66 - Zu Hause in Gieboldehusen

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Sa. 14.9.1571

Bevor die Mädchen sich die Kinder schnappen können, tritt auf einmal Pastor Johann Crüger auf uns zu.
„Liebe, liebe Anna, lieber Hannes! Ja, so war es, dass ihr euch hier kennengelernt und euer Glück gefunden habt, als es andre böse mit euch meinten. Gott schreibt auch auf krummen Wegen gerade, er weiß, was er tut. Und damit ihr das nie vergesst, schenke ich euch eure eigene Bibel. Treu, wie Luther es vorgelebt hat, soll sie eure Hausbibel sein und recht oft auf eurem Tisch landen, damit eure Kinder genauso viel Ehrfurcht und Zuversicht vor dem Herrn lernen, wie ihr es habt. Seid gesegnet!"
Feierlich überreicht er uns ein dickes Buch, eine gedruckte Luther-Bibel. Staunend nehmen wir das kostbare Geschenk entgegen und schlagen es auf. Auf das Vorblatt hat Pastor Crüger eine Widmung und einen Segen für uns geschrieben. Gerührt bedanken wir uns bei ihm.

Peter ist inzwischen auf Gretes Schoß eingeschlafen, und so werden nun endgültig alle kleineren Kinder eingesammelt und in ihre Betten gebracht. Die Fast-Großen und alle Erwachsenen feiern noch bis tief in die Nacht mit uns diesen wunderbaren Tag. Der blinde Jasper spielt mit der Leier auf, und fröhlicher Reigen wird getanzt. Irgendwann verabschiedet sich Pastor Crüger mit den Worten, die er immer bei solchen Festen als letztes sagt.
„Denkt dran, meine lieben Schäfelein. Wer spät feiern kann, kann auch früh zur Kirch wieder aufstehen. Ich wünsche eine gute Nacht."
Wie immer verfehlt der Spruch seine Wirkung nicht, denn den Bauern fällt dann immer ein, dass die Kühe mit dem Melken nicht warten, bis sie ihren Rausch ausgeschlafen haben. Also packen alle mit an, räumen den Dorfplatz auf und nehmen all ihre Schüsseln, Geschirr und anderes Zeug mit nach Hause. Erstaunlich schnell ist es sehr still im Dorf. Da unsere Gäste auch zu ihren Stuben wollen, spazieren wir gemeinsam und zufrieden schweigend zurück zu meinem neuen Haus und sagen einander gute Nacht.

Ganz still und dunkel ist es, als Hannes und ich nun allein in meiner alten Diele stehen. Nur durch das Mondlicht, das zum Fenster hereinscheint, können wir gegenseitig unsere Augen glitzern sehen. Schließlich macht Hannes einen großen Schritt auf mich zu, nimmt mich sehr zärtlich in seine ausgebreiteten Arme und küsst mich sacht.
„Meine Anna!"
„Mein Hannes!"
„Ich kann noch nicht schlafen, obwohl ich furchtbar müde bin."
„Dann lass uns noch ein wenig spazierengehen."
Leise treten wir aus dem Haus, Hannes hüllt mich in mehrere Tücher, und Hand in Hand spazieren wir zur Allmende. Wir schauen zum Mond am Himmel und bestaunen die zahllos vielen Sterne an Gottes großem Firmament. Dann gehen wir endlich auch in unsere Kammer. Die Kinder liegen nun in eigenen Betten, die beim nächsten Besuch dann in ein eigenes Zimmer gestellt werden. Also kuscheln wir uns gemeinsam in mein ..., nein, unser großes Bett. Sanft und geborgen schlafe ich in Hannes Armen ein.


So. 15.9.1571

Nur sehr kurz ist früh am nächsten Morgen die Vorwarnzeit, bevor Jakob und Susanna kichernd auf unser Bett hopsen und uns so ziemlich unsanft wecken.

Es sah ja immer gemütlich aus von meinem Aussichtsturm. Aber wenn die Biester in Gieboldehusen nicht mehr direkt neben uns schlafen, bin ich glaube ich doch froh ...
Mit einem Schmunzeln klappe ich die Augen auf und kitzele Jakob so richtig durch. Von dem Gebrüll wird dann auch Anna wach, die offensichtlich heute mal ihre Kinder einfach überhört hat. Susanna kriecht so schnell wie möglich über Anna und dort unter ihre Decke.

Was ist es schön, wie sehr dieses schüchterne Mädchen aufgetaut ist. Sie hat keine Scheu mehr vor mir, traut sich viel mehr zu.
Anna ist nun zwar halbwegs wach, kuschelt sich aber mit wohligem Aufseufzen und geschlossenen Augen einfach rückwärts an mich und murmelt ein höchst verschlafenes „GutnMorn ..."

Na, da muss ich wohl energisch werden.
Ich drehe sie auf den Rücken und ihr Gesicht zu mir. Ich streiche ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und küsse sie auf die Nasenspitze. Anna brummt genüsslich, lässt ihre Augen zu und streckt mir ihr Kinn und ihren gespitzten Mund entgegen.

Das war dann wohl eine Aufforderung. So kann ich das noch länger aushalten!

Jakob krabbelt nun auch unter die Decke, und schon kichern die beiden kleinen Quälgeister gemeinsam.

Ich sollte schneller sein, das verheißt wahrscheinlich nichts Gutes ...
Schnell schlage ich die Decke zurück und springe aus dem Bett. Jakob stutzt, steht auf und springt mir direkt vom Bett in die Arme.
„Guten Morgen, Vater!"
„Guten Morgen, mein lieber Sohn! Hast du gut geschlafen?"
Nun steht auch Anna auf und holt das Peterchen aus seinem Bett. Zu fünft kuscheln wir uns noch eine Weile zusammen in das große Bett. In Gieboldehusen werden die Kinder zunächst gemeinsam, aber in einem anderen Raum als wir schlafen und Linde bei sich haben, damit sie sich umgewöhnen können.

Nicht bei Anna mit im Bett zu liegen, ist ja ganz ungewohnt für sie.

Während ich mit den Kindern einfach in unseren Nachtgewändern in die Diele tapere und die ganze große Tafel fürs Frühstück decke, höre ich die ersten Geräusche aus dem hinteren Teil des Hauses. Schnell husche ich zurück in unsere Kammer. Anna ist inzwischen angekleidet mit einem der schönen, schlichten Stadt-Kleider und geht darum vor zu den Kindern, während ich mich nun auch ankleide. Vom Flur her höre ich die Stimme von Claras Zofe, die ihr einen Tee kochen will. Der Kammerdiener meines verehrten Herrn Schwiegervater kommt die Treppe herunter und begibt sich zu seinem Herrn, auch Ludos und Karls Kammerdiener tauchen auf.

Eine halbe Stunde später sitzen wir gemeinsam um die lange Tafel und danken für das Mahl. Es gibt Brot und Fleisch von gestern, aber auch den üblichen Getreidebrei, Milch und Tee, frisches Obst, Eier und Milchsuppe. Anna beugt sich zu den Kindern.
„Esst, genießt es. Ihr kennt ja bisher kaum etwas anderes, aber das hier wird in Zukunft selten sein."
Jakob schaut sie groß an.
„In Gieboldehusen haben wir immer was anderes gegessen, wird das dann immer so?"
„Ich weiß es nicht, Jakob. Aber wir können sicher mit dem Koch reden, dass ihr das so gewohnt seid und euch weiterhin wünscht."

Das ist eine seeeeehr guter Idee!
„Ich bin auch dafür! Ich würde das nämlich auch vermissen."
Jakob strahlt mich an. Anna lächelt.
„Na, dann werde ich mich wohl mal in den Keller wagen und unserem Koch beibringen müssen, wie dieser ganz spezielle Getreidebrei gemacht wird. Nicht, dass ihr mir verhungert!"
Die vier Bediensteten sitzen wieder am Nachbartisch auf den Bänken. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, gleich neben der Herrschaft zu sitzen und selbst zu essen, statt ununterbrochen zu springen. Ich schaue die Tafel entlang und fühle mich richtig wohl.

„Sag mal, Bruderherz. Ist dieses feine neue Haus nur für Euch? Oder kann hier auch mal ein überarbeiteter Herzog mit seiner Familie ausspannen?"
Karl lacht sich schief, und auch ich muss grinsen.
„Kein Problem, mein herzallerliebster Bruder. Da du mir das erspart hast, darfst du so oft davonrennen und dich hier verstecken, wie du willst. Die Einladung gilt für alle. Wir werden uns jederzeit über Gäste freuen und sie nicht so schnell wieder fortlassen."
Ich schaue wieder Ludo an.
„Warum? Ist dir schon jetzt zum Weglaufen zu Mute?"

Clara schüttelt den Kopf.
„Nein. Aber ... Ich bin wirklich glücklich, dass eure Lene mir gleich so gut helfen konnte. Und ich weiß nicht, wie die nächsten Monate für mich sein werden. Ich habe von den Hofdamen allerlei Schauergeschichten erzählt bekommen. Ich muss eine gute Hebamme finden. Und wenn ich mich nicht wirklich wohl fühle mit allem dort, dann ..."
Anna greift still nach ihrer Hand.
„...dann ... würde ich glaube ich lieber hier sein, wenn es so weit ist."
„Ich weiß, was du meinst, Clara. Mir ging es damals genauso. Ich habe als fünfzehnjährige bei der Geburt von Jakob daneben gestanden. Und auch für mich war keine Mutter da, als ich soweit war. Meine lieben Nachbarinnen Irmel und Britt haben mir jederzeit geholfen und ganz undramatisch jede Frage beantwortet. Und das sollst du gerne auch haben. Wir können die Lene nicht gut in die Stadt schaffen. Aber solltest du das wünschen, werde ich gerne zu dir kommen und dir beistehen. Du sollst dich auf keinen Fall alleine fühlen."
„Danke, Anna."

Die Diener machen sich nun auf, um das jeweilige Gepäck zu packen, und Anna packt in der Zeit für sich und die Kinder. Ich gehe derweil zu Crügers, denn ich habe da noch eine Frage. Anna hatte mir nämlich erzählt, was sie an Siegurd Crüger bezahlt hat für den Hausumbau. Und ich bin mir sicher, dass das nicht stimmen kann. Ich klopfe an, trete ein und finde auch diese Familie beim Frühstück. Bald ist Gottesdienst, aber ein paar Minuten hat Siegurd Crüger doch für mich.
Wir gehen vors Haus, und ich schaue ihm tief in die Augen.
„Crüger, ich rede nicht lang um den heißen Brei. Was hat das Haus wirklich gekostet?"
Er räuspert sich verlegen.
„Ich ... das war nicht meine Idee. Mein Bruder hat gemeint, das könnte unser Hochzeitsgeschenk für Euch sein."
Ich schüttele den Kopf.
„Euch ist aber schon klar, dass wir Euch wegen der weiten Entfernung nicht weniger sondern sogar mehr zahlen müssten. Und dass allein ich dieses Haus zig Mal bezahlen könnte und noch viel mehr. Ich möchte zumindest sicher gehen, dass das gesamte Material und alle Handwerkerlöhne gut bezahlt sind."
Wieder schaue ich ihn fest an.

Stumm zückt er ein kleines Buch, schlägt es auf und hält mir die Gesamtkosten unter die Nase. Genauso stumm löse ich meinen Beutel vom Gürtel und überlege, wieviel ich ihm geben kann, ohne ihn zu beleidigen.
„Halbe-halbe?"
Er nickt, holt tief Luft und nimmt das Geld an.
„Ich hoffe, ich habe Euch nun nicht verärgert, Crüger. Das war absolut nicht meine Absicht. Aber ich verdanke Euch auch ohne dieses Haus so viel, dass es mir peinlich wäre, Euch nun draufzahlen zu lassen. Ich möchte Euch grade in die Augen schauen können, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen."
Seine Miene entspannt sich. Wir schlagen ein und folgen den anderen, die inzwischen zur Kirche aufgebrochen sind. Ich gehe Anna und den anderen noch ein Stück entgegen und nehme Susanna auf den Arm. Dann betreten wir gemeinsam die Kirche und feiern ein fröhliches Fest mit der ganzen Gemeinde. Nach der Kirche fragt uns Linde, wann sie zu uns kommen soll.
„Pack nur in Ruhe, Linde. Wir holen dich zu Hause ab."
Zufrieden geht sie nach Hause zu ihrer Familie, um die letzte Stunde dort zu verbringen.

Vor unserer Haustür bleibt Anna plötzlich stehen und holt tief Luft.
„Geht schon rein. Ich ... will Abschied nehmen."
Damit macht sie auf dem Absatz kehrt, nimmt ihre drei Kinder und läuft eine Abschiedsrunde durch das ganze Dorf. Ich sehe ihr nach und kann nur ahnen, wie sie sich jetzt fühlt. Zum zweiten mal in ihrem Leben lässt sie alles hinter sich und fängt vollkommen von vorne an. Diesmal hat sie sich das selbst ausgesucht. Ich zweifle keine Sekunde an der Echtheit ihrer Entscheidung. Aber es ist ein großer Schritt, und ich bete im Stillen, dass ich ihr gerecht werden kann bei all dem, was sie schon erlebt hat und nun mit sich bringt.
Kurz sehe ich, dass der Ochsenkarren, der auf dem Hinweg schon vorausgefahren war, nun schon aufbricht, mit den beiden kleinen Pferden hintendran. So müssen sie mit ihren kurzen Beinen nicht ganz so schnell laufen, wie wir fahren werden. Begleitet wird er von Bauer Freese, der gleichzeitig aufbricht. Dann gehe ich ins Haus, wo nun rege Geschäftigkeit herrscht.

Es dauert eine ganze Weile, bis Anna mit den Kindern wiederkommt. Sie ist sehr still, und ich kann sehen, dass sie geweint hat. Also nehme ich sie in einem unbeobachteten Moment einfach fest in die Arme.
„Das war jetzt schwer. Aber du wirst immer hier einen Platz haben, und sie werden dich nie aus ihren Herzen lassen. Du verlässt nicht dein Zuhause. Du hast jetzt zwei Zuhause."
Anna nickt nur stumm und lehnt sich an mich. Nach einem Moment wird sie ruhiger, und wir gehen wieder zu den anderen. Die Kinder flitzen schon wieder ganz aufgeregt zwischen unseren Beinen hin und her. Susanna tanzt und summt verträumt die Vogelhochzeit. Jakob feuert sein imaginäres Pferdchen Lustig an, damit es mich auf Hurtig überholt.

Schnell schnappe ich mir den Wirbelwind und halte ihn fest.
„Jakob? Hier ist grade Aufbruch, und alle versuchen, sich darauf zu konzentrieren. Könntest du draußen toben, und das, ohne dich dreckig zu machen? Sonst rennst du noch jemand um, und dein Großvater steht so schnell nicht wieder auf."
Erschrocken schlägt er sich die Hand vor den Mund und hockt sich ganz schnell auf die eine Bank.
„Weißt du eigentlich, wie wundervoll du bist? Du bist ein wilder Wirbel und verschenkst ganz viel Freude. Aber du weißt immer im richtigen Moment, wenn es Zeit ist aufzuhören. Das ist etwas besonderes."
Der kleine Mann schaut etwas weniger erschrocken und wartet nun geduldig ab.

Kurz darauf kommt Konrad mit den gesattelten Pferden. Ich sehe, dass die Kutsche vom Drebber nun bei Ferzens hält und Linde grade einsteigt.
„Es geht los, ihr Lieben!"
Anna dreht sich noch einmal um sich selbst und fährt versonnen mit der Hand über den alten Tisch. Dann richtet sie sich auf, lächelt mich an und geht mit dem Peterle auf dem Arm nach draußen. Das Gepäck wird verladen, die verschiedenen Personen werden auf die Kutschen verteilt und schließlich rollen wir langsam aus dem Dorf. Einige Kinder tauchen auf und folgen uns winkend bis zum Waldrand, Jakob und Susanna winken zurück. Anna dreht sich nicht um. Sie nimmt nur still meine Hand.

Ja, Anna. Ich bin da. Halt dich fest.

