110 - Meine sehr geliebte Anna! - SA. 28.4.1571

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Meine sehr geliebte Anna!                        13. Juli anno domini 1565

Um ehrlich zu sein – ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Wenn Du dies hier liest, bist Du entweder noch bei mir im Christophorus-Haus und einfach an meiner Seite so erwachsen geworden, dass ich Dir das Rätsel um Deine Herkunft gelöst und Dir den Brief selbst gegeben habe. Oder ich bin viel zu früh gegangen, und Du hast – mit Hilfe meiner Nachfolge oder auf anderem Wege - herausgefunden, was der Schlüssel an Deinem Hals für eine Bedeutung für Dich hat. Ich fühle allerdings, dass mein Körper mich allmählich im Stich lässt, dass Gott meine Aufgabe, über Dich zu wachen, für beendet ansieht, dass ich bald gehen werde und Dich seiner Wacht und Liebe und seinem guten Plan überlassen muss.

Ich wüsste zu gerne, wie alt Du jetzt bist, wo Du lebst, ob Du eine Familie hast. Ob Du immernoch mit Deinen geschickten Händen zauberhafte Dinge schaffst, mit Deiner Stimme Herzen öffnest, mit Deinem wunderbar sonnigen und starken Wesen die Menschen um Dich herum gewinnst. Wer bist Du heute, Anna? Ich werde im Himmel auf Dich warten, und Du wirst mir dann erzählen, wie es Dir ergangen ist.

Anna, ich bin Deine Mutter. Und ich habe Dein ganzes Leben lang darunter gelitten, dass ich Dir das nie sagen durfte. Ich bete täglich, dass meine tätige Liebe zu Dir den Umstand aufwiegen möge, dass Du ohne Wissen um Vater und Mutter aufwachsen musstest. In diesem Brief möchte ich Dir erzählen, wer ich bin, wer Dein Vater ist, warum es uns nicht möglich war, als Familie gemeinsam glücklich zu sein. Wie wir beide ins Christophorus-Haus gekommen sind, wie Du aufgewachsen bist und was die Dinge in diesem Kästchen, dessen Schlüssel Du Dein Leben lang um den Hals getragen hast, mit Dir zu tun haben.

Ich bin Magdalena Anna Sophie von Lenthe. Die Graftschaft Lenthe liegt westlich von Hannover. Als ich vierzehn Jahre alt war, wurde ich zu der befreundeten Familie von Brabeck östlich von Hannover gebracht, um dort gemeinsam mit drei weiteren höheren Töchtern aus gutem Hause eine standesgemäße Erziehung zu erhalten. So lernte ich Agnes von Bothmer zu Lauenbrück und ihre Schwester Sophia kennen. Ich lernte dort auch Hertha von Brabeck kennen – und ihre beiden älteren Brüder. Wir vier Mädchen wurden in eine harte Schule genommen, aber wir hatten einander und genossen unsere jungen Jahre sehr. Agnes und Sophia haben vor mir geheiratet, aber ich blieb noch eine ganze Weile bei Hertha.

Sophia heiratete einen Herzog und lebte auf Schloss Salzderhelden, wo sie zwei Söhne bekam. Ihre Schwester Agnes heiratete einen Herrn von Minnigerode, der aus Glaubensgründen aus dem Thüringischen Eichsfelde ins Grubenhagensche gezogen war. Die beiden waren glücklich, die Ehe blieb aber kinderlos.

Als ich achtzehn war, spürte ich, dass mein Herz zu schlagen begann. Es schlug für den jüngeren Bruder Caspar von Brabeck, und bald stellte sich heraus, dass seines auch für mich schlug. Da er der Nachgeborene war, schienen die Anzeichen unserer Liebe auch unsere Eltern nicht zu stören. Wir waren jung und unbedarft und baten um die Erlaubnis, heiraten zu dürfen. Also wurde Verlobung gefeiert, auch wenn es bis zur Hochzeit noch eine Weile dauern sollte.

Doch das Schicksal war gegen uns. Denn der ältere Bruder Robert von Brabeck starb zwei Jahre später bei einem Reitunfall, Caspar wurde Erbe – und ich war auf einmal als Freifräulein von niederem Adel nicht mehr standesgemäß. Als seine Eltern ihn zwingen wollten, eine passendere Frau zu heiraten, damit uns beiden kein Spielraum für Träume mehr blieb, brannten wir durch. Wir fanden Unterschlupf bei Agnes, und wir fanden auch einen Pfarrer, der uns traute.

Nun war ich also Magdalena Anna Sophia von Brabeck. Wir waren glücklich. Niemals hätten wir damit gerechnet, welch harte Maßnahmen unsere Eltern ergreifen würden, um ihren Willen durchzusetzen und uns zu demütigen. Nach zwei Monaten benachrichtigte Caspar seine Eltern, wo er sei und dass er bereit sei, zurückzukehren und zu gegebener Zeit das Erbe anzutreten unter der Bedingung, dass ich als seine rechtens angetraute Gattin akzeptiert würde. Nur wenige Tage später sahen wir uns zum letzten Mal. Wir wurden aufgestöbert, auseinandergerissen und unsere Ehe wurde annuliert. Caspar wurde verheiratet gegen seinen Willen mit einer etwas älteren Frau, die Landbesitz mit in die Ehe brachte. Hertha von Brabeck wurde jeder Kontakt zu mir verboten, aber ich weiß, dass sie ihrem Elternhaus entfremdet war und nur zu ihrem Bruder Kontakt pflegte, nachdem auch sie so schnell wie möglich verheiratet worden war. Sie starb im Kindbett wie ihre Schwägerin. Danach blieb Caspar allein.

Ich wurde nach Hause zu meinen Eltern verbracht, musste wieder meinen Mädchennamen annehmen und bitteschön die Füße still halten. Mir wurde per Vertrag verboten, jemals wieder zu Caspar Kontakt aufzunehmen oder seinen Namen zu benutzen. Aber dann spürte ich, dass ich guter Hoffnung war. Also musste ich zusichern, dass mein Kind, so es denn bis ins Erwachsenenalter leben würde, niemals erfahren dürfe, wer sein Vater sei. Meine Eltern selbst wurden geächtet. So versuchten sie vergebens, mich standesgemäß zu verheiraten. Zumal ich jedem Bewerber niederen Adels, der sich trotz meiner „Schande" vom versprochenen Geld locken ließ, jeweils gleich beim ersten Gespräch mitteilte, dass ich guter Hoffnung sei. Die meisten blieben nichtmal bis zum Essen.

Du siehst, Anna – Deine Mutter war eine trotzige, lebenshungrige und selbstbewusste junge Frau. Ich weigerte mich auch, dich an einem stillen Ort zur Welt zu bringen und sofort herzugeben. Ich drohte damit, dann das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit öffentlich zu machen. Und sie wussten, dass sie mich nicht wirklich würden daran hindern können. Also wurde ein Ausweg gesucht.

Und gefunden. Meine Freundin Agnes blieb mir treu. Die Wogen des Skandals schwappten nicht bis ins Herzogtum Grubenhagen. Agnes erbte von einer Patin ein Lehen im Süden des Herzogtums, das Schloss Gieboldehusen. Und als ein Ort gesucht wurde, an dem ich mit meinem Kind würdig leben könnte, ohne der Familie weiter Schande bereiten zu können, bot sie mir an, zunächst in ihrem abgelegenen Landhaus mein Kind zu bekommen und dann mit Dir in der kleinen Stadt Gieboldehusen die Leitung des Waisenhauses zu übernehmen. So wurdest Du am 20. Mai 1549 ohne Vater und Mutter geboren, meine geliebte wunderbare Anna Teresa. Agnes und ihr Mann waren sich nicht zu schade, mir eine Zukunft zu bieten und es mir zu ermöglichen, Dich selbst großzuziehen. Sie ließen mir völlig freie Hand für die Leitung und Gestaltung des Christophorus-Hauses und zahlten mir ein fürstliches Gehalt. Meine Eltern brachten es nach ein paar Jahren des Schweigens auch nicht mehr fertig, mich völlig zu ignorieren, und seitdem bekam ich auch von ihnen Zuwendungen.

So konnte ich mein und Dein Leben und das Leben vieler, vieler Waisenkinder so gestalten, dass es lebenswert sein konnte. Ich gründete in dem Ort eine Schule, in die alle Kinder gehen durften. Ich suchte mir Knechte und Mägde aus für das Anwesen, die kleine eigene Landwirtschaft und die Schule, die meinem Bild von Erziehung entsprachen. Ich wollte nicht, dass auch nur eines dieser Kinder dermaßen fremdbestimmt wie ich ins Leben starten müsste. So ließ ich alle Kinder bleiben, bis zu erkennen war, wofür sie besonders geschickt und begeistert waren, ließ sie einen entsprechenden Beruf erlernen und vermittelte sie dann in Stellen, wo sie ihren Platz gut füllen konnten und mit ihren Gaben und ihrem Wesen willkommen waren. Die Kinder aus dem Christophorus-Haus waren gern gesehen, wo auch immer sie in Stellung gingen.

Meine liebe Anna! Hast Du Dich jemals gefragt, warum Du mehr Bildung, mehr Zuwendung bekamst als alle anderen? Ich habe mir mit allen Mühe gegeben, habe meine ganze Liebe, die ich Caspar nicht geben durfte, in diese wunderbare Aufgabe gesteckt. Dennoch konnte ich sicher nicht immer verhindern, dass ich Dich als etwas besonderes behandelt habe. Du warst mein Leben. Du warst immer alles, was mir von Caspar geblieben war, und es schmerzte unendlich, dass Dir Dein Vater, Dein Name und Dein Dir zustehendes Leben vorenthalten wurde. Ob Du glücklich bist in Deinem Leben jetzt?

Du hast sehr viel vom Wesen Deines Vaters. Du hast seine grünen Augen, seine aufrechte Haltung, seinen scharfen Verstand, seine freie Art von Gerechtigkeitsliebe und seine Musikalität. Das handwerkliche Geschick, das Aussehen, die Geduld und die Liebe zu allem Lebendigen hast Du von mir. Wann immer mich Trauer überfiel, weil ich mich einsam fühlte – wenn ich Dich angesehen habe, dann war ich glücklich, weil Du das wunderbarste Geschenk bist, was das Leben, was Caspar, was Gott mir geben konnte. So kurz meine Ehe war, so unglücklich ihr Ende – Ich habe Gott täglich gedankt dafür, dass Du Teil meines Lebens sein durftest.

Ich weiß nicht, was aus diesem Haus werden wird, wenn ich mal nicht mehr bin. Meine Freundin Agnes von Minnigerode starb im Frühjahr kurz nach ihrem Mann. Das Schloss, das Lehen vererbte sie ihrem Neffen, dem älteren Sohn ihrer Schwester Sophia, dem zukünftigen Herzog Johann III. von Grubenhagen. Aber er kam nie hierher, er ist jung, und er interessiert sich nicht für sein Lehen. Sein Leben spielt sich bei Hofe ab. Er ist wohl ein ziemlicher Springinsfeld, der den Tod seiner Mutter Sophia nie verkraftet hat und jede Verantwortung scheut.

Der alte Verwalter, der Agnes viele Jahre treu gedient hatte, ging in den Ruhestand zu seiner Tochter, ein neuer Verwalter wurde eingesetzt. Und ich kann leider nicht anders, als zu sagen, dass seitdem alles anders, alles schwierig geworden ist. Er hatte klare Vorgaben durch das Testament von Agnes. Er hatte mein Heim, meine Arbeit, meine Befugnisse nicht anzutasten. So kann ich mit meinem eigenen von den Eltern ererbten Geld noch gut bestehen hier. Aber wenn ich einmal nicht mehr bin – weiß ich nicht, was aus dem Christophorus-Haus, was aus der Schule, was aus den Kindern – und was aus Dir werden wird. Der Mann ist hart und habgierig. Und er betrügt seinen Lehnsherren, den jungen Herzog. Ändern kann ich es nicht. Ich kann nur jeden Tag, den der Herrgott mir noch schenkt, dafür beten, dass Gnade und Gerechtigkeit siegen werden.

Du hast einen Schlüssel um den Hals getragen, solange Du denken kannst. Oft und oft hast Du mich danach gefragt. Er erschien Dir zauberhaft und geheimnisvoll, grade weil er zu keinem Schloss zu gehören schien. Aber wenn ich Dir gesagt hätte, was dieser Schlüssel aufschließt, dann hättest Du weiter gefragt, hättest vielleicht heimlich versucht, das Geheimnis zu lösen. Dieses Kästchen habe ich von Agnes zu Deiner Geburt geschenkt bekommen. Sie wollte, dass ich alles, was mir jenseits eines materiellen Wertes wichtig ist, gut verwahre. Sie hat geahnt, dass ich einen sicheren Ort brauchen würde, um Dir alle Erinnerungen an Dein Leben und Deine Herkunft weitergeben zu können. Ich werde, wenn meine Stunde kommt, auch meinen Schmuck und Geld dort hinein legen, damit Du alles bekommst, was Dir zusteht. Meinen Schlüssel dazu werde ich rechtzeitig verschwinden lassen. So wirst nur Du in der Lage sein, das Kästchen zu öffnen.

Jedes Kind, das auf irgendeinem Wege zu mir gekommen ist, hatte irgendetwas bei sich – sei es nur die Kleidung am Leibe, sei es ein Brief, sei es ein Erinnerungsstück der Familie. Manchmal gab es noch einen Verwandten, der sich nicht kümmern konnte, aber doch ab und zu einen Besuch abstattete. Für jedes Kind habe ich in der Kammer neben meinem Kontor einen Platz eingerichtet mit den persönlichen Dingen. Jedes von ihnen hat bei seinem Auszug seine persönlichen Habseligkeiten und Erinnerungsstücke als Andenken bekommen. Für Dich gab es keinen normalen Platz. Für Dich gab es immer dieses Kästchen. In meinem Testament habe ich verfügt, dass es Dir nach meiner Beisetzung ausgehändigt werden soll. Ich kann es nur in Gottes Hände legen, dass das auch geschehen wird.

Das Kästchen muss jetzt offen vor Dir stehen, sonst würdest Du den Brief nicht in Händen halten. Außer dem Brief, meinem Schmuck und Geld findest Du noch einige andere Dinge. Caspar hat mir einen Ring zur Hochzeit geschenkt, den wirst Du hier finden. Das letzte Zeichen, das ich von ihm bekam, nachdem wir so gewaltsam getrennt worden waren, war ein kleines Bildnis von ihm, das er heimlich durch einen Boten geschickt hat. Ich bin sehr glücklich, dass Du darum wenigstens auf diesem Bild einmal sehen kannst, wie Dein Vater aussah. Du findest die Briefe, die wir einander schrieben, als die Liebe in unseren Herzen zu blühen begann. Du findest auch die Urkunde, dass wir wirklich getraut wurden. Der Pfarrer hat uns diese Urkunde damals ausgestellt, damit wir Sicherheit vor unseren Eltern haben könnten. Dachten wir. Aber eines ist sicher: Du bist die legitime Tochter Anna Teresa von Brabeck Deines Vaters Caspar von Brabeck.

Meine liebe Anna! Nun wirst Du Dich erst einmal wieder fassen müssen nach all diesen unerwarteten Neuigkeiten. Du hast Deine Mutter verloren, bevor Du sie erkannt hast, weil das grausame Schicksal es so verlangt hat. Dein Vater lebt so viel ich weiß noch. Und mit dem Inhalt dieses Kästchens hast Du auch die Möglichkeit, ihn aufzusuchen und Dich ihm gegenüber als seine Tochter zu legitimieren. Ob Du das willst, ist eine andere Frage. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Dich so zu erziehen, Dir so viel Bildung und Anstand und Manieren beizubringen, dass Dir ein Leben in höheren Kreisen nicht allzu schwer fallen dürfte. Aber völlig ungewohnt und vielleicht beängstigend wird es dennoch sein. Es liegt in Deiner Hand, ob Du Dich dem aussetzen willst. Dein Vater wäre allerdings sicher glücklich, wenn er wüsste, dass es in Dir ein Band gibt, das uns noch immer verbindet.

Mir bleibt jetzt nur noch, für Dich zu beten, solange ich noch atme. Dich in die Hände des gütigen Gottes zu legen, der Dich mir geschenkt und uns beide bis hierher erhalten hat. Sei gesegnet mit aller Kraft und Liebe, die Gott in Dich hineingelegt hat. Ich kann getrost gehen, weil ich darauf vertraue, dass Gott seine schützende Hand über Dich hält.

In großer Liebe und Dankbarkeit, Deine Mutter Magdalena Anna Sophie von Brabeck

...............................................................

21.4.2020

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro