4.1

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Neben dem Lärm war es vor allem das Gefühl, von der Außenwelt isoliert zu sein, das Nikolai in den Wahnsinn trieb. Außer Ratten jagen, essen und sinnlose Gespräche führen gab es nichts zu tun. Es gab auch nichts zu sehen, außer Betten, Tisch und Tür. Er war allein mit seiner Todesangst, seiner Verzweiflung und seinen Gedanken, die immer um das Selbe kreisten. 

Er war allein, obwohl er seine Kameraden um sich hatte. Keinen von ihnen konnte er einen Freund nennen, mit niemandem sprach er mehr als das Nötigste. Es gab schlichtweg nichts, was sie einander zu sagen gehabt hätten. Nicht einmal aus dem Weg gehen konnte er ihnen, so wie er es sonst zu tun pflegte. Er bekam jede ihrer Stimmungen mit, die wie seine eigene beständig zwischen Angst, Verzweiflung, Resignation und Wut wechselte. 

Hin und wieder schwappten diese Gefühle über, einem viel zu vollen Wasserglas gleich und sie beschimpften sich, gaben sich gegenseitig die Schuld an ihrer Situation und diskutierten endlos über Nichtigkeiten. Er hörte jedes ihrer Geräusche, das nicht vom Donnern der Artillerie übertönt wurde, jedes Schnarchen, jedes Husten und jedes Stöhnen derjenigen, die von Albträumen gemartert wurden. 

Der Major über ihm, der es in der nächsten Nacht im Gegensatz zu Nikolai schaffte, einzuschlafen, schnarchte, grunzte und pfiff beim Ausatmen. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, wackelte das Stockbett, als hätte sich ein Elefant herumgewälzt.

Nikolai dachte und dachte und dachte, bis er das Gefühl hatte, sich in dem ganzen Gewirr, das in seinem Kopf herrschte, zu verfangen. Er dachte darüber nach, warum er sich überhaupt freiwillig an die Front gemeldet hatte. Wie alle anderen war er anfangs davon ausgegangen, dass dieser Krieg höchstens ein paar Monate dauern würde. Er hatte geglaubt, es könne seiner Karriere als Balletttänzer zuträglich sein, sollte er sich auf dem Schlachtfeld beweisen und möglicherweise als Held zurückkehren. Natürlich war jeder versäumte Tag beim Ballett schädlich für die Fortschritte, die er gemacht hatte, aber die verpassten Übungen aus drei oder vier Monaten hätte er mit viel Arbeit und Disziplin aufholen können.

Stattdessen war alles anders gekommen. Der Krieg war bereits zwei Jahre alt. Zwei Jahre, in denen er nicht getanzt hatte. Seine wenigen heimlichen Übungen an ruhigen Tagen waren nicht einmal der Rede wert. Selbst wenn der Krieg dieses Jahr zu Ende gehen sollte – wofür es keinerlei Anzeichen gab – würde er Ewigkeiten brauchen, um sein altes Niveau wieder zu erreichen. Vermutlich würde man ihn nicht mehr als Solist beschäftigen, sondern ihn zurück in das Corps de Ballet stecken, wo man nur unbedeutende Rollen im Hintergrund bekam.

Er kam nicht umhin, auch an seine Eltern und seinen jüngeren Bruder Ilja zu denken. Nun, da er die Befürchtung hegte, aus diesem Bunker nicht mehr lebend herauszukommen, bedauerte er es, im Streit mit ihnen zu liegen.

Nachdem er zum Ballett gegangen war, hatten sie ihn enterbt und Ilja als Nachfolger eingesetzt, der sich sehr darüber gefreut hatte. Er war ohnehin immer eifersüchtig auf Nikolai gewesen, weil er der Ältere und somit der Erbe war. Deshalb hatten sie nie ein gutes Verhältnis zueinander gepflegt. Obwohl sie ihn aus der Familie ausschlossen, schickten sie ihm trotzdem regelmäßig Geld. Schließlich hätte es dem Ansehen der Familie Orlow in der Öffentlichkeit geschadet, sollte ihr ältester Sohn in bescheidenen Verhältnissen leben.

Das war ihnen schon immer das Wichtigste gewesen: Das öffentliche Ansehen. Es war einer der Gründe gewesen, warum sie seine Entscheidung, Tänzer zu werden, so erzürnt hatte. Sie schämten sich dafür, dass er sich vierzehn Stunden am Tag körperlich abrackerte wie ein Bauer, obgleich ein Sohn aus einer Adelsfamilie das nicht nötig hatte. Er passte nicht in die gesellschaftliche Rolle, in die sie ihn zwängen wollten und dafür verurteilten sie ihn. 

Anfangs taten sie seine Leidenschaft für das Ballett als kindliche Begeisterung ab, die schnell verfliegen würde. Allein deshalb erlaubten sie es ihm als Siebenjährigen überhaupt, Ballettunterricht zu nehmen. Sie waren der Meinung, dass es ihm zur Vorbereitung auf das Leben nicht schaden könne, Disziplin zu lernen und dabei etwas für die physische Gesundheit zu tun.

Ihr Fehler war es, die Auswirkungen eines Lebens an der Waganowa-Ballettakademie des Mariinski-Theaters auf ein Kind zu unterschätzen. Es war eine komplett abgeschiedene Welt, in der sich alles, wirklich alles um den Tanz drehte. Zwar wurde er dort auch in allgemeinbildenden Fächern unterrichtet, doch der Großteil seiner Tage war bestimmt vom Ballett. Hartes Training, unerschütterliche Strenge, gnadenloser Drill und unerbitterlicher Konkurrenzkampf. 

Daraus bestand sein Leben; aber auch aus inbrünstiger Liebe zur Kunst, aus dem Verlangen, selbst zu einem Kunstwerk zu werden und die Menschen zu verzaubern. Er lebte und atmete, nur um zu tanzen, nichts anderes interessierte ihn mehr, nichts anderes wollte er.

Als seine Eltern ihn als Jugendlichen von der Akademie nehmen wollten, damit er endlich im richtigen Leben Fuß fasste und seine Pflichten wahrnehmen konnte, stellte er sich zum ersten Mal gegen sie und eröffnete ihnen, dass er ihrem Wunsch nicht Folge leisten wolle. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sein Herz raste und er jeden Moment mit einer Tracht Prügel rechnete. 

Noch heute erstaunte es ihn, dass es dazu nicht gekommen war. Normalerweise brauchte es weit weniger, um seinen Vater zu erzürnen. Es hatte lediglich eine lange Diskussion gegeben, aber Nikolai hatte sich nicht umstimmen lassen. In Schimpf und Schande hatte ihn Fjodor Sergejewitsch Orlow aus dem Haus gejagt und es ihm bis heute nicht verziehen, dass er es gewagt hatte, sich gegen ihn zu stellen.

Seitdem sah Nikolai seine Familie nur noch an Weihnachten und Ostern, wobei sie kaum mehr als oberflächliche Höflichkeiten austauschten.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 5:51 Uhr war. Er wartete, bis sie exakt 5:55 Uhr anzeigte, bevor er aus dem Bett stieg und begann, in dem Bunker aufzuräumen. Er sammelte die auf dem Tisch verstreuten Karten zusammen, stapelte sie so perfekt, dass man meinen konnte, er hätte ein Lineal angelegt und verstaute sie in der Box, in die sie hineingehörten. 

Irgendeiner hatte sein Feldgeschirr stehen lassen. Nikolai sammelte es zusammen und legte die einzelnen Utensilien so zurecht, dass jedes Teil fünf Zentimeter vom anderen entfernt war. Um 5:55 Uhr wählte er also einen Abstand von fünf Zentimentern. Nikolai musste zum ersten Mal in den dreiunddreißig Stunden, die sie hier schon ausharrten, lächeln. Es erfüllte ihn mit einer unsinnigen Befriedigung.

In der folgenden Zeit klammerte er sich an solchen Zahlen fest und ließ sie sein Leben mehr als je zuvor bestimmen. Das hatte ihm immer schon geholfen und dieses Mal bewahrte es ihn davor, vor Angst zu sterben, davon war er überzeugt. 

Er erschuf die Illusion eines geregelten Alltages, obwohl hier nichts einer Regel oder auch nur dem Hauch von Alltag unterlag. Er stand jeden Tag um 5:55 Uhr auf und beseitigte zuerst die Unordnung, wobei er sich bei allem, was er tat, an die Zahl fünf hielt. Um 6:55 Uhr begann er mit der Rattenjagd und freute sich, wenn er exakt fünf erwischte. Um 15:55 tat er das Gleiche noch einmal. Schon bald merkte er, wie es ihn mit Ärger erfüllte, wenn es einmal nur drei oder vier waren. Selbst mit sechs war er nicht zufrieden. Sechs war nicht fünf. An diesem Tag frustrierte ihn das so sehr, dass er seine Pistole in die Ecke warf und schrie: „Fünf, ich wollte fünf!"

„Sind Sie verrückt?", empörte sich Major Baranow. „Der einzige, der hier herumbrüllt, bin ich!"