Drei Stunden später haben wir nicht nur den langsamen Karren mit den beiden Pferdchen der Kinder überholt und Bauer Freese noch einmal zugewunken sondern rollen schon auf das Stadttor zu. Wir zucken etwas zusammen, als die Stadtwache völlig entgegen ihrer Gewohnheit laut die Trompeten bläst. Karl lacht.
„Na, wenn das mal nicht ein Warnsignal für wen auch immer war. Hier wird es munter weitergehen mit den Überraschungen."
Kurz darauf fahren wir am Schloss vor, wo die gesamte Dienerschaft in frisch gestärkten Gewändern in einer Reihe steht und auf uns wartet. Vornean stehen Frau Jansen und Herr Barkhausen und gratulieren uns im Namen der Dienerschaft. Am anderen Ende stehen der Bader, Maier und von Thaden und gratulieren uns ebenfalls. Gemeinsam betreten wir die große Halle und verteilen uns erstmal auf unsere Zimmer, bevor wir in einer Stunde gemeinsam zum Mahl erscheinen wollen. Die Kinder sausen sofort die Treppe hinauf. Aber anstatt gleich im Spielzimmer zu verschwinden, dreht Jakob sich oben plötzlich um, breitet seine Arme aus und ruft zu uns runter.
„Jetzt sind wir zu Hause in Gieboldehusen!"
Und schon ist alle Ernsthaftigkeit vertrieben, denn die gesamte Halle voller Menschen fängt an zu lachen. Als es Abend wird, plaudern wir nicht mehr lange nach dem Mahl. Die letzte Nacht war kurz, und morgen Abend ist das nächste Fest.

Das nächste Fest

Mo. 16.9.1571

Zur Zeit wird auch auf den gutseigenen Feldern die Ernte eingefahren. Alle Verschönerungen und Renovierungen am und im Schloss sind abgeschlossen. Alle Handwerker haben weiterhin viel zu tun, denn auch in der Stadt wird manches Dach abgedichtet, manches Haus herausgeputzt. Der große Saal ist kaum wiederzuerkennen. Nachdem alle Scheußlichkeiten verkauft waren, konnte man schon sehen, wie groß der Raum ist. Aber nun sind die Wände mit heller Seide bespannt, schwere Vorhänge in sanftem Goldgelb rahmen die Fenster und zahllose Kristallleuchter sind verteilt, um den Raum zu erleuchten. Scheinbar wahllos sind kleine Sofas, zierliche Stühle und ein paar kleine Tische an den Wänden und in den Fensternischen verteilt.
Durch die hohen Fenster scheint die Morgensonne und taucht alles in ein klares Licht. Das Wetter ist stabil und beschenkt auch unser zweites Fest mit Wärme. Anna nickt zufrieden und öffnet weit die Flügeltüren aller Gesellschaftsräume im Erdgeschoss. Durch die Halle miteinander verbunden werden sich unsere Gäste heute Abend so von Raum zu Raum bewegen können, im Damenzimmer ein Schwätzchen halten, im Speisesaal von den Köstlichkeiten naschen und sich im großen Saal zur Musik im Reigen bewegen können.

Klaas hat in seinem Gästezimmer mehrere ganz einfache Anzüge vorgefunden, die Frau Bünte nach seinen Maßen noch genäht hat, und gute Schuhe. Nachdem er gestern den halben Tag so herumgelaufen ist, fühlt er sich heute schon viel wohler darin und kann sich zumindest unter uns gelassen bewegen. Nur die von Bottlenberg-Schirps sind gestern Abend bereits eingetroffen. Alle anderen Gäste erwarten wir ab dem Nachmittag. Sie werden hier im Schloss oder in einer der Herbergen in der Stadt wohnen.
Die Küche des Schlosses brummt schon seit vorgestern wie ein Bienenstock, denn zu meinem Koch sind mehrere weitere Hilfsköche engagiert worden. Unmengen der leckersten Speisen türmen sich in den Speisenkammern. Auch Stallburschen, Diener und Mägde sind extra ins Schloss geholt worden, um für alle Gäste und alle Gelegenheiten genug Hände zum Anpacken zu haben. Laufburschen bringen ettliche Gestecke und Vasen voller herrlicher Blumen und verteilen sie auf die Räume. Die Musiker treffen ein und bauen in einer Ecke des Saales ihre Instrumente auf.

Jakob und Susanna haben heute ihre erste „Reit"stunde bei Konrad – sie lernen einiges über Pferde und ihre Pflege, bei Susanna versucht Konrad vor allem, ihr die Scheu vor dem Tier zu nehmen. Sie erfahren, was die Tiere essen dürfen, und was auf keinen Fall. Und nachdem sie gemeinsam mit Konrad ihre Pferdchen gesattelt haben, führt er erst Jakob und dann ganz vorsichtig Susanna ein paarmal um den Hof. Auch das Absatteln und Trockenreiben vergisst er nicht. Die Kinder sollen sich sofort daran gewöhnen, dass das dazugehört.
Nach dem einfachen Mittagessen ruhen sich die meisten Erwachsenen ein wenig aus, während Linde mit den Kindern zum Christophorushaus spaziert. Karl nimmt sich die Zeit und besucht unsere sechs tapferen Landsknechte vor der Schlossmauer, um zu sehen, ob er ihnen etwas Gutes tun kann. Ich selbst bekomme allerdings nicht viel Ruhe, denn nach und nach treffen die Gäste aus den umliegenden Lehen hier ein und wollen begrüßt werden. Eine Schar eifriger Diener führt die Gäste in ihre Zimmer, wo sie sich bald für das Fest heute Abend gewanden werden.

Aber dann ist es doch endlich soweit. Gemeinsam mit Anna gehe ich die große Treppe herunter in die Halle, wo wir all unsere Gäste empfangen. Auch die Gäste aus den Herbergen und die Honartioren aus der Stadt treffen nun ein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Karl sich an Klaas klemmt und ihm zur Seite stehen wird. Als Gastgeber kann ich das heute Abend schlecht tun, und er soll sich doch auch wohlfühlen.

Die Diener verteilen Gläser, und als schließlich alle versammelt sind, bedanke ich mich bei allen Gästen, dass sie unserer Einladung so zahlreich gefolgt sind. Sehr weit komme ich damit allerdings nicht, denn plötzlich kommt unser Wirbelwind Jakob zum Portal hereingeweht. „Mutter, Vater, ihr müsst alle rauskommen!"
Der eine oder andere Gast kuckt zwar etwas befremdlich, aber es sind genug darunter, die Jakob schon kennen und sich deshalb automatisch in Bewegung setzen. Anna und ich gehen voraus und bleiben auf der untersten Stufe der Treppe stehen. Unsere Festgäste stellen sich einfach überall auf die breite Treppe. Alle Augen richten sich auf die Allee, wo sich zwei Schlangen von Kindern auf uns zubewegen.

Als sie näher kommen, sehen wir, dass rechts die Kinder vom Christophorus-Haus laufen, zusammen mit den Hannovers, Susanna und Linde. Die Jüngsten sitzen gemeinsam mit dem Peterchen in einem Bollerwagen. Gleich daneben laufen einige Kinder aus der Stadt, die angeführt werden von den Brüdern Weise. Sie stellen sich vor uns in einem großen Halbkreis auf, die Größeren hinten, die kleineren vorne und verbeugen sich vor uns und knicksen.

Die Hannovers treten vor, und Jochen Hannover räuspert sich nervös.
„Hoher Herr, ich glaube, es gibt keinen einzigen Menschen im ganzen Lehen, der dieser Tage nicht froh ist, dass Ihr und Eure verehrte Frau Gemahlin nach Gieboldehusen gekommen seid. Und so wünschen wir alle Euch zur Vermählung alles Gute und Gottes Segen. Wir freuen uns darauf, sehr viele Jahre hier zu leben und uns sicher und gerecht behandelt zu wissen. Ganz besonders diese Kinder sind so glücklich, dass sie erlöst wurden, dass sie sich heute mit einem Lied bedanken wollen."
Nach diesen etwas steifen Worten dreht er sich zu den Kindern.
Friedrich Weise tritt vor.
„Hoher Herr, hochverehrte Gäste. Dies sind die Kinder, die ab Oktober in Eure Schule gehen werden, um fleißig zu lernen und fürs Leben gerüstet zu werden. Auch wir alle haben Euch schon jetzt so viel zu verdanken. Gott segne Euch und Eure Familie."
Damit dreht er sich um zu den Kindern, die ihn ganz gebannt anschauen. Er summt einen Ton und dirigiert dann den Gesang aus vielen Kinderkehlen. Klare Stimmen und helle Freude sind zu hören.

Als der Gesang verstummt, geht Anna die letzte Stufe hinunter. Da kommt von der Seite Almuth Jansen und reicht ihr einen Korb. Anna schaut kurz hinein und lächelt, dann geht sie vor den Kindern in die Hocke.
„Ich danke euch sehr, sehr für euren wunderschönen Gesang. Das ist ein großes Geschenk Gottes, dass wir Menschen singen können. Ich habe mein ganzes Leben lang gesungen, wenn ich traurig oder fröhlich war, wenn ich müde oder wach war, im Alltag, am Sonntag. Singen ist das Gebet der Seele. Danke für euer wunderschönes Lied."
Kurz schaut sie nacheinander die Kinder an. Dann greift sie in den Korb und holt einige gedrehte Papiertütchen hervor. Sie schnuppert daran.
„Also, wenn ich das so rieche ... ich glaube nicht, dass auch nur eines von euch das nicht haben möchte."
Neugierig kommen die Kinder näher, Anna geht an der langen Reihe entlang und gibt jedem Kind ein Tütchen. Als das erste in seine Tüte hineingelunzt hat, bricht es in Jubel aus.
„Karamellen! Danke!"
Schließlich kommt Anna mit dem fast leeren Korb wieder zu mir.

Da treten Ulla und Onno aus dem Christophorus-Haus auf uns zu. Sie tragen gemeinsam einen großen Korb mit Gemüse, Früchten und Kräutern. Mutig reckt Onno das Kinn.
„Das möchten wir Euch schenken, Herr ... und ... Anna. Das sind alles Früchte aus unserem Küchengarten und von unserem kleinen Feld. Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit. Wir sind so glücklich, dass Ihr da seid."
Sie kommen auf uns zu und überreichen uns den Korb. Neugierig schauen wir hinein und loben die reifen Früchte. Während Ulla und Onno sich wieder bei den anderen einreihen, treten zwei der Kinder aus der Stadt vor.
„Wir haben mit unseren Lehrern etwas geschrieben für Euch, Herr und Herrin."
Sie holen hinter ihren Rücken zwei kleinere Bilderrahmen hervor, in denen kunstvoll geschriebene Worte stehen. Anna und ich nehmen die Rahmen entgegen und betrachten sie. Anna liest einfach laut vor.
„Ein feste Burg ist unser Gott. Martin Luther."
Das ist eine schöne Idee, also lese auch ich meinen Vers laut.
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Psalm 23."
Ich schaue Anna an, und sie weiß sofort, wo sie diese beiden Verse aufhängen möchte.
„Lass uns diese weisen, gütigen Worte in der Halle rechts und links neben das Portal hängen, Johann. Wann immer wir durch die Halle gehen oder das Haus verlassen werden, können wir uns so daran erinnern, dass wir in Gottes guter Hand geborgen sind."
Sie wendet sich noch einmal zu den Kindern.
„Habt alle ganz herzlichen Dank. Ihr habt uns reich beschenkt. Es ist schön, dass es euch in unserer kleinen Stadt gibt."

Die Kinder strahlen und fangen an zu winken. Dann rufen sie alle ganz laut durcheinander: „Herzlichen Glückwunsch!"
Schnell haben sie sich wieder in den zwei Reihen aufgestellt und wandern nun, immer noch fröhlich winkend, die Allee entlang nach Hause. Nur Linde, Peter und Susanna bleiben natürlich da. Linde schnappt sich auch Jakob und geht zügig mit den drei Kindern zum Wirtschaftshof, damit sie dann über die Hintertreppe nach oben gelangen können. Oben wird sie die Kinder festlich gewanden und zu uns herunterbringen. Sie werden nicht lange hier dabei sein, aber diesmal sollen sie doch wenigstens ein bisschen was mitbekommen, bevor sie ins Bett gesteckt werden.
Auch wir wenden uns nun wieder dem Haus zu und gehen gemeinsam mit unseren Gästen zurück in die Halle. Ich gehe einfach vorneweg in den Speisesaal und lade alle ein, sich zu bedienen.

Bald schon sind alle Gäste versorgt und sitzen an den kleinen Tischen oder schlendern mit einem Glas in der Hand durch die Räume. Nun haben auch Ludo, Karl, Anna und ich die Gelegenheit, einzelne unter den Gästen richtig zu begrüßen und das eine oder andere Wort zu plaudern.
Die von Bottlenberg-Schirps erkundigen sich nach den Kindern, Karl erzählt dem Graf von der Kattlenburg, wie die Geschichte nach unserer Abreise von dort weitergegangen ist. Dabei lässt er Klaas nie alleine und stellt ihn gleich als einen meiner Retter vor. Die Herzberger nutzen die Gelegenheit, um mit Ludwig kurz über eigene Angelegenheiten zu beraten. Manche, die schon lange Nachbarn sind, plaudern vergnügt über den neuesten Tratsch aus ihren Dörfern. Und alle sehen zufrieden aus.
Auch der Stadtvogt, der hiesige Pastor, Gunther von Thaden, Gert Maier und der alte Adam haben sich in Schale geschmissen, unter die Gäste gemischt und schnell Gesprächspartner gefunden. Vor allem, dass Maier sich hier so selbstverständlich bewegen darf, tut ihm sichtlich gut. Er ist mutiger geworden, sein Auftreten ist sicherer, er ist ein guter Zuhörer und hat etwas zu sagen.

Da steht auf einmal der alte von Brabeck neben mir.
„Du siehst aus, mein lieber Schwiegersohn, als wärst du ein König, der auf den Zinnen seiner Festung steht und zufrieden über sein Reich blickt."
Wir müssen beide leise lachen.
„Ich bin wirklich stolz auf dich. Du beschreibst dich selbst als flatterhaft und unreif. Aber hier hast du mit sicherer Hand die richtigen Menschen um dich geschart und in sehr kurzer Zeit sehr viel erreicht. Du hast Frieden für dein Lehen und ein Zuhause für deine Familie geschaffen. Wenn ich sehe, wie Anna strahlt, bin auch ich restlos glücklich."

„Darf ich bitten?"

Mo. 16.9.1571

Bald darauf kommen Jakob und Susanna Hand in Hand die große Treppe herunter. Sie halten nach Anna Ausschau und gehen zu ihr. Clara gesellt sich dazu, und gemeinsam suchen sie für die Kinder etwas zu essen aus. Sie setzen sich an einen der kleinen Tische. Manch einer der Gäste schaut fragend zu Anna, und wie in Salzderhelden können einige ihre Neugierde nicht bremsen. Ludo, Karl, die von Bottlenberg-Schirps und sogar Klaas müssen herhalten, um die allgemeine Neugierde zu befriedigen.
Da fällt mir etwas ein. Ich gehe nach nebenan ins Herrenzimmer, wo sich Gunther von Thaden und Gert Maier befinden.
„Hab ich Euch eigentlich schon erzählt, dass ich bei den Hochzeitsfeierlichkeiten meines Bruders eine nette Begegnung mit Euren Eltern hatte?"
Beide schauen mich fragend und etwas unsicher an. Also erzähle ich ihnen, wie Jakob im Nachthemd mitten durch die Ballgesellschaft geflitzt ist und dabei laut „Mutter!" gerufen hat, nachdem sie schon als meine Verlobte präsentiert worden war. Und wie man daraufhin die Sensationslust im Saal geradezu riechen konnte.

„Ich hoffe, ich habe nichts Verbotenes getan. Als Eure Eltern versuchten, mich auszufragen, habe ich sie von ihren Söhnen gegrüßt. Ich vermute, Sie haben Ihre Mutter noch nie sprachlos gesehen."
„SöhnEN? Auwei! Ganz rotes Tuch. Nein, Herr, das macht gar nichts. Wir sind ja jetzt außerhalb ihrer Reichweite."
„Sprachlos? So richtig? Das ich das noch erlebe! Dass jemand mich einfach als Sohn des Hauses bezeichnet. Ich hätte eher erwartet, dass sie Gift und Galle spuckt."
„Hmmmmm - nein. Sie hat Euren Vater ans andere Ende des Saales in eine Ecke gezerrt und für den Rest des Abends nichts mehr gesagt außer 'guten Tag' und 'auf Wiedersehen'. Anna und ich konnten uns eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen."

Wieder ist es Jakob, der die Bombe platzen lässt. Denn nach einer Weile hören wir leise Musik durch die Halle wehen, und kurz darauf kommt Jakob angeflitzt.
„Vater, ich soll dich holen. Mutter möchte tanzen!"
Rums – noch mehr als schon heute Nachmittag fliegen alle Köpfe zu uns herum. Gunther und Gert begreifen sofort, was ich gemeint habe, und fangen an zu lachen. Karl und Klaas kamen eben zur Tür herein und brechen bei diesem Anblick ebenfalls in schallendes Gelächter aus.
„Ich glaube, lieber Freund, so langsam solltest du mal eine offizielle Version präsentieren, bevor das gesamte Herzogtum euch beide der Hurerei und Unzucht bezichtigt."

Allmählich habe ich auch das Gefühl, dass Karl damit recht haben könnte. Ich rede kurz mit von Brabeck, der muss ja auch einverstanden sein.
Ich suche meinen Schwiegervater, der sowieso gerade bei Anna in der Halle steht. Eine kurze Unterredung – und dann begeben wir uns in den großen Saal, um den Ball zu eröffnen.

Ich stelle mich zu den Musikern auf das kleine Podest, winke meine ganze Familie zu mir, warte noch ein paar Minuten und wende mich dann an unsere hereingeströmten Gäste. Anna und ihr Vater stehen neben mir, Jakob direkt vor mir.
„Hochverehrte Gäste! Darf ich Euch vorstellen? Das hier ist Jakob. Jakob ist sechs Jahre alt und der älteste Sohn meiner Gemahlin. Wie es dazu kam, möchten wir nun doch erklären, damit es keine Gerüchte im Herzogtum gibt."

Mein Schwiegervater übernimmt.
„Im Jahre des Herrn 1548 heiratete ich meine erste Frau, Magdalena von Lenthe, jedoch gegen den Willen unserer Eltern. Sie ließen nach wenigen Monaten diese Ehe annulieren und trennten uns. Meine geliebte Magdalena ging allerdings nicht ohne ein Andenken von mir. 1549 wurde dieses Andenken, ich betone: Kind einer legitimen Ehe, geboren. Meine Tochter Anna von Brabeck-Lenthe. Ihre Mutter übernahm hier in Gieboldehusen die Leitung des Waisenheimes und zog Anna selbst auf, durfte ihr aber nie erzählen, dass sie ihre Mutter oder wer ihr Vater ist."
Er zieht Anna zu sich und lächelt sie an.

Dann spricht Anna weiter.
„Ich wuchs in behüteter Umgebung und mit guter Bildung auf, dachte aber immer, ich sei eine Vollwaise. Als meine Mutter starb und eine neue Leitung das Heim übernahm, wurde ich als Magd in Stellung bei einem Bauern gegeben. Wenige Monate später starb die Bauersfrau kurz nach der Geburt von eben diesem Jakob. Er kennt keine andere Mutter als mich, und für mich ist er wirklich mein Sohn. Als das Trauerjahr vorüber war, heiratete der Bauer mich. Mir wurden Susanna und Peter geschenkt, die Ihr heute Nachmittag bereits erlebt habt. Auch sie sind Kinder einer legitimen Ehe. Mein Mann starb und ich war bis vor drei Tagen die Witwe Anna Adam."
Susanna kommt an Claras Hand herbei und schmiegt sich an Annas Rock.

Das ist mein Stichwort. Ich muss etwas schmunzeln, denn die Anwesenden lauschen so gespannt, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
„Als ich im November auf dem Weg zu meinem Lehen hier im Wald überfallen wurde, landete ich schwer verwundet zufällig in Annas Kate, weil sie das erste Haus am Waldrand war. Anna hat mich mit Hilfe des gesamten Dorfes gesund gepflegt. Ich hatte mein Gedächtnis verloren und musste warten, bis mein Freund aus Kindertagen, Karl von Pagenstecher, mich fand und nach Hause brachte. Mein Bruder Ludwig von Grubenhagen übernahm von mir die Herzogenwürde, denn ich konnte mir nach den Monaten im Dorf nicht mehr vorstellen, Herzog zu sein."

Wieder übernimmt Anna.
„Aber erst, als im Waisenhaus eine Schatulle gefunden wurde, zu der ich mein Leben lang den Schlüssel um den Hals getragen habe, konnten wir entdecken, wer ich in Wahrheit bin. Die Schatulle und der darin befindliche Brief meiner Mutter an mich waren mein Erbe, das mir all dioe Jahre vorenthalten worden war. So haben wir meinen Vater gefunden, und ich habe endlich meinen richtigen Namen bekommen. Anna Teresa von Brabeck-Lenthe. Und erst jetzt konnte aus Fürsorge und Dankbarkeit Liebe erwachsen."

„Im Grunde habe ich gestern also eine ganze Familie geheiratet – meine wunderbare Gemahlin, ihre drei bezaubernden Kinder und einen weisen und gütigen Schwiegervater, der uns noch lange erhalten bleiben möge."
Wie nicht anders zu erwarten, kräht nun Jakob dazwischen.
„Genau. Und deshalb habe ich jetzt endlich einen Vater!"

Neugierde, Sensationslust und Irritation lösen sich in Gelächter auf. Wieder hat Jakob es geschafft und einfach alle Anwesenden verzaubert. Wir haben den Nachbarn nun Gesprächsstoff für Jahre geliefert. Aber immerhin wissen sie nun die etwas verkürzte Wahrheit, und an keinem von uns haftet irgendein Makel, der bei Gerüchten mit Sicherheit entstanden wäre.
„Solltet Ihr also in den nächsten Jahren irgendwo ein Gerücht hören, dass diese Kinder nicht gewollt oder unsere Ehe nicht standesgemäß sei – Ihr wisst nun die Wahrheit und könnt jedermann erzählen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Und jetzt wollen wir endlich tanzen!"

Die Musiker in meinem Rücken hören ihr Stichwort und beginnen einen schwungvollen Reigen. Einige Tanzpaare stellen sich auf, und bald schreitet und dreht sich, wer immer noch gesunde Beine hat, zur Musik. Clara tanzt mit Ludo, Karl führt die hübsche Tochter von Herzberg zum Reigen, Jakob hat sich Susanna geschnappt und hopst mit ihr höchst phantasievoll in einer Ecke des Saales umher – und ich habe nur noch Augen für Anna.

Meine Anna, mit der ich von nun an mein Leben teilen darf, die von nun an mit ihrer Gelassenheit, Zuversicht und Weisheit meine Schritte lenken wird, wenn ich mal wieder auf gedankliche Abwege gerate oder mich in meinen Plänen verirre.

Natürlich wird nun im Verlaufe des Abends viel getuschelt und geredet. Aber alle Mienen sind freundlich. Als Jakob und Susanna ins Bett gehen sollen, winken ihnen alle wohlwollend nach. Und meine Vertrauten berichten hinterher nur von freundlichen Worten zu Annas bewegtem Schicksal und ihrem Glück, mit ihrem Vater vereint zu sein. Wie wohlerzogen die Kinder sind, dass man Anna ihre Herkunft als Waise nun wirklich nicht anmerkt, weil sie eine bezaubernde Gastgeberin und angenehme Gesellschaft ist, ...

Ja, da habt ihr recht. Der liebende Herrgott musste sich zeitweilig ganz schön ins Zeug legen, dass am Ende alles so wunderbar auskommen konnte. Auf dem langen Weg von November bis jetzt haben wir so einige Wenn's und Weil's überwinden müssen.

Der festliche Abend nimmt seinen Lauf. Das Erdgeschoss mit all den offenen Türen und verschiedenen Räumen sorgt dafür, dass jede und jeder sich wohlfühlt und kein Gedränge entsteht. Da es noch immer warm ist, werden vom Damenzimmer aus die Türen in den Park geöffnet, wo manche zwischen den vielen kleinen Laternen spazieren, um sich kurz zu erholen. Doch bald schon finden sich alle zum nächsten Reigen ein.

Als Anna und ich kurz zum frische Luft schnappen nach draußen gehen, ist es inzwischen kühler, und ich lege ihr sogleich meine Jacke um die Schultern.
„Nun kann das Abenteuer beginnen, meine Liebe!"
„Ich weiß gar nicht, Hannes. Eigentlich hat es im November begonnen, als du zu meiner Tür hereingestolpert bist. Wir waren miteinander traurig und fröhlich, haben das wenige Brot geteilt, haben uns gestritten und wieder vertragen, sind durch Sturm und Schnee und Angst und Verfolgung miteinander gegangen. Wir haben Susanna im Fieber abwechselnd getragen, gemeinsam dich wiedergefunden und gemeinsam den Brudenhusen vertrieben. Ich glaube, wir sind schon mittendrin."
Ich bleibe im Schatten eines Busches stehen, ziehe sie in meine Arme und gebe ihr einen zärtlichen Kuss.
„Da hast du auch wieder recht. Wir sind schon lange eine Familie. Ohne dich und unsere Kinder könnte ich gar nicht mehr sein."
„Weißt du eigentlich, wie glücklich mich dieses 'unsere Kinder' macht? Jakob hat vom ersten Tag an von dir erlebt, dass er dazu gehört. Wie stolz er dich 'Vater' nennt."
Anna zittert ein wenig, und so wenden wir uns zurück zum Schloss.
„Jakob ist wundervoll. Er muss einfach erfahren dürfen, dass er geliebt und gewollt ist. Ich finde es schade, dass ich seine Eltern nicht kenne. Du siehst sicher immer wieder in ihm, was ihm mitgegeben wurde, weil du die Eltern kanntest."
„Ja, manchmal. Aber vor allem sehe ich an ihm und den anderen beiden, dass wirklich jeder Mensch einzigartig und wunderbar geschaffen ist. Dass man keine zwei Menschen über einen Kamm scheren und gleich behandeln kann, weil ein jeder und eine jede ein ureigenes Wesen haben."

Bis tief in die Nacht dauert unser Fest. Es ist ganz anders als das Fest in Lütgenhusen, aber ich möchte keines von beiden missen. Nach und nach verabschieden sich dann unsere Gäste, um zurück in die Stadt zu fahren oder einfach nach oben in ihre Gemächer zu gehen. Auch die Musiker packen ihre Instrumente ein, und ein paar müde Diener schaffen alle Unordnung in den großen Saal, damit die Halle und die anderen Räume morgen wieder präsentabel sind. Doch bald schicken wir auch diese ins Bett.
Nun stehen wir alleine im Dunklen Saal und lassen die Musik in uns nachschwingen. Verträumt dreht Anna sich im Kreis. Leise steigt eine Frage in mir auf, deren Antwort ich eigentlich schon kenne. Ich wage nur zu flüstern, um den Zauber des Augenblicks nicht zu brechen.
„Bist du glücklich, Anna?"
Anna bleibt stehen, öffnet ihre Augen und schaut mich an.
„Ja, Hannes. So glücklich, wie ein Mensch nur sein kann. Mein ganzes bisheriges Leben hat mich vorbereitet auf ein Leben mit dir. Ja, ich bin glücklich."

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3.3.2022

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