093 - „Ich will aber!" - Palmsonntag, 8.4.1571

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Glücklich bin ich am Samstag nach Hause gekommen und habe meine Kinder begrüßt. Und doch bin ich schweren Herzens ins Bett gegangen, weil mein kleiner Jakob den Knecht Hannes so sehr vermisst - den Knecht, der nie wieder kommen wird. Dann kam der Sonntag, ich bin in unsere kleine Dorfkirche gegangen und habe mich in der Gemeinschaft gleich wieder so wohl gefühlt. Dankgebete sind aus meinem Herzen geströmt für all das, was uns und mir in den letzten Wochen an Güte und an Bewahrung und an treuen Freunden geschenkt wurde. Und so ging es in den nächsten Tagen immer weiter. Trauer und Glück, Sorge und Gottvertrauen lagen ununterbrochen so dicht beieinander, dass es mich viel Kraft gekostet hat, immer weiter vorwärts zu gehen. Steuern oder Stickereien würde mit Sicherheit in absehbarer Zeit niemand von mir fordern, aber die Tage waren auch so schon erfüllt genug.

Gleich am Sonntag Nachmittag bin ich gemeinsam mit dem Vogt ins dritte Lehnsdorf nach Wollershusen gefahren, um auch dem dortigen Vogt endlich alles zu berichten, was in den letzten Monaten war, und warum sein Dorf so mit dem Hauser zu kämpfen hatte. Der Mann war ehrlich erleichtert zu hören, dass die Heimsuchungen nun ein Ende haben werden. Er hat Hannes ja nie gesehen, aber er hat sich sehr gefreut, dass nun im Lehen Ruhe und Gerechtigkeit einkehren werden.

Kaum sind wir wieder zu Haus, mache ich mich auf den Weg hinauf zur Mühle. Britt liegt im Bett, ist fiebrig und schwach, Lene sitzt bei ihr, hat ihr Spinnrad mitgebracht, vertreibt sich die Zeit, während sie gemeinsam mit Britt wartet.
„Ach, Britt. Dein Kleines sucht sich nicht grade den einfachen Weg ins Leben! Gott behüte dich. Ich bin nun wieder da und will dir gerne deinen Haushalt abnehmen, damit Irmel das nicht mehr alles allein tun muss. Du sagst mir immer, was nötig ist, und kannst mir auch jederzeit einen der Jungs schicken, dass sie mich holen, ja?"
Britt schaut mich dankbar an, aber ich sehe auch die Angst in ihren Augen, ob sie das wohl überleben wird.

Meine beiden Kleinen sind sehr anhänglich. Sie haben sicher Angst, dass sie die Mutter bald schon wieder verlieren könnten. Darum folgen sie mir auf Schritt und Tritt - die eine läuft, der andere krabbelt - und wollen immer mittun. Ich muss sie überall hin mitnehmen, sonst gibt es sofort großes Geschrei. Daran kann ich sehen, dass auch sie große Angst ausgestanden haben in den drei Wochen. Ich gebe ihnen also ihren Willen, schenke ihnen jede freie Minute und meine ganze Liebe.

Eine ganze schwere Woche lang geht mir Jakob aus dem Weg, redet nicht mit mir, isst kaum, lacht nicht und verkriecht sich, so oft es irgend geht, auf dem Dachboden. Mit seinen kleinen Händen hat er den großen Sack wieder mit Stroh gefüllt und auf die Pritsche gewuchtet. Er hat den kleinen Tisch wieder aufgebaut, den Schemel an einem Seil nach oben gezerrt, mich um Hannes kleine Lampe gebeten. Da hab ich dann doch nein gesagt, weil da ja das Strohdach ist. Bei allem anderen durfte ich ihm nicht helfen. Es bricht mir schier das Herz, ihn so um den großen Freund und Vaterersatz trauern zu sehen.

Nun sitzt er dort bei schlechtem Licht und übt wie ein Besessener Buchstaben auf seiner Schiefertafel, als könne er Hannes damit zurückholen. Immer wieder geht er zum Pastor, fragt, wie man einzelne Wörter schreibt, und übt sie dann noch und noch. Oder er besucht die Lene, weil er da ungestört arbeiten kann. Mich fragt er nicht. Und ich weiß auch gar nicht, wie ich ihm helfen könnte. Ich kann und will ihn zu nichts zwingen. Er muss seine Trauer doch leben dürfen.

Eine willkommene Abwechslung ist am Donnerstag der kurze Besuch von Karl von Pagenstecher. Hannes hat ihn geschickt, damit er von hier aus einen Boten zu Siegfried Crüger nach Duderstadt schicken möge. Hannes möchte sein dort eingelagertes Gepäck haben und seine drei Reisebegleiter von dort anwerben, zu ihm nach Gieboldehusen überzusiedeln. Vogt Drebber entscheidet, Rudolph mit der Reise zu betrauen. Nach einem einfachen aber herzhaften Mahl und vielen Erzählungen über das Dorf hier und Hannes Fortschritte dort macht Karl von Pagenstecher sich wieder auf den Weg zurück. Jakobs Trauer erwähne ich nicht. Ich bin nur froh für Hannes, dass er sein eigentliches Leben zurückgewonnen hat und nun an einer glücklichen Zukunft bauen darf. Auch, wenn diese Zukunft ohne mich stattfinden wird ... Stille Sehnsucht macht sich in mir breit, als der gute Freund sich wieder auf sein Pferd schwingt und mit einem letzten Winken Richtung Rhumaspring im Wald verschwindet.

Ansonsten geht das Leben im Dorf seinen gewohnten Gang. Die Männer pflügen und säen, reparieren Zäune, treiben das Vieh auf die Weiden, auch die Felder des Lehens werden bestellt. Wir Frauen vertreiben den Winter aus unseren Häusern, haben Backtag, wir strecken die letzten Vorräte mit allem, was der Frühling schon wachsen lässt, damit immernoch alle satt werden, und hoffen auf ein gutes Jahr, damit auch im nächsten Winter alle durchkommen werden. Der Frühling schreitet fort, und Ostern rückt näher.

Am zweiten April wird Britt endlich erlöst. In den frühen Morgenstunden drängt das Kind, will auf die Welt. Sie hat hohes Fieber, muss stundenlang kämpfen, Lene muss ihr ganzes Wissen aufbringen, Irmel und ich sind beide die ganze Zeit da, während Mathes mit den beiden Jungs ruhelos um die Mühle streift und Gebete zum Himmel schickt, dass Britt das überleben möge. Einmal sieht es fast so aus, als würden wir sie verlieren. Aber am späten Abend endlich können wir ihr das schreiende kleine Bündel in die Arme legen. Sie weint heiße Tränen der Erschöpfung, aber es ist geschafft. Mathes darf sein Töchterchen kurz sehen, und dann laufen er und die Jungs durchs Dorf, klopfen alle aus den Betten und verkünden, dass Britt und das Mädchen wohlauf sind.

Jakob lernt weiter lesen und schreiben. Sein Eifer hat inzwischen auch seinen kleinen Freund Cristoph, den Sohn der Crügers, angesteckt, und sogar die vier großen Jungs, Siegfried, Jasper, Mathis und Laurenz, versuchen sich daran. Sie haben allerdings viel weniger Ehrgeiz und auch weniger Zeit, weil sie den Vätern schon soviel bei der Arbeit helfen müssen. Da Jakob im Moment auch nicht in die Mühle kann, hat er viel Zeit. Und so kann er schließlich an Palmsonntag, nach nichtmal drei Monaten, das ganze Alphabet schreiben und lesen.

Stolz kommt er vom Pastor nach Hause gelaufen und bei uns zur Tür herein.
„Mutter? Ich kann jetzt richtig schreiben. Ich will Hannes einen Brief schreiben. Er weiß sonst ja gar nicht, dass du ganz traurig bist und dass er wiederkommen soll."
Ich miste grade bei den Ziegen aus und bin froh, dass Jakob darum mein Gesicht nicht sehen kann. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich bin völlig ratlos, was ich nun machen soll.
Woher um Himmels Willen weiß das Kind, dass ich traurig bin? Kann ich denn gar nichts vor ihm verbergen? Ich sollte mich doch um seine Traurigkeit kümmern – und nicht umgekehrt!
„Ja, Jakob. Ein bisschen bin ich traurig, denn Hannes war ein guter Kamerad. Aber viel mehr Sorgen mache ich mir, dass du so traurig bist."
Ich habe mich wieder gefasst, klettere aus dem Ziegenverschlag und hocke mich zu Jakob in den Stallgang.
„Du sehnst dich sehr nach Hannes, hab ich Recht?"
Und endlich, endlich kann der kleine Mann weinen, seine ganze Enttäuschung rauslassen und erzählen, wie sehr er den Knecht Hannes doch vermisst.

