17.

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Noch lange machte sich Nikolai Gedanken über die Zeichnung und die Worte, mit denen sie versehen worden war.

R.v.H.

Die Abkürzung v.H. stand für von Hohenstein, das war gewiss. R. musste sein Vorname sein. Irgendwie interessierte es ihn brennend, wie der Major wohl heißen mochte, wie ihn seine Familie und Freunde nannten, sofern er denn welche besaß. Da er von Einsamkeit gesprochen hatte, vermutete er, dass sie bei ihm wohl eher eine Mangelware darstellten.

Gleichzeitig verwirrte ihn irgendetwas an der Zeichnung. Als er sie noch einmal betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass es der Stil war. Ihm kam der Bleistiftstrich bekannt vor, diese Lockerheit darin, die allerdings nicht mit einer Reduktion von Details einherging, im Gegenteil. Von Hohenstein hatte seine Gesichtszüge erstaunlich exakt festgehalten, ebenso die Stimmung der ganzen Szenerie. Fieberhaft überlegte er, woran ihn diese Art zu zeichnen erinnerte, kam jedoch nicht darauf. 

Außerdem verstand er nach wie vor nicht, was dieser Mann mit dem seltsamen Ausflug hatte bezwecken wollen. Hatte er geahnt, dass er, Nikolai, die Beherrschung verlieren und ihm endlich sagen würde, was er wissen wollte? Aber warum hatte er dann nicht weitergefragt? Natürlich war es von Vorteil, das Datum zu kennen, an dem die Offensive beginnen sollte, aber viel würde das allein nicht nützen.

Wollte oder brauchte er die Informationen nicht mehr? Warum saß er dann immer noch hier, in dieser grauenvollen Zelle und warum bekam er mit einem Mal so viel mehr zu essen, dass er sogar wieder satt wurde und an Gewicht zulegte?

Selbst ein Gespräch mit Iwan brachte ihm keine Erleuchtung.

„Keine Ahnung, Bübchen, das ist alles so undurchsichtig, ich tue den Überblick verlieren."

„Hatten wir denn je einen?"

„Ich sicher nicht, aber du als Adeliger tust doch so schlau sein."

Nikolai verdrehte die Augen. Das war einer der Gründe, warum er Dinge wie die Zeichnung vor diesem Mann verschwieg. Sie waren zu unterschiedlich, um sich einander wirklich anvertrauen zu können. Von Hohenstein hatte recht, wenn man im Schatten wandelte, war man allein, es gab niemanden, der einen verstehen konnte. Man wurde stets nur für seine Handlungen verurteilt.

„Was ist, Bübchen? Tut es dir ausnahmsweise mal die Sprache verschlagen haben?"

Nikolai antwortete nicht. Er starrte die gegenüberliegende Wand an und wünschte, er könnte sich der Müdigkeit hingeben, die nicht mehr aus seinen Knochen weichen wollte.

„Bübchen? Was ist los mit dir? Willst du mir keinen neuen Auftrag für Otto geben?"

Nikolai schüttelte den Kopf. „Nein."

„Hä? Wieso nicht?"

„Weil es keinen Sinn hat. Ich kann von Hohenstein nicht besiegen."

Iwan schwieg überrascht und blinzelte ihn verwirrt an.

„Woher tut diese plötzliche Meinungsänderung kommen?", fragte er schließlich. „Was ist auf eurem Spaziergang passiert?"

Nichts, dachte Nikolai, nur dass ich trotz aller Bemühungen den Verstand verloren habe und kurz davor war, mich von dem Major umbringen zu lassen, damit ich all das hier nicht mehr ertragen muss.

Er sprach es nicht laut aus.

„Ich dachte, du tust so ehrgeizig sein?"

Auch darauf antwortete er nicht. Er wusste schlichtweg nicht, was er sagen sollte.

„Sag bloß, du hast aufgegeben?"

Nikolai zuckte mit den Schultern. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Völlig unerwartet packte Iwan ihn am Oberarm. „He, Bübchen, das ist doch nicht dein Ernst?"

„Wir hatten ein Gespräch ...", begann er zögerlich und sah dabei zu Boden. „... das etwas verändert hat. Trotzdem sitze ich hier noch. Er wird mich niemals freilassen, egal, was passiert, egal, was ich tue. Es ist aussichtslos."

Seine eigenen Worte schockierten ihn. Aufgeben war nie eine Option für ihn gewesen, doch die Dinge hatten sich geändert. Es war zu viel passiert, um leugnen zu können, dass er sich nicht verändert hatte. Sein altes Leben, sein Tänzerdasein, gehörte der Vergangenheit an und er sah keinerlei Hoffnung für seine Zukunft. Seine Eltern hatten ihn enterbt, er wäre ein verarmter Adeliger, der keine Aufgabe mehr im Leben hatte, wenn er nicht vorher in diesem Kriegsgefangenenlager verrottete.

„Das stimmt nicht ganz. Wenn du ihm seine heißgeliebten Informationen geben tust, tut er dich freilassen, oder nicht?"

„Ich weiß es nicht, Iwan. Allmählich glaube ich, dass es hier in Wahrheit gar nicht um die Brussilow-Offensive geht."

„Wie kommst du darauf?"

„Während unseres Ausfluges hätte er die Gelegenheit gehabt, mir alles zu entlocken, was ich weiß."

Iwan zog die Stirn kraus. „Wie das?"

„Das ist unwichtig. Jedenfalls hat er es nicht getan."

„Was sollte er denn sonst von dir wollen?"

Abermals zuckte Nikolai mit den Schultern.

„Und was jetzt?"

„Nichts jetzt."

„Du tust also wirklich aufgeben?" Der Kosake klang, als wäre er unfähig, das zu glauben. Nikolai hatte seine Entscheidung getroffen.

„Ja."

Erneut war es eine Weile still. Ihrer beider Atem war das Einzige, was zu hören war.

„Du verdammter Idiot", zischte Iwan so unvermittelt, dass Nikolais Kopf nach oben ruckte.

„Bitte?"

„Wenn du aufgibst, habe ich auch keine Aufgabe mehr, dann werde ich hier drinnen genauso verrückt wie du."

Nikolai verstand nicht, warum ihn das kümmern sollte. „Du kannst ja weiter nachforschen, wenn du willst."

Iwan schnaubte verächtlich. „Dann habe ich aber kein Motiv mehr."

„Das ist dein Problem."

Der Kosake blickte auf seine Pranken hinab, die sich in seine dreckige, löchrige Uniform gekrallt hatten. Als er wieder aufsah, fragte er leise: „Wie heißt du eigentlich?"

„Nikolai. Freunde nennen mich Kolja."

„Die du nicht hast."

Eine Mischung aus Belustigung und Verbitterung huschte über Nikolais Mundwinkel. „Richtig."

„Schön, dann also Nikolai."

„Wie lautet dein Name?"

„Das tust du doch wissen."

„Ich meine deinen vollständigen Namen."

„Iwan Iwanowitsch Koslow."

„Woher kommst du?"

„Aus Nowosibirsk in Sibirien, aber meine Familie tut ursprünglich aus dem Kaukasus stammen."

Nikolai nickte langsam. „Hast du noch Papier und Stift für mich?", fragte er wie aus dem Nichts. Iwan warf ihm einen irritierten Blick zu. „Äh, ja, wieso?"

„Ich brauche einen neuen Zeitvertreib."

                                                                          *

Eine Woche später holte Major von Hohenstein ihn erneut zu einem Spaziergang ab. Wieder wurde ihm gestattet, sich davor zu waschen und zu rasieren.

Dieses Mal ging es direkt nach Quedlinburg. Nikolai freute sich darauf, dass er nach so langer Zeit wieder eine Stadt sehen würde und er war voller freudiger Erwartung. Ihm war zu Ohren gekommen, es würde dort einen Dom geben und er hoffte, dass sie ihn besuchen würden. Die Chancen standen gut, wenn man bedachte, dass von Hohenstein ein ebensolcher Kunstliebhaber zu sein schien wie er selbst.

Das Bild, das sich ihm in Wahrheit bot, war ein gänzlich anderes. Keine Spur von Kunst, Kultur oder Schönheit. Das Quedlinburg, das er betrat, war düster, hungrig und deprimierend. Überall waren Bäume an den öffentlichen Plätzen abgeholzt worden, die kopfsteingepflasterten Straßen strotzten vor Unrat und in den kleinen, verwinkelten Gassen, die sich um heruntergekommene Fachwerkhäuser schlängelten, gingen nur wenige Menschen ihrer Wege. Ihre Kleider waren bestenfalls schlicht, meistens jedoch bestanden sie nur noch aus Lumpen, die von ihren abgemagerten Leibern schlotterten, herunterhingen wie von der Wäscheleine. Sie verschmolzen regelrecht mit ihrer bedrückenden Umgebung.

Ein Mann mit nur einem Bein humpelte, schwer auf Krücken gestützt, an ihnen vorbei, ein anderer, dem beide Arme fehlten, kauerte an einer Hauswand, einen flehentlichen Ausdruck in den müden, traurigen Augen. Neben ihm befand sich ein umgedrehter, abgetragener Hut. Wie beiläufig schnippte von Hohenstein im Vorbeigehen eine Münze hinein, doch Nikolai war das angespannte Zucken, das flüchtig über seinen Mundwinkel huschte, nicht entgangen. Er selbst konnte sich nicht entscheiden, ob er hin- oder wegsehen wollte.

An der Front hatte er zerfetzte Leichen, abgetrennte Gliedmaßen, Fleischwunden und die schlimmsten Knochenbrüche gesehen, aber dass er in einer Stadt, fernab des Kriegsgeschehens, Zeuge eines solches Elends werden würde, damit hätte er nicht gerechnet. Es traf ihn heftig und völlig unvorbereitet. Ob es in St. Petersburg – oder besser Petrograd, wie es mittlerweile hieß – genauso aussah?

Sie bogen um eine Ecke und trafen auf eine Gruppe von Kindern, die Fangen spielten. Vergnügt lachend und quietschend jagten sie einander und sobald sie den jeweils anderen erwischten, brachen sie in laute Jubelrufe aus. Nikolai starrte ungläubig. In Galizien hatte er so viele Flüchtlingskinder gesehen, dass er beinahe vergessen hatte, dass diese Geschöpfe spielen und umhertollen konnten.

Unvermittelt blieb er stehen, um sie zu beobachten und plötzlich war da eine grenzenlose Leere in ihm, ein riesiges Loch, das sich immer weiter ausdehnte. Es war, als habe er eine fremde Welt betreten und das lag nicht daran, dass er sich im Feindesland aufhielt. Es schien, als könne er die schlichtesten Dinge des Alltages nicht mehr verstehen. Er sah die Kinder, sah, wie sie sich Grimassen schnitten und miteinander rauften und war außerstande, den Sinn dahinter zu begreifen. Nicht einmal die Worte auf den Schildern, die bestimmte Gebäude als Bäckereien, Metzgereien oder Wirtshäuser auswiesen, erschlossen sich ihm.

Er fühlte sich, als beobachte er die Welt von außen, als sei er kein Teil von ihr, ein stummer Zuschauer, der nie dazugehört hatte und nie dazugehören würde.

Gerade, als er weitergehen wollte, fiel ihm auf, dass von Hohenstein wie zu einer Salzsäule erstarrt war. Auch er beobachtete die Kinder, aber als Nikolai seinem Blick folgte, wurde ihm bewusst, dass er einen speziellen Jungen im Auge hatte. Er war in etwa zehn Jahre alt, besaß dunkles, lockiges Haar und stand ein Stück abseits von den anderen, als traue er sich nicht, an ihrem Spiel teilzunehmen.

Etwas Seltenes geschah: Der unnahbare, gefühllose Ausdruck in den Augen des Majors verschwand und schuf einer Empfindung Platz, die mit Wehmut oder gar Trauer zu vergleichen war. Es war lediglich ein flüchtiges Aufflackern, schwach und kaum wahrnehmbar. So schnell, wie es aufgetreten war, verschwand es und von Hohenstein setzte wieder seine Maske aus Eis auf.

Hatte ihn dieses Kind an jemanden erinnert? An einen Neffen oder gar an einen Sohn? Irgendwie war es Nikolai nie in den Sinn gekommen, dass von Hohenstein Vater sein könnte, dabei war das nicht einmal abwegig. Er war ein Mann in seinen Dreißigern, die meisten hatten in diesem Alter Kinder.

Fast war Nikolai froh, als sie die Szene hinter sich ließen, doch was er dann sah, übertraf alles, was er hier bisher zu Gesicht bekommen hatte. Auf einem Baumstumpf saß ein in Fetzen gehüllter Mann mit zotteligem Bart und viel zu langen, verfilzten Haaren. Die Knie eng an den Leib gezogen, zitterte er wie Espenlaub. Eigentlich war zittern nicht einmal der richtige Ausdruck, vielmehr handelte es sich um ein unkontrolliertes Zucken jeder einzelnen Gliedmaße, ein ungeheures Beben, das den ganzen Körper schüttelte und ihn auf das Unnatürlichste verrenkte.

Nikolai wurde speiübel. Bittere Galle schoss in seiner Kehle hoch und er stieß einen erstickten Laut aus. Er bekam keine Luft mehr, konnte mit einem Mal nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr tun. Er war gelähmt.

Dieser unbeschreibliche Zustand schien eine Ewigkeit zu währen und am liebsten hätte er in seiner Panik laut geschrien.

„Leutnant?" Zunächst klang die Stimme gedämpft, bis sie von Mal zu Mal an Klarheit gewann.

Die Schwärze vor seinen Augen lichtete sich zuerst in einem kleinen Punkt in der Mitte, bis sie immer weiter zurückwich und schließlich über die Ränder seines Sichtfeldes verschwand, sodass er wieder sehen konnte. Major von Hohenstein stand vor ihm und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, er sehe besorgt aus.

„D ... d ... der Mann d ... d ... dort b ... b ..."

„Schon gut."

Versuchte dieser Mann etwa gerade, ihn zu beruhigen?

„D ... d ... das b ... b ... bin ich", brachte er mühsam hervor, den Blick auf die armselige, zuckende Kreatur gerichtet.

„Nein, das sind nicht Sie."

„D ... doch!" Es klang schrill, aber Nikolai scherte sich nicht darum. „S ... S ... So werde ich enden!"

„Lassen Sie uns weitergehen."

„W ... w ... warum tun sie das? W ... w ... warum lassen sie diese Männer auf der Straße leben?"

Nikolai konnte nicht begreifen, wieso diese Männer, die für die widerwärtigen Interessen ihres Kaisers in den Krieg gezogen waren, weggeworfen wurden wie kaputte Maschinen, warum man sich nicht um sie kümmerte, warum sie bettelnd im Dreck saßen, ohne Hilfe, ohne Aufmerksamkeit, ohne alles.

„Weil sie das verkörpern, was man mit aller Macht versucht, vor der Öffentlichkeit zu verbergen: Das wahre Gesicht des Krieges", antwortete Major von Hohenstein. Er wandte das Gesicht ab, ehe Nikolai nach Anzeichen einer Empfindung darin suchen konnte.

Auf unsicheren Beinen folgte er dem Major, die vier Wachsoldaten von ihrem letzten Spaziergang im Schlepptau.

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