Britt. Sondern wir haben auch eine Ausrede, warum diese Kate bewohnt ist, obwohl Anna Adam gar nicht hier ist. Dann schlafen wir eben alle Vier auf dem Dachboden, wie, das findet sich schon. Und wenns sein muss, ist die Lene auch im Handumdrehen in der Mühle."
Der Drebber denkt nach.
„Wenn der Hauser will, wird Euch dat auch nischt helf'n. Aber een Versuch isses wert. Gnade uns Gott! Ihr Kerle dürft hier unt'n absolut nichts herumlieg'n lass'n. Un ich habe keine Ahnung, was wir mit vier Gäulen mach'n soll'n."

Wieder ist es Melchior, der eine Idee hat.
„Dieser Bauer Freese. Der sitzt doch in Rhumaspring un hat auch ein'n recht groß'n Hof. Könnt'n wir unsere Pferde nich einfach bei ihm unterstell'n? Oder dort aufs Dorf verteil'n? Den Hurtig von Herrn Hannes behalt'n wir hier. Un vielleicht könnte auch einer von uns dreien ganz beim Freese sien. Botenritte sind zeitaufwändig. Das könn'n wir dem hilfreich'n Bauern so abnehm'n. Uns kennt auch keener inner Stadt. Auch diese Wege könnte mal einer von uns übernehm'n."

Ich fühle mich plötzlich wieder wie zu Hause. Wir sitzen beieinander und schmieden Pläne. Aber gleichzeitig schäme ich mich auch. Ich habe mit meiner Angst dafür gesorgt, dass nun nicht einer sondern gleich vier Männer und Pferde versteckt werden müssen. Vor einem Mann, der vor nichts zurückschreckt, weil er bereits selbst das Messer an der Kehle hat.

Kurz darauf kommt ein Mann herangeritten und berichtet atemlos, dass der Hauser völlig außer der Reihe in Rhumaspring aufgetaucht sei, und nun seine Landsknechte dort das Dorf auseinandernähmen. Und er habe gesagt, dass er anschließend auch noch Wollershusen besuchen wolle. Der Vogt springt auf und flucht herzhaft.
„So'n Schiet! Die hatt'n doch bis jetzt überhaupt nischt damit zu tun. Die werd'n völlig ahnungslos un unvorbereitet in die Heimsuchung stolpern. ... Dat geit nich. Welche Ausrede gebraucht der Hauser in Rhumaspring?"
Der Bote kommt langsam wieder zu Atem.
„Er seggt, es würd en entfloh'ner Verbrecher gesucht, der nich über die Grenze gelang'n soll. Un diesmal hat er auch Landsknechte zu den äußer'n Scheun'n geschickt."

Der Vogt fällt einen Entschluss.
„Gut. Kannst du weiterreit'n un die Lüüt in Wollershus'n warn'n? Hannes, Ihr schnappt Euch Eure Männer, die Peerde un alles, was nach Euch ausseh'n könnte, un Ihr reitet bitte sofort zurück Richtung Hilkerode, daran vorbei, bleibt auf der Grenzstraße, möglichst im Wald, bis Ihr deutlich im nächst'n Leh'n seid. Dahin kann er nich geh'n. Ihr kommt erst wedder, wenn einer von uns Euch holt. Dat könnte eene ungemütliche Nacht werd'n, nehmt Deck'n mit. Dat is jetzt unsere einzige Möglichkeit. Wenn der Hauser auch die ander'n Dörpen durchsuch'n lässt un zu den Scheun'n auf'n Feldern geht, wird es ernst. Der Mann is nu verzweifelt un braucht eene Antwort für sien Herrn. Aber die soll er hier nich find'n. Ik bereite derweil dieses Dorf auf die erneute Invasion vor."
Mit diesen Worten ist er zur Tür hinaus.

Caspar schaut mich an.
„Na, dann mal los."
Wir packen in Windeseile all unsere Habe wieder ein, die wir zum Glück noch nicht sehr ausgebreitet hatten. Ich stecke meine Lampe wieder in den Schuppen, verwüste wieder den Dachboden, wir nehmen alle bis auf zwei Decken mit und Brot und Käse, die hier noch übrig sind.
„Kommt, wir müssen fort!"
Schnell eilen wir zu unseren Pferden, satteln sie, und schon sind wir im Wald verschwunden.
Wir reiten zügig nach Osten, weit über Hilkerode hinaus, bis sich der Wald zu einer Ebene öffnet. Am Horizont ist ein Dorf zu sehen. Ich gehe also davon aus, dass wir im nächsten Lehen sind. Wir suchen eine Scheune auf freiem Feld, von wo aus meine Wächter weit sehen können, und machen es uns darin mitsamt unseren Pferden gemütlich. Sofern das geht mit brennendem schlechtem Gewissen und überhand nehmender Sorge um all die Lieben, die um meinetwillen so viel Ungemach ertragen müssen.

Ich möchte mich am liebsten in der hintersten Ecke dieser Scheune verkriechen und heulen. Was ich in den letzten Monaten über mich selbst herausgefunden habe, war nicht das, was ich erwartet hatte. Es ist nicht sehr schmeichelhaft. Ja, ich bin hilfsbereit, freundlich, kinderlieb und redlich. Ich habe Geistesgegenwart und Verstand. Und obendrein bin ich auch noch verliebt, was ja eigentlich ganz nett wäre, wäre die Frau denn erreichbar.

Aber ich bin auch einer, der immer vor allem davonläuft. Ich reagiere trotzig und kindisch, wenn mir jemand ganz im Guten die Augen öffnen will. Ich bin einer, der ständig zu kurz denkt, sich von seinen Gefühlen leiten lässt und darum immer wieder groben Unfug treibt, der sich hätte vermeiden lassen. Und ich bin darum einer, der immerzu Hilfe von anderen braucht, die seinen Unsinn ausgleichen und abfangen müssen.
Wie viele Menschen haben in den letzten Monaten meine Bedrohung, meine Unwissenheit, meine Verwirrung und all meine dummen Impulshandlungen mit mir und für mich ausgehalten! Wildfremde Menschen wie Bauer Freese oder Siegurd Crüger haben sich für mich ins Zeug gelegt, haben sich weit über das normale Maß hinaus um mich gekümmert und mich immer wieder gerettet. Und ich? Stolpere, so schnell ich kann, in die nächste Katastrophe!

Zutiefst gedemütigt seufze ich auf und lehne mich an Hurtig, der das gleichmütig hinnimmt, mir seine Wärme spendet und weiter sein Heu kaut. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich da so mit hängenden Schultern gestanden habe, als sich mir eine Hand auf die Schulter legt. Es ist Balthasar.
„Herr, ... Es ziemt sich nich, aber ...Ihr seht aus, als würdet Ihr gleich unner eener schwer'n Last zusamm'nbrech'n. Kann ik ... helfen?"

Ich hole tief Luft.
Ist das gut oder schlecht? Ach was! Meine Würde ist eh längst dahin.
Seine leise Stimme tut mir jedenfalls gut.
„Balthasar ... Ich habe das Gefühl, seit ich denken kann, mache ich nur Unsinn. Ich bringe ständig alle in Gefahr und werde auch noch sauer, wenn mich jemand bremsen will."
„Grämt Euch nich, Herr. Ik stell es mir furchtbar vor, nich zu wiss'n, wer ik bin - noch, warum mir jemand nach'm Leb'n trachtet. Un ... Eure Anna scheint eene ganz wunderbare Frau zu sien, für die man schon mal den Kopf verlier'n un was Dummes tun kann. Aber Ihr seid doch nich allein. Un JEDER braucht mal Hilfe, nich nur Ihr. Wir sind hier jetzt sicher. Un wenn der Sturm heute erstmal vorüber is, werd'n wir mit so viel'n schlau'n, wohlwollend'n Mensch'n zusamm'n sicher eene Lösung find'n, wie's weitergeh'n kann."
Dankbar drücke ich seine Hand. Heulen möcht ich trotzdem.

Es wird Nacht in der fremden Scheune. Wir haben nicht viel zu essen, aber es reicht, die Pferde sind hier versorgt. Auch wenn bald irgendjemand seine letzten Heuvorräte vermissen wird, aber den Gedanken schiebe ich ganz schnell wieder nach hinten. Ich habe inzwischen mit meiner Reise von wo auch immer ins Irgendwo so viel Unheil und Leid und Gefahr heraufbeschworen, dass ich mich am liebsten vergraben und nie wieder auftauchen würde. Die Ungewissheit nagt an uns allen. Die Untätigkeit macht uns verrückt. Und zu dem schlechten Gewissen gegenüber allen anderen kommt nun auch noch das gegenüber meinen drei „Königen", die ich in ziemliche Gefahr gelockt habe, ohne dass sie wussten, was hier auf sie zukommt.

Es ist zum Haareraufen. Ich muss mich der Tatsache stellen: wer auch immer ich bin, und wo auch immer mein Leben hinsteuert – das muss anders werden. Ich muss schleunigst lernen, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Dass ich grade keine Ahnung habe, was das in dieser festgefahrenen Situation heißen soll, macht es auch nicht besser. Immer wieder schrecke ich auf in dieser Nacht, träume allen möglichen Mist zusammen und sorge mich halb zu Tode um die Menschen in den Dörfern und um Anna. Zum ersten Mal sind es Träume um das Hier und Jetzt. Kein Ludo, kein Karl, keine Kindheitserinnerungen spuken durch mein Hirn.

FR. 16.3. a.d. 1571

Erst in den frühen Morgenstunden, als es noch dunkel ist, hören wir Hufschlag draußen und entdecken den kleinen Jasper, der auf des Drebbers Elias geritten kommt, um uns zu holen. Vorsichtig und mit suchendem Blick nähert er sich der einsamen Scheune, und Melchior, der grade Wache schiebt, holt ihn herein. Erleichtert erfahren wir, dass die Dörfer noch stehen, die Menschen noch leben und die Landsknechte überall unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten. Und dem Hauser hat man wohl ansehen können, dass er am liebsten morden würde. Aber das hatten wir ja schon ...

Zu fünft reiten wir also zurück zur Grenzstraße, durch den Wald, vorbei an der Kreuzung zum Grenzübergang nach Hilkerode. Bevor wir aus dem Wald und nach Lütgenhusen hineinreiten, schicken wir den kleinen Jasper vor, der erstmal nachsehen soll, ob die Luft rein ist. Als er uns schließlich zuwinkt und dann im Stall vom Drebber verschwindet, um Elias wieder abzuliefern, lenken wir unsere Pferde direkt zum Stalltor von Klaas und bringen sie dort wieder unter. Wir greifen unser Gepäck und machen uns auf zur Kate von Anna. Es ist still im Dorf. Die Bauern, Knechte und älteren Söhne sind auf den Feldern zum Pflügen, die Frauen und Mägde sind noch dabei, die wilde Wüterei von gestern aufzuräumen. Selbst die Kinder spielen nicht auf der Straße. Mir will schon wieder das Herz in die Hose sinken.

Kaum haben wir uns in der Kate wieder eingerichtet, kommt Klaas zu uns. Er hat uns wohl ins Dorf reiten sehen und will uns begrüßen.
„Hannes? Bist du ob'n?"
Während sich meine drei "Könige" am Tisch und auf der Pritsche vor sich hin langweilen, kommt Klaas zu mir auf den Dachboden gestiegen, wohin ich mich besorgt und beschämt zurückgezogen habe, um etwas Schlaf nachzuholen. Und er sieht sehr ernst dabei aus.

„Komm, lass uns hinsetzen."
Intensiv schaut er mich an. Widerwillig richte ich mich auf von meiner Liege und hocke mich zu ihm an den Niedergang, wo wir unsere Beine baumeln lassen. Unten knuspern Zick und Zack im Stroh vor sich hin, ab und zu goggelt ein Huhn. Klaas sieht ernster aus, als ich ihn je gesehen habe.
„Hannes, ... Ik weiß, dat niemand anners hier es wag'n wird, dir dat zu vertell'n. Sie hab'n alle viel zu viel Respekt vor Deiner Herkunft, von der du selbst ja gar nischt wissen willst. Also isses wohl meine Aufgabe. Du musst mir aber bitte glaub'n, dat mir dat überhaupt keen Spaß macht."

Erstaunt schaue ich ihn an. Hatte ich eben noch freundschaftliches Gemecker erwartet? Das klang viel ernster als die Standpauke von einem Freund. Und viel wichtiger.
„Wenns nach uns geit, reitest du zurück nach Duderstadt oder direkt nach Salzderheld'n. Fortschick'n lass'n wirst du dich aber wahrscheinlich nich. Dürfen wir dich darum bitt'n, ab jetzt wenigstens absolut die Füße stillzuhalt'n? Bleib hier drinn'n, auch die Kinner dürf'n dich nich seh'n. Und wart bitte geduldig ab. Dat kann Tage dauern. Im Grunde wiss'n wir selbst nicht, worauf wir wart'n."

Ich will protestieren, weil ich das so sinnlos finde, aber Klaas würgt mich ungewöhnlich ernst ab.
„Wenn wir woll'n, dat Anna dort weiterhin sicher is, hab'n wir nur twee Möglichkeit'n. Entweder wart'n wir die Hochtied ab und hoff'n, dat Anna dann einfach wieder geh'n darf. Oder wir erreich'n was auch immer, dat dafür sorgt, dat der Brudenhus'n un der Hauser so plötzlich un so gründlich eingesackt werd'n, dat'se keine Tied zur Flucht oder zu irgendwelch'n Gemeinheit'n hab'n."
„Aber..."
„Hannes, hör mir zu. Dat erste woll'n wir alle nich. Dat Zweite hast nur du inner Hand. Es ist noch genau ein Monat. Bis dahin kannst du nach Salzderheld'n reit'n, mit eener Schar Soldaten un einem Schreib'n des Herzogs zurück sien un dem furchtbar'n Treib'n dort een Ende bereit'n. Bitte – es fällt mir nich leicht. Aber: nimm Vernunft an!"

Ich habe ja keine Ahnung. Aber ich bin mir sehr sicher, dass SO noch nie jemand mit mir geredet hat. Das kommt einem Befehl gleich. Und darum geht nun der Zorn mit mir durch, bevor ich nachdenken kann.
„Ich will bei Anna bleiben! Was denkt ihr euch eigentlich!?! Ich bin genug hin und hergeschossen und habe Gespenster gejagt."
Aber Klaas lässt sich gar nicht beeindrucken.
„Gut. Dann wirst du hier auf dies'm Dachbod'n hock'n, dich ununnerbroch'n auf weitere Heimsuchung'n gefasst mach'n, alle paar Tage in den Wald flücht'n un am Ende zuseh'n, wie der Brudenhus'n eene unschuldige Deern in eene betrügerische Ehe zwingt, die du hättest vermeid'n könn'n. ... Wach auf, Hannes!"

Er hat Recht. Ich möchte fluchen und toben. Er hat Recht. Ich hatte mir doch gestern noch vorgenommen, dass ich ab jetzt Verantwortung für mein Handeln übernehmen will. Und doch gewinnt der Trotz in mir die Oberhand. Abrupt stehe ich auf, gehe zu meiner Pritsche und lasse mich – mit dem Rücken zu Klaas – darauf fallen. Ich will mich nicht bevormunden lassen. Ich will nicht hinhören. Ich will nichts einsehen. Ich bin total verrannt in meinem Hirn und hilflos mir selbst ausgeliefert.

Lange ist es still hinter mir. Ich spüre es - Klaas Blick bohrt sich in meinen Rücken. Nach einer halben Ewigkeit seufzt er, steht auf, klettert die Leiter hinunter und geht. Und ich bete, dass ich nicht grade meinen einzigen Freund für immer vergrault habe. Völlig gerädert vom pausenlosen Grübeln und der zerträumten Nacht falle ich schließlich in einen unruhigen Dämmerschlaf.

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11.1.2022

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