15.

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„Das Protokoll war nirgends aufzufinden gewesen, Bübchen."

„Was sagst du da?"

„Es war nicht bei den anderen Protokollen gewesen."

„Bist du sicher?"

„Otto sagt, er hatte alles durchsucht."

Nikolai schüttelte den Kopf. Statt Antworten erhielt er immer noch mehr Fragen.

„Bist du sicher?", wiederholte er.

„Ich kann nur Ottos Worte wiedergeben."

„Was könnte der Grund dafür sein?"

„Dieser Kompaniefeldwebel Reiser tut das Protokoll führen, richtig?"

Nikolai nickte.

„Es könnte eine einfache Erklärung geben: Er hatte es zu dem Zeitpunkt gerade bei sich, weil er es nachbereiten musste."

„Das wäre ein Grund, aber ich glaube es nicht. Ich denke, dass hinter dieser ganzen Angelegenheit viel mehr steckt. Mit von Hohenstein stimmt etwas nicht."

„Ich weiß, dass du das denken tust, du wirst ja nie müde, es zu erwähnen."

„Er hat kürzlich mit mir über Kunst gesprochen, Iwan. Und er wurde fast emotional dabei."

Iwan lachte leise. „Von Hohenstein und emotional? Das tue ich nicht glauben."

„Ich sage doch, dass mit ihm etwas nicht stimmt."

Schritte auf dem Flur. Nikolai horcht auf und legte den Zeigefinger auf die Lippen, um dem Kosaken zu signalisieren, dass er nicht antworten sollte.

„Bring das Brett an, Iwan, schnell."

Iwan tat, wie ihm geheißen. In dem Moment, in dem er den Kopf zurückzog, flog die Tür auf und einer der Wachsoldaten trampelte herein. Hastig stellte sich Nikolai vor die verräterische Öffnung in der Wand.

„Mitkommen, Russe."

Nikolais Herz schien für ein paar Takte auszusetzen.

„Warum?"

Der Soldat zuckte mit den Schultern. „Hast Hofgang. Komm jetzt!"

War die Isolationshaft etwa zu Ende? Das ergab keinen Sinn. Er hatte doch noch gar nichts verraten. Vermutlich war es nichts weiter als eine neue absurde Methode, um ihn zu quälen, auch wenn sich ihm nicht erschloss, was sie bezweckte.

„Hofgang?", wiederholte er verständnislos. „Warum?"

„Befehl des Majors. Wenn du dich nicht gleich bewegst, mach ich dir Beine, geht alles von meiner Pause ab!", fuhr ihn der Wachposten an, als er sich nicht gleich rührte. Verstohlen schielte Nikolai über die Schulter, sah zu seiner Erleichterung, dass Iwan die Lücke verschlossen hatte und folgte dem Soldaten nach draußen.

Er hatte geglaubt, das Gefühl, Sonnenstrahlen im Gesicht zu spüren, vergessen zu haben. In der Tat fühlte es sich fremd und merkwürdig an. Die sanfte Wärme, die über seine Haut streichelte, löste ein Kribbeln in ihm aus, als versetze sie sein eingefrorenes Blut in Bewegung, das ihn mit neuer Lebensenergie flutete. Ob der gleißenden Helligkeit konnte er die Lider nur einen Spalt öffnen. Es grenzte an Schmerz, wie die Strahlen in seine Augen stachen und ihn blendeten. Er kam sich vor wie in einem surrealen Traum. Fast erwartete er, fliegende Pferde oder dergleichen zu sehen, doch als er sich an das Licht gewöhnte, war da nur das gewöhnliche Leben, das die ganze Zeit normal weitergelaufen und an ihm vorbeigezogen war. Er konnte es kaum fassen, drehte sich im Kreis, als befinde er sich an einem Ort von atemberaubender Schönheit, den er zum ersten Mal in seinem Leben erblickte. Der Stacheldrahtzaun, die Wachtürme mit Maschinengewehren, die hölzernen, eintönigen Baracken; all das, was ihn vor wenigen Wochen noch mit Schrecken erfüllt hatte, erschien ihm jetzt wie das Paradies auf Erden.

Endlich gab es mehr zu sehen als Pritsche, Eimer und Spinnweben, er hörte Stimmen, irgendwo in der Ferne Hufgeklapper und Vogelgezwitscher. Statt Holz, Staub und Fäkalien roch er den nach Alkohol stinkenden Atem des Wachsoldaten, vermischt mit dem Geruch von Pferden und Früchten, den der Wind zu ihm herübertrug. Es war keine sonderlich angenehme Mischung, aber Nikolai sog den Duft gierig in sich auf, denn es war etwas anderes als sonst. Das Schönste allerdings war die Tatsache, dass er von Menschen umgeben war. Nicht nur das - sie sprachen sogar mit ihm, selbst wenn es nur knappe, harsche Befehle waren, aber immerhin war es irgendetwas.

Er konnte sein Glück kaum fassen und gab dem Drang nach, die Arme auszubreiten, die Handflächen nach oben zu drehen und das Gesicht der Sonne entgegenzurecken. Zu gerne hätte er gewusst, warum von Hohenstein ihm diese Annehmlichkeit gewährte. Lag es an ihrer letzten Unterhaltung? War er nachgiebiger geworden? Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen, dass sich ein Mann wie der Major aufgrund eines Gespräches über Kunst erweichen ließ. Es musste etwas anderes dahinter stecken.

Ein Gewehrlauf drückte ihm in den Rücken.

„Weiter, Russe", befahl der Wachsoldat. „Einmal am Zaun entlang."

Nikolai wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ein junger Soldat mit karottenfarbenem Haar auf sie zuhielt. Er winkte dem Wachmann zu. „He, Werner, hast du nicht Mittagspause?"

„Eigentlich schon", seufzte der Angesprochene, „aber ich soll zuerst mit diesen Drecksrussen Gassi gehen."

„Wenn du mir heute Abend einen ausgibst, übernehme ich das für dich."

Das Gesicht des Mannes namens Werner hellte sich auf und er klopfte dem Rothaarigen freundschaftlich auf die Schulter. „Danke dir."

„Keine Ursache."

Der Rothaarige wartete, bis Werner außer Sichtweite war, bevor er vor Nikolai salutierte. Abermals glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Ein deutscher Wachsoldat erwies ihm Respekt?

„Otto Hagen, Herr Leutnant", stellte sich der junge Mann vor.

Zögerlich erwiderte Nikolai den Salut.

„Nikolai Fjodorowitsch Orlow."

Der Rothaarige lächelte verhalten. „Ich weiß."

„Du bist der Otto?"

„Ja, Herr Leutnant."

Das zaghafte Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen, das eine Reihe erstaunlich gerader Zähne entblößte. Blickte man in das rundliche, kindlich wirkende Gesicht des Soldaten mit den großen blauen Augen, wäre man im Traum nicht darauf gekommen, dass er gerissen genug war, einen Offizier wie von Hohenstein auszuspionieren. Sein Körperbau ließ ebenfalls auf einen komplett harmlosen Jungen schließen. Die feldgraue Uniform schlotterte ihm von seinem mageren Leib, als müsse er befürchten, dass er jeden Moment aus ihr herausrutschte.

„Lassen Sie uns ein Stück gehen", schlug Otto vor. „Sie hatten sicher lange keine Bewegung mehr."

Nikolai nickte zustimmend. Er ging voraus, während Otto ihm mit dem Gewehr im Anschlag folgte.

„Wir können uns leise unterhalten, aber sehen Sie nicht über die Schulter. Es sollte niemand erfahren, dass wir miteinander sprechen."

„In Ordnung. Weißt du, warum von Hohenstein mir Hofgang gewährt?"

„Bedaure, Herr Leutnant."

„Hast du ansonsten noch etwas über ihn herausgefunden?"

„Ich habe mich ein wenig umgehört, aber niemand scheint viel über diesen Mann zu wissen oder ihn gar näher zu kennen. Sicher, sein Name ist den meisten aufgrund seiner heldenhaften Taten ein Begriff, aber damit hört es auf. Ich habe das Gefühl, als würde er nicht wollen, dass jemand etwas über ihn erfährt."

„Dann vermutest du ebenfalls, er könnte ein Geheimnis haben?"

„Es wäre nicht ausgeschlossen. Ich habe ihn beobachtet und soweit ich das erschließen kann, scheint er mit niemandem mehr als das Nötigste zu sprechen. Wenn die Offiziere beisammenstehen, befindet er sich immer ein Stück von ihnen entfernt, als gehöre er nicht dazu. Bei den geringsten Vergehen verteilt er drakonische Strafen, sowohl bei den Gefangenen als auch bei seinen Untergebenen. Das Auffälligste ist jedoch, dass er im Gegensatz zu den anderen Offizieren nach Dienstschluss nicht das Lager verlässt. Nicht langsamer werden, Herr Leutnant und sehen Sie bitte nach vorne."

Sofort richtete Nikolai seinen Blick geradeaus und ging schneller. Das Lager war so gut wie leer um diese Tageszeit. Die meisten Gefangenen befanden sich auf den ihnen zugeteilten Höfen zur Zwangsarbeit. Er entdeckte nur ein paar wenige verlotterte Gestalten, die mit stumpfen, leeren Augen im Dreck saßen, ungewaschen und unrasiert wie er selbst. Bei ihrem Anblick kratzte er sich unwillkürlich im Gesicht. Er wollte endlich diesen lästigen Bart loswerden. Nicht nur, dass er wie verrückt juckte, es war eine zusätzliche Demütigung für ihn, dass er als Offizier und Angehöriger der Oberschicht gezwungen war, wie ein Bettler aufzutreten. Beschämt richtete er seinen Blick auf den Boden, als könne ihn das davor bewahren, dass andere ihn in diesem entwürdigenden Zustand sahen.

„Er hat ein Quartier im Lager?", hakte Nikolai verwundert nach.

„Offenbar, aber sicher bin ich mir natürlich nicht, schließlich habe ich nicht immer Zeit, ihn zu beobachten."

„Warum sollte er das tun?"

„Das ist eine gute Frage, Herr Leutnant."

Nikolai überlegte. Wenn sich die Besitztümer des Majors nicht in der Nähe befanden, so hätte man ihm in der angrenzenden Stadt doch sicher eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er es im Lager so behaglich fand, dass er es gar nicht mehr verlassen wollte. Es sei denn ... Nein, unmöglich, das konnte nicht sein. Oder doch? Er wagte kaum, diesen absurden Gedanken auszusprechen, aber er konnte ihn unmöglich für sich behalten.

„Glaubst du ... nun ja ... ich meine, könnte es sein, dass der Major selbst unter Arrest steht?"

Ottos Schritte hinter ihm verlangsamten sich, wurden zögerlicher. „Warum sollte ein hoher deutscher Offizier in einem Kriegsgefangenenlager unter Arrest stehen?"

Nikolai hob die Schultern. „Wenn ich das wüsste. Es ist nur eine Vermutung, vergiss es am besten."

„Nein, nein, wir sollten diesen Gedanken auf jeden Fall weiterverfolgen. Ich halte nichts für ausgeschlossen."

„Du riskierst viel für einen Fremden, noch dazu für einen Feind und das alles nur für Iwan?"

„Ich schulde ihm mein Leben, Herr Leutnant. Ich würde alles für ihn tun", erwiderte Otto mit einer solchen Inbrunst, dass es Nikolai einen Stich versetzte. Niemand würde so etwas für ihn tun.

„Loyalität ist eine edle, durchweg bewundernswerte Eigenschaft, die nur die besten Menschen besitzen. Ich sage immer, dass es nicht die Offiziere sind, die ihr Vaterland stolz machen, sondern die einfachen Soldaten mit ihren schlichten, aber aufrichtigen und ehrenhaften Gemütern."

Es konnte nicht schaden, sich ein wenig bei Otto einzuschleimen, vielleicht spornte ihn das zusätzlich an, ihm zu helfen. Schließlich musste er nicht wissen, dass Nikolai seine Treue in Wahrheit für dumm hielt, immerhin brachte sie ihm keinerlei Vorteile. Er sollte nicht traurig darüber sein, dass er nie in den Genuss solcher Beziehungen und den damit verbundenen Motiven gekommen war. Sie machten einen Menschen schwach, waren schlichtweg unpraktisch und hinderlich für die eigenen Ziele.

„Sie schmeicheln mir, Herr Leutnant. Nicht viele Offiziere denken wie Sie. Allmählich verstehe ich, was Iwan an Ihnen findet."

Nikolai grinste in sich hinein. Wie einfach die meisten Menschen gestrickt waren.

„Iwan ist mir eine große Hilfe."

„Er ist ein guter Mensch."

Nikolai war froh, dass Otto nicht sehen konnte, wie er das Gesicht verzog. Er beschloss, das unkommentiert zu lassen. Scheinbar wusste sein Bewacher nicht, in welchem Verhältnis er und Iwan zueinanderstanden und er hielt es für besser, dass das so blieb.

Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, die seine Aufmerksamkeit fesselte. So unauffällig wie möglich versuchte Nikolai, hinzublicken. Außerhalb des Stacheldrahtzaunes, dort, wo sich die Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude des Lagers befanden, standen sich zwei Männer gegenüber, der eine groß und dünn, der andere klein und untersetzt. Unwillkürlich hielt Nikolai den Atem an. Er brauchte nicht lange, um zu realisieren, wer diese Männer waren. Von Hohenstein hätte er selbst in einer Masse aus tausenden Menschen auf den ersten Blick erkannt. Der andere war Kompaniefeldwebel Reiser. Sie unterhielten sich miteinander, waren jedoch zu weit entfernt, sodass Nikolai nichts verstehen konnte. Es war ein kurzes Gespräch, nicht mehr als ein rascher Wortwechsel zwischen Tür und Angel. Reiser reichte dem Major einen Ordner, den Nikolai ebenfalls identifizieren konnte. Es war das Verhörprotokoll. Gebannt starrte er darauf, als besitze er die Fähigkeit, es zu röntgen und auf diese Entfernung zu lesen.

Von Hohenstein nickte knapp, fasste sich an die Offiziersmütze, wie er es stets zu tun pflegte und wandte sich ab. Der Kompaniefeldwebel salutierte und verschwand in einem der Verwaltungsgebäude. Warum hatte er die Unterlagen dem Major gegeben, statt sie an den ihnen zugedachten Platz in der Schreibstube oder wenigstens dem Lagerkommandanten zu bringen?

„Hast du das gesehen?", raunte Nikolai Otto zu.

„Ja, Herr Leutnant. Ich schätze, ich werde Werner versetzen müssen und heute Abend mit Reiser trinken. Vielleicht kann ich ihm auf diese Weise etwas über das Protokoll entlocken."

Als der Hofgang beendet war und er wieder in seine Zelle sollte, erlitt er einen erneuten Anfall. Seine Beine sträubten sich, diesen Raum jemals wieder zu betreten, diese todbringende, mörderische Dunkelheit, die ihn mehr und mehr verzehrte. Nie wieder wollte er hier herein, er wollte im Licht bleiben, den Wind auf seiner Haut spüren, die Sonne, die ihn im Gesicht kitzelte ... Er wollte alles, nur nicht das. Voller Verzweiflung wand er sich im Griff des Wachsoldaten, wehrte sich nach Kräften, schlug um sich und dann begann er zu schreien, laut und durchdringend.

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