Nikolai hielt die erlegte sechste Ratte am Schwanz gepackt und wollte sie gegen die Wand schleudern, doch ihn verließ die Kraft. Er hatte das Gefühl, als würden sich seine Muskeln in Pudding verwandeln. Von einem Reflex gesteuert, den er nicht kontrollieren konnte, lockerte sich sein Griff um das tote Tier und er ließ es fallen. Verschwitzt und mit einem Mal unsicher auf den Beinen stand er da und wich den irritierten Blicken seiner Kameraden aus. 

Kraftlos ließ er sich auf sein Bett sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Dieses Donnern, dieses fürchterliche Donnern! Wieder einmal stieg Panik in ihm auf und raubte ihm die Luft. Lieber Gott, er würde hier sterben. Er würde seine Heimat nie wieder sehen, das prunkvolle Mariinsky-Theater, den Winterpalast, die berühmten Weißen Nächte in St. Petersburg, in denen die Sonne nur für kurze Zeit untergeht und es nie richtig dunkel wird, sein Stadthaus... 

Vor allem würde er nie wieder tanzen. Nie wieder würde er schillernde Kostüme tragen, mit der Musik verschmelzen, sie tief in seinem Herzen fühlen und die Tanzschritte nahezu automatisch ausführen, weil sie für ihn eine logische Folgerung schöner Töne waren. Entsetzt fasste er sich an die Kehle und rang um Atem. Das durfte nicht sein. Erst als Baranow ihn bei den Schultern packte und schüttelte, wurde ihm bewusst, dass er japsende Laute ausgestoßen hatte, als wäre er kurz vor dem Ersticken.

„Verdammt, Leutnant, beruhigen Sie sich!"

Das Gegenteil war der Fall. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er seinen Vorgesetzten an. Seltsamerweise konnte er ihn nicht scharf sehen. Sein Gesicht verschwamm vor ihm und seine Stimme kam ihm unnatürlich laut und verzerrt vor. Er war gefangen in einer Blase aus Panik, die ihn wie eine Schlange im Würgegriff hielt und qualvoll jedes Leben aus ihm presste.

„Nein, ich will hier heraus! Es soll endlich aufhören!"

Auch seine eigene Stimme klang fremd, als gehöre sie einem anderen. Nikolai erkannte sie nicht wieder. Er fragte sich sogar, ob er das tatsächlich ausgesprochen hatte oder ob es Einbildung gewesen war. Wie ein Fisch auf dem Trockenen wand er sich im Griff seines Vorgesetzten. Warum hielt er ihn fest, wollte er etwa, dass er hier drinnen starb? Er wollte fliehen, einfach fliehen!

„Lassen Sie mich los!", rief er aus, so schrill, dass es ihm selbst in den Ohren schmerzte.

Da hörte er plötzlich ein Klatschen, gefolgt von einer Wucht, die ihn aufs Kissen schleuderte und einem brennenden Schmerz auf seiner rechten Wange. Der Major hatte ihm ins Gesicht geschlagen. Es war jener Schmerz, der etwas in ihm bewirkte. Es war, als würde er aus einem wirren Traum erwachen, der ihn zwar ausgelaugt und mit abklingendem Entsetzen, aber klar im Kopf zurückließ.

Er sah den Major wieder scharf vor sich und seine Stimme klang normal, als er ihn fragte: „Sind Sie wieder bei Besinnung?"

Nikolai atmete schwer, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Was war da gerade mit ihm geschehen? Etwas derart Beängstigendes hatte er noch nie erlebt.

„Ja", krächzte er schwach. Er fasste sich an die Wange, immer noch ungläubig.

„Tut mir leid, das musste sein." Mit diesen Worten wandte sich der Major von ihm ab. Nikolai blieb liegen. Er fühlte sich, als hätte jemand jegliche Kraft aus ihm gesaugt und eine nutzlose Hülle zurückgelassen.

Der Kompanieführer stellte sich in die Mitte des Raumes und sah die Offiziere der Reihe nach an, bevor er zum Sprechen anhob. „Männer, ihr dürft euren Mut nicht verlieren. Die beschissenen Deutschen können uns nicht ewig beschießen. Ich bin davon überzeugt, dass wir höchstens noch einen Tag hier vor uns hingammeln werden. Denkt daran, wir sind ein Stück von der Front entfernt, uns wird nichts passieren, auch wenn die Geräusche furchterregend sind. Reißt euch verflucht nochmal zusammen, ihr seid Soldaten, keine hysterischen Weiber."

Nikolai betrachtete seine Kameraden. Die Worte des Majors schienen nichts an ihrer Stimmung zu ändern. Mit ihren grauen, ausgezehrten Gesichtern und den stumpfen Blicken wirkten sie wie lebende Tote. Manche umklammerten ihre Ikonen, andere starrