12.1

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„Bübchen, he."

Die geflüsterten Worte rissen Nikolai aus dem Schlaf. Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah, wie Iwan den Kopf durch die Öffnung in der Wand steckte, die durch das entfernte Brett zustande kam.

Sofort schwang er die Beine aus dem Bett und kroch zu ihm heran.

„Mein Wachsoldat war eben hier, er hat etwas herausgefunden."

Augenblicklich schlug Nikolais Herz schneller. „Ja?", hauchte er hoffnungsvoll.

„Nichts Weltbewegendes, aber das Wappen, das du beschrieben hast, ist das Familienwappen der Hohenzollern. Dein Major von Hohenstein entstammt einem der bedeutendsten Hochadelsgeschlechtern des Reiches. Kaiser Wilhelm ist ein Hohenzollern."

Nikolai schnappte nach Luft. Ihn war klar gewesen, dass sein Peiniger von Adel sein musste, so edel und befehlsgewohnt er auftrat, doch dass er aus einer Dynastie von Kaisern kam, das überraschte ihn.

„Er ist mit dem Kaiser verwandt?", hakte Nikolai ungläubig nach.

„Über sehr viele Ecken, ja."

„Was ist mit der römischen Zahl?"

„Sie bedeutet 202."

202. Nikolai überlegte, versuchte, einen Zusammenhang aus dem, was er bereits wusste herzustellen, aber er kam nicht darauf, was es damit auf sich haben könnte.

„Was könnte das bedeuten?"

Iwan zuckte mit den Schultern. „Zusammenreimen musst du dir deinen Mist schon selbst, Bübchen."

Nikolai beschloss, das zu überhören.

„Und sonst? Weiß dein Informant noch etwas?"

„Nur so viel: du bist nicht der Einzige, der vermuten tut, dass mit von Hohenstein etwas nicht stimmt. Otto, der Wachsoldat, hat mir erzählt, dass die deutschen Soldaten untereinander ebenfalls munkeln tun, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht."

Nikolai horchte auf. „Inwiefern?"

„Von Hohenstein ist ein hochdekorierter Offizier. Er hat seine Truppen mehr als einmal zum Sieg geführt, nicht hinter einem Schreibtisch, sondern an vorderster Front und er hat drei Orden. Er ist ein Kriegsheld. Man tut sich fragen, was ein Mann wie er in einem Gefangenenlager zu suchen hat, ein solches Talent tut auf das Schlachtfeld gehören."

Nikolai kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein Mann aus dem höchsten Adel, ein hochdekorierter Offizier, ein Held verhörte ihn. Es war in der Tat seltsam, dass er das tat, statt seine Truppen anzuführen, wenn er darin so gut sein sollte. Gleichzeitig kam Nikolai nicht umhin, den schmerzhaften Stich des Neides in seiner Brust zu fühlen. Von Hohenstein war das, was er nie geschafft hatte: ein fähiger Offizier, ein Mann, der etwas im Leben erreicht hatte, der ein gewisses Ansehen genoss und zu dem andere aufsahen. Gewiss, er hatte es bis zum Solisten gebracht, aber was nützte ihm das, wenn er – abgesehen vom Blauen Vogel – immer nur unbedeutende Nebenrollen ergattern konnte, die ihn nie aus der Menge herausstechen ließen?

Unwillkürlich kamen ihm die Worte seines Ballettmeisters in den Sinn: Dein Tanz wirkt nicht leicht, du willst es zu sehr. Du musst echte Emotionen zeigen, keine gekünstelten. Deine Arme mögen zwar lang sein, aber sie sind nicht lang genug. Du hast ein ansehnliches Gesicht, aber deine Haare sind zu dünn, das wirkt auf der Bühne nicht. Du bist schlank, aber du brauchst mehr Muskeln. Niemand will einen unmännlichen Tänzer.

Du bist nicht gut genug.

Willst du das ausgleichen? Dann sei selbstsüchtig. Nehme dir das, was du willst, auf unehrliche Weise, denn anders wirst du es nie schaffen.

Du bist nicht gut genug.

Und du wirst es nie sein.

Sogleich schaltete sich sein Vater mit ein und fügte hinzu: Du bist zu realitätsfremd.

Du setzt dir utopische Ziele, du wirst das nie schaffen.

Du bist nicht gut genug.

Du bist ein schlechter Sohn, weil du so undankbar bist, dein Erbe auszuschlagen, alles, wofür ich hart gearbeitet habe, wirfst du einfach weg.

Du bist nicht gesellschaftsfähig, dich wird niemals jemand mögen, weil du schlecht bist.

Weil du nicht gut genug bist.

„Bübchen? Tun mir deine hässlichen Aristokratenohren noch zuhören?"

Iwans tiefe Stimme riss Nikolai aus seinen Gedanken. Er nickte eine Spur zu hastig und versuchte, sich zu konzentrieren.

„Natürlich tue ich dir zuhören", spottete Nikolai, in der Hoffnung, dass Iwan es verstand. Er tat es nicht. Seufzend fuhr Nikolai fort: „Von Hohenstein ist ein Kriegsheld, der unlogischerweise als Wachoffizier in einem Kriegsgefangenenlager gelandet ist. Gibt es eine Vermutung, weshalb?"

„Nein."

„Kann es sein, dass er krank ist?"

Iwan runzelte die Stirn. „Wie tust du darauf kommen?"

„Hast du ihn schon einmal genauer betrachtet? Er ist spindeldürr, seine Haut unnatürlich bleich und erst kürzlich habe ich Schweißtropfen auf seiner Stirn gesehen, obwohl es nicht warm war."

Nachdenklich wiegte der Kosake den Kopf hin und her. „Hm, so habe ich das noch nie betrachtet, aber da du es sagst... Könnte sein."

„Kann dein Wachsoldat, dieser Otto, etwas darüber in Erfahrung bringen?"

Abwehrend hob Iwan die Hände. „Hör zu, Bübchen, ich habe Antworten auf deine Fragen bekommen und jetzt will ich in Ruhe gelassen werden. Das Risiko ist zu hoch für mich, ich will in diese ganze Angelegenheit nicht hineingezogen werden und Otto will ich auch nicht in Gefahr bringen."

Nikolai klappte die Kinnlade herunter. „Das ist nicht dein Ernst. Das war so nicht abgemacht."

„Ebenso wenig war die Anzahl der Fragen ausgemacht, die ich dir beantworten soll. Allein dass wir uns hier unterhalten tun, könnte mich in große Schwierigkeiten bringen."

Nikolai seufzte schwer. Er hatte recht. Er ärgerte sich über seine Nachlässigkeit maßlos, das hätte er von Beginn an klären sollen.

„Iwan..."

„Nichts ‚Iwan'."

„Wenn du mir nicht so lange hilfst, bis von Hohensteins Geheimnis gelüftet ist, werde ich mich nicht an meinen Teil der Abmachung halten."

„Ich habe dir sowieso nie vertraut und werde es auch niemals tun. Leb wohl."

Der Kosake wollte gerade das Brett wieder anbringen, als Nikolai seinen Arm urplötzlich nach vorne schnellen ließ und Iwan am Handgelenk packte. Der ältere Mann starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren und in seinen dunklen Augen blitzte es gefährlich auf.

„Tu deine dreckigen Finger von mir nehmen, du widerlicher Aristokrat oder ich breche dir jeden einzelnen davon."

Seit er hier war, hatte Nikolai so viele Drohungen gehört, dass er begann, sich daran zu gewöhnen. Folglich blieb das Zittern aus.

„Erst, wenn du mir verrätst, warum du einen solchen Hass auf mich und meinesgleichen hegst."

„Weil ihr stinkende, verabscheuungswürdige Schweine seid, die allesamt aufgeknüpft gehören", zischte Iwan mit einem solchen Hass in der Stimme, dass Nikolai regelrecht spüren konnte, wie ihm jede Farbe aus dem Gesicht wich.

„Du bist verrückt", zischte er zurück.

Iwans Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und seine Lippen waren fest aufeinandergepresst. Es war ihm anzusehen, dass er sich zurückhalten musste, nicht wütend herumzubrüllen.

„Nein, weißt du, was verrückt ist?", spie er hervor. „Eine Frau, die vor wenigen Tagen einen Säugling zur Welt gebracht hat, aufzuhängen, weil sie Äpfel von einem Baum gepflückt hat, der auf einer Wiese stehen tut, die einem Fürsten gehört; einem wie dir."

Es war dem Kosaken anzusehen, dass er Nikolai am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte. Er sah so angewidert aus, als hätte er eine schleimige Schnecke oder einen hässlichen Käfer vor sich. Gleichzeitig war in seinen Augen noch etwas anderes als bloße Verachtung zu lesen: tiefe Traurigkeit.

Im ersten Moment wusste Nikolai nicht, was er antworten sollte. Er war schockiert.

„Ist..." Oh nein, konnte er wieder nicht sprechen? Er versuchte es noch einmal. „Ist das deiner Frau passiert?"

„Gut geschlussfolgert. Und weißt du, was mit meinem Kind passiert ist? Nein? Es ist verhungert, weil es niemanden gab, der ihm hätte Milch geben können."

Die Geschichte des Mannes traf ihn so sehr, dass er schlucken musste. Natürlich wusste er, wie skrupellos seinesgleichen sein konnten. Oft genug hatte er erlebt, wie sein Vater die Dienstboten geohrfeigt und seine Mutter ihre Zofe an den Haaren gezogen hatte, wenn sie die Frisur ihrer Herrin nicht schön genug gesteckt hatte. Das hingegen ... das übertraf alles, was er je gesehen oder gehört hatte. Er hatte wirklich ein sehr weltfremdes und abgeschiedenes Leben geführt. Jetzt verstand er, warum Iwan ihm mit einer solchen Ablehnung begegnete und er begriff endlich, warum ihn seine Männer bisweilen derart böse angesehen hatten. Die Verhältnisse in seiner Heimat waren noch viel schlimmer als angenommen.

„Das ist bedauerlich", entgegnete er aufrichtig.

„Es ist bedauerlich? Du kannst dir doch nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie das ist!"

Nikolai musste sich eingestehen, dass er recht hatte. Dergleichen hatte er zum Glück nie erleben müssen. Er wusste nicht, wie es war, jeden, den man liebt, zu verlieren, weil er noch nie wirklich geliebt hatte, keine Frau, keinen Freund, kein Familienmitglied – niemanden. Er war allein und bisher hatte er es sogar genossen, als Einzelgänger durchs Leben zu gehen. Es brachte viele Vorteile mit sich, vor allem, wenn man bedachte, dass die Menschen in seinem Umkreis ihn immerzu verletzt und ihm gesagt hatten, er sei nicht gut genug. Nun jedoch, da es sich abzeichnete, dass er vermutlich nicht mehr tanzen konnte, fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, all seine Liebe in das Ballett fließen zu lassen, sodass für zwischenmenschliche Beziehungen nichts mehr übriggeblieben war.

Hatte man nur eine einzige Gießkanne Wasser zur Verfügung, war es nur natürlich, die Pflanze damit zu versorgen, die einem die liebste war, doch ging sie trotz allem ein, hatte man am Ende überhaupt keine mehr, weil die anderen, die man vernachlässigt hatte, längst vertrocknet waren.

So verhielt es sich mit Nikolai, dem Ballett und seinen Beziehungen zu anderen Menschen. Er wurde das Gefühl nicht los, im Leben etwas unwiederbringlich verpasst zu haben. Gleichzeitig pulsierte die bisher sorgfältig unterdrückte Sehnsucht in ihm, von irgendjemandem gemocht zu werden. Er fragte sich, warum ihm das erst nach fünfundzwanzig Lebensjahren klar wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihm hier, in seiner Einzelzelle, zum ersten Mal bewusst wurde, wie krank soziale Isolation einen Menschen machen konnte und tatsächlich wünschte er sich gerade nichts sehnlicher, als von Iwan gemocht zu werden, damit er jemanden hatte, mit dem er über seine Sorgen und Probleme sprechen konnte, damit das Ballett nicht sein einziger Lebensinhalt war, nun, da er befürchten musste, nicht mehr tanzen zu können.

Gewiss, er war hier wegen dem Kosaken, aber gleichzeitig war er, so seltsam es klang, in dieser Situation sein einziger Verbündeter.

Die Tatsache, dass Iwan ihn hasste, stimmte ihn seltsam traurig, ein dumpfer Schmerz, der tief in seiner Seele verwurzelt war und schwer auf sein Herz drückte. Dabei wusste er sehr wohl, dass er selbst Schuld daran war, dass niemand ihn ausstehen konnte.

„Vermutlich nicht", gab er Iwan gegenüber schließlich zu. „Trotzdem weiß ich, dass das nicht richtig war."

„Du tust gar nichts vom Leben wissen und du bist..."

„Ein arrogantes, selbstsüchtiges, kriecherisches Scheusal", beendete Nikolai den Satz mit einer gewissen Bitterkeit in der Stimme.

„Das bist du. Weißt du, ich würde darüber nachdenken, dir weiterhin zu helfen, wenn du dich bei mir entschuldigst."

Ungläubig riss Nikolai die Augen auf.

„Dass ich was?", fragte er und war sich durchaus bewusst, wie schockiert er klang. Er hatte sich noch nie bei jemandem entschuldigt, der im Rang unter ihm stand.

„Das wäre doch angebracht, oder? Ja, ich mag angefangen haben, dich zu drangsalieren und ich gebe zu, dass ich womöglich ein wenig übertrieben habe, aber du hättest dich nicht gleich so sehr an mir rächen müssen, dass ich in diesem Verlies lande. Also, ich tue dich zwar immer noch hassen, aber ich entschuldige mich hiermit offiziell bei dir und ich erwarte, dass du das auch tust."

Nikolai schnaubte verächtlich. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Das wäre deine Möglichkeit, dich einen Schritt auf Iwan zuzubewegen und mit viel Glück irgendwann von ihm gemocht zu werden, riet ihm seine innere Stimme. Nikolai kniff die Lippen zusammen. Unmöglich, er besaß einen gewissen Stolz und eine Entschuldigung war mit ihm nicht vereinbar. Außerdem war er nicht bereit, seinen Fehler einzusehen. Es war Iwans eigene Schuld, dass er hier saß.

„Du hast mich schon richtig verstanden, Bübchen. Ich biete dir einen Waffenstillstand an, es ist deine Entscheidung, ob du ihn annehmen willst oder nicht."

Störrisch verschränkte Nikolai die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in die Höhe. „Dann fahr zur Hölle, Bauer."

Er konnte nicht fassen, dass er das gerade wirklich gesagt hatte und nur einen Lidschlag später bereut er es.

Iwan schüttelte den Kopf, als ärgere er sich über ein uneinsichtiges Kind. Nikolai öffnete den Mund, um zu protestieren, als der Kosake das Brett wieder anbrachte und verschwand.

Panik befiel ihn, rieselte ihm als eisiger Schauder über den Rücken und strahlte in jede Faser seines Körper aus. Seine Lippen rissen auf, in den verzweifelten Versuch, den Kosaken aufzuhalten, doch der Schrei, der ihm entweichen wollte, blieb in seiner Kehle stecken.

Er war wieder isoliert.

Er war allein.

Und mit dem Alleinsein kamen die dunkelsten Tiefen seiner Erinnerungen an die Oberfläche. Pjotr tauchte vor seinem inneren Auge auf, blutüberströmt und mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen, als freue er sich über das, was Nikolai widerfahren war. Da sehen Sie, was Sie von Ihrer Arroganz haben, schien er sagen zu wollen. Ich stand loyal an Ihrer Seite und hätte mein Leben für Sie gegeben, während Sie immerzu nur daran interessiert waren, ihr eigenes zu retten. Sie sind ein schlechter Mensch.

Während sich sein Bursche bedrohlich auf ihn zubewegte, spürte Nikolai, wie ihn jegliches Gefühl in den Gliedmaßen verließ. Bevor seine Stimmbänder gelähmt wurden und Pjotr ihn mit einem Messer erstechen konnte, schrie er.

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