„Weißt du, Hannes hat zur Zeit furchtbar viel zu tun. Grade ist er gar nicht in Gieboldehusen sondern weit weg, daheim in Salzderhelden. Das ist drei Tage lang reiten weit weg. Dort muss er seinem Bruder helfen. Weißt du, sein Bruder wird der neue Herzog in unserem Land. Da mag er den Hannes bei sich haben bei seinem großen Fest."
Einen Moment lang überlegt Jakob.
„Ich will ihm aber trotzdem einen Brief schreiben. Er soll doch wiederkommen."
Ich seufze.
„Jakob, das geht nicht so einfach. Genauso, wie der Klaas und der Jorge und alle anderen Bauern und Knechte aufs Feld müssen und wie die Lene für uns alle den Honig macht und wie der Pastor für uns den Gottesdienst hält – genauso hat auch Hannes eine Aufgabe, die er jeden Tag wieder recht gut machen muss. Er war krank, als er hier war. Aber nun ist er wieder gesund und muss seine Aufgaben erfüllen. Wie jeder von uns."

„Ich will aber!"
Und schon rennt Jakob wieder davon, klettert die Leiter hinauf und verschwindet auf seinem Strohlager. Ich schaue ihm hilflos hinterher.
Was tut sich das Kind so schwer! Ist es vielleicht doch besser, wenn ... Nein, Anna. Jakob muss hier im Dorf aufwachsen, bei seinesgleichen. ICH muss Hannes innerlich gehen lassen, ich muss meine Trauer besiegen, die das Kind so sehr spürt. Sonst kommt Jakob nie davon los. Und irgendwann wird Hannes ja mal Zeit finden, uns zu besuchen.
Ich gehe ins Gebet und bitte Gott darum, dass ich meinen inneren Frieden wiederfinde, dass ich wieder Zuversicht und Lebensfreude ausstrahlen kann. Damit es dem kleinen Jakob nicht so schwer fällt, Hannes gehen zu lassen. Dann atme ich einmal tief durch und mache mich wieder an mein Tagwerk. Gott wird mir helfen, wie er mir und uns in den letzten Monaten immer geholfen hat. Soviel ist gewiss.

Erst nach einer ganzen Weile steigt Jakob wieder die Leiter hinunter und geht trotzig erhobenen Hauptes an mir vorüber. Kurz darauf kommt er allerdings zornentbrannt wieder zur Tür hereingeschossen und brüllt, wie ich ihn noch nie hab brüllen hören.
„Ich will aber!"
Nun habe ich natürlich keine Ahnung, was wieder los ist.
„Jakob, bitte schrei nicht so, das Peterle schläft. Und mit Trotz wirst du gar nichts erreichen, also sei still."
Wütend verschränkt er die Arme vor seinem kleinen schmalen Körper und flüstert. Ich hätte nie gedacht, dass man wütend flüstern kann. Aber Jakob kann – und wie!
„Ich will aber Hannes einen Brief schreiben. Aber der Pastor lässt mich nicht! Warum hab ich das gelernt, wenn ichs nicht tun darf!"

 Die innere Not des kleinen Mannes bricht mir fast das Herz. Ich gehe in die Knie und nehme ihn in die Arme.
„Also gut. Du darfst ihm einen Brief schreiben, du darfst alles erzählen, was dich bewegt, was du so machst, was du dir von ihm wünschst. Aber ich habe eine Bedingung."
Jakob schöpft neue Hoffnung, richtet sich auf und schaut mich fragend an.
„Du darfst von mir grüßen, aber ansonsten erwähnst du mich mit keinem Wort."
Als hätte ich ihm einen Schubs gegeben, sprudelt nun aus Jakob heraus, was er alles Hannes erzählen will.
„Gut, Jakob. Dann gehen wir morgen zum Pastor und bitten ihn um ein Papier und einen Kohlestift. Dann kannst du auf deiner Tafel jeden Satz vorschreiben. Wir schauen nach Fehlern, und wenns dann richtig ist, schreibst du es aufs Papier. Wollen wir das so machen?"
Jakob macht einen Freudenhüpfer. Endlich strahlt das Kind wieder.
„Gut, dann morgen!"

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3.4.2020

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