103 - kleiner Mann ganz groß - MI. 18.4.1571

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Ostern ist vorbei, und nun haben wir richtiges Aprilwetter – jeden Tag von allem etwas. Sonne, Regen, Hagel, warme Tage, Nachtfröste. Die Bauern freuen sich über den Regen, der die Saat gut angehen lässt. Dann wieder fürchten sie, der Frost könnte die Keimlinge erfrieren lassen. Die Kinder freuen sich, wenn sie bei Sonnenschein draußen herumflitzen können. Die Bauersfrauen sehnen sich nach mehreren Tagen Sonne hintereinander, damit sie endlich die große Frühjahrswäsche in Angriff nehmen können. Der Müller hofft auf Wind, aber als dann bei Bauer Gertsen ein Teil vom Stalldach davonfliegt, freut sich niemand mehr. Eilig wird sein Vieh in die Ställe der anderen gebracht, Frau und Kinder ziehen zu den Nachbarn, und die Männer des Dorfes versuchen, das Dach so weit abzudichten und zu sichern, dass es bis zum Ende des Frühjahrssturmes dicht hält.

Ich dagegen habe heute etwas zu feiern, denn mein Peterle ist nun ein Jahr alt. Er läuft so schnell wie der Blitz und bringt mich ganz schön ins Schwitzen. Er untersucht alles ganz genau, will alles verstehen und wird furchtbar wütend, wenn er etwas von uns will und wir ihn nicht verstehen. Die Hühner und Enten mögen ihn sicher nicht, denn manchmal flitzt er in ihren Verschlag und scheucht sie umher, weil er das Gackern und Krakelen so liebt. Zick und Zack wissen sich schon eher zu wehren. Da hat Peter nur einmal versucht, Unruhe zu stiften. Er hat Zick am Stummelschwanz gezogen und ist promt dafür umgestoßen worden. Er kam laut weinend da rausgerannt und hat sich seitdem nicht wieder allein dort reingetraut.

Zum Glück ist mein großer Jakob auch ein toller großer Bruder. Wenn ich sehr beschäftigt bin, zum Beispiel ein Essen auf dem Herd nicht anbrennen lassen will, dann passt er auf, was Peter so treibt, und fängt ihn immer wieder ein. Wenn es grade nicht regnet, dann bindet er ihm ein Seil um den Bauch und geht mit ihm in den Garten oder auf die Dorfstraße.

Ich habe in den letzten Wochen ein neues Hemd für ihn genäht, weil ihm die Säuglingskleidung nun langsam wirklich zu klein wird. Das bekommt er heute geschenkt und dazu einige Hutzeln. Der Getreidebrei zum Frühstück wird heute mit ganz viel Honig von der Lene versüßt, was die Kinder sehr lieben. Und wir nehmen uns die Zeit, um miteinander zu singen und Geschichten zu erzählen. Das Peterle liebt auch Kitzelspiele und kleine Reime, und so verbringen wir einen vergnügten Tag, ausnahmsweise mal ohne Arbeit.

Am Nachmittag kommt die Sonne heraus, und wir ziehen gemeinsam in den Wald. Susanna pflückt einen kleinen Strauß mit Scharbockskraut, Siebenstern, Buschwindröschen und Lungenkraut. Ich dagegen halte nach Bärlauch Ausschau. Das Peterle hat seine Nase eigentlich dauernd am Boden, denn er untersucht jeden Stein, jedes knisternde alte Blatt, jeden Lichtstrahl, der durch die Zweige fällt. Kein Käfer ist vor ihm sicher. Als er versucht, einen Heuhüpfer zu jagen, muss Jakob ihn daran hindern, in die Rhuma zu springen. Und wenn ein Vogel singt, versucht er, ihn nachzumachen.

Zurück im Dorf gehen wir noch zur Lene, Klaas kommt auch zum Abendessen dazu. Und nun singen wir für das Peterle ein Segenslied. Er strahlt, weil er es ohne jede Scheu genießt, so im Mittelpunkt zustehen. Doch als er dann nach dem langen, aufregenden Tag endlich müde wird, schläft er bald auf meinem Schoß ein und wird wieder zu meinem kuscheligen, kleinen Zwerg. Kurz darauf fängt auch Susanna an zu gähnen. Wir verabschieden uns, Jakob nimmt Susanna an die Hand, ich trage das Peterle heim, wickele ihm noch einmal und singe dann meine drei wunderbaren kleinen Gottesgeschenke in den Schlaf.

Still bleibe ich dabei sitzen, lausche auf ihren gleichmäßigen Atem und lasse meine Gedanken wandern. Ich danke Gott für ihre reinen Seelen, ich staune, wie einzigartig er sie geschaffen hat. Ich erinnere mich an das kurze Leben meines Kleinen. An seinen Vater, an seine Geburt, an sein ansteckendes Kichern, an seine Neugierde und schließlich nun seine ersten Schritte und vielfältigen Töne. Ich bin so dankbar.

Einem Impuls folgend steige ich die Leiter zum Boden hinauf. Ich nehme meine Lampe mit auf den Dachboden, setze mich auf die verwaiste Pritsche und denke an die Wochen mit Hannes. Nur hier oben erlaube ich mir sehnsüchtige Gedanken und manchmal Tränen. Nur hier oben erlaube ich mir die Erinnerung, wie warm und geborgen ich mich in seinen Umarmungen gefühlt habe. Und hier oben gehe ich wieder und wieder ins Gebet, um herauszufinden, was meine Kinder brauchen, ich bete, dass sie alle einen guten Platz im Leben finden.

Was braucht Jakob? Das Aufwachsen im Dorf? Eine Schule für seinen hungrigen, wachen Geist? Eine glückliche Mutter? Wieder einen Vater? Welches Leben passt zu Susanna? Jedenfalls nicht ein Leben voller Mühe. Susanna braucht einen Ort und eine Aufgabe, bei der sie still und bedächtig und ohne Hetze tun kann, was auch immer sie dann besonders gut kann. Bisher weiß ich nur, dass sie geschickt mit den Händen ist. Alles Weitere werde ich noch herausfinden müssen. Beim Peterle weiß ich noch weniger, wo er einmal hinsteuern wird. Wenn sein großer Bruder Bauer hier in der Adamskate wird, muss das Peterle eine andere Aufgabe finden oder seines eigenen Bruders Knecht werden. Und beides kann ich mir im Moment noch überhaupt nicht vorstellen. Aber er ist ja auch noch so klein. Das hat Zeit.

Ich merke nicht, wie ich immer müder werde, merke nicht mehr, dass ich mich auf den Strohsack lege und bald wegdämmere. Und dann träume ich. So lebhaft, dass ich mich am nächsten Morgen frage, ob ich nicht doch wach gewesen bin. In meinem Traum sehe ich Hannes. Und mich. Wir sind alt, und um uns herum stehen und sitzen fünf Kinder. Der „ausgeliehene" Jakob sitzt da und schreibt etwas, Susanna ist eng an meiner Seite und stickt, Peter sieht würdevoll aus in einem dunklen Gewand, aber ich erinnere nicht, was er gemacht hat. Dazu zwei weitere Kinder, die noch jünger sind, ein Junge und ein Mädchen. Ein schöner Traum von einem erfüllten Leben. Glückliche Gesichter einer glücklichen Familie.

Ich brauche eine Weile, bis ich wieder in der Realität ankomme. Bis ich bemerke, dass ich auf dem Dachboden und auf Hannes Pritsche eingeschlafen bin. Und dass mich wohl das Rufen meiner Kinder geweckt haben muss. Seit meiner Zeit in Gieboldehusen reagieren sie alle sehr empfindlich, wenn sie nicht schnell herausfinden können, wo ich bin. Ich muss immer sagen, wo ich hingehe, was ich als nächstes tue. Also rufe ich schnell ein möglichst vergnügtes „Guten Morgen!" zu ihnen herunter und steige die Leiter abwärts.

Draußen regnet es wieder. Jakob packt sich also nach dem Frühstück dick ein und läuft auf den Mühlberg, denn ab jetzt soll er dort wieder mithelfen. Mit Susanna und dem Perterle gehe ich ins Pfarrhaus, weil Susanna mit Evchen spielen will.

Cristoph spielt mit Peter – obwohl ihm Jakob natürlich lieber gewesen wäre als Kamerad. Und Birgitta und ich setzen uns in ihre Stube und rühren fleißig unsere Finger mit Handarbeiten. Dabei reden wir über all das, was dieser seltsame Winter uns an Verrücktem gebracht hat. Pastor Crüger kommt dazu. Wir reden auch darüber, wie erstaunlich schnell und selbständig Jakob das Lesen und Schreiben gelernt hat.
„Ich bin so unsicher. Denkt ihr, Hannes wird auf Jakobs Brief antworten? Hoffentlich haben diese Leute den Brief überhaupt abgeliefert und das nicht als Spinnerei von einem Bauernlümmel abgetan! Der Junge spricht nicht mehr davon. Aber ich bin mir sicher, dass er sich doch Hoffnungen macht."

Johann Crüger schüttelt den Kopf.
„Anna, manchmal verstehe ich dich nicht. Du bist eine gebildete Frau, stolz und innerlich frei. Warum? WEIL du gebildet bist. Weil dir Schmerz und Leid und Ungerechtigkeit weniger anhaben können. Weil du selbst denkst. Du kannst dir nicht aussuchen, wo und wie du lebst. Du hast dein Leben angenommen. Aber nun öffnen sich deinem Sohn alle Türen, weil er über die Maßen klug ist. Und Hannes liebt dich. Und du sagst nein? Willst du – aus Angst, es könnte schiefgehen – Jakob in dieser Kate anbinden, wo sein Geist doch längst unterwegs ist in der weiten Welt der Gedanken? Jakob hat Mutter und Vater verloren. Aber nicht Lebensfreude und Verstand. Gönn ihm die Möglichkeit zu lernen, gönn ihm die Bildung, die auch du genossen hast zu deinem Besten. Und dir den Mann, den du liebst!"

Den letzten Satz hat er ganz leise gesagt. Aber gehört habe ich ihn doch. Ich lasse meine Hände in meinen Schoss sinken und senke den Kopf. Das Durcheinander in meinem Kopf ist einfach unbeschreiblich. Und ich fange an zu begreifen, was das Wichtigste an diesen Worten war.
„... aus Angst, es könnteschief gehen ..."
Er hat Recht. Ich habe Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Und kann es auch jetzt nicht. Ich kann einfach nicht. Und Jakob Adam fragen kann ich nicht mehr. Die Verantwortung für seinen Sohn liegt in meinen Händen. Ich habe mich noch nie so schwach und einsam und hilflos gefühlt wie bei dieser Entscheidung.

Schließlich kommen mir die Tränen. Birgitta legt ihre Handarbeit beiseite und nimmt mich tröstend in die Arme.
„Ach, Liebes. Was ist es, das dich so misstrauisch macht? Wovor hast du Angst? Finde es heraus, dann kommst du vielleicht auch mit der anderen Frage weiter. Das ist doch gar nicht die Anna, die wir alle kennen. Dir bietet sich die größte Chance deines Lebens, und plötzlich bist du so verzagt wie nie zuvor. Wo ist dein Gottvertrauen geblieben?"

Stumm schüttele ich den Kopf.
Ich weiß es nicht. Im Moment weiß ich gar nichts mehr. Ich bin einfach nur verwirrt.

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14.4.2020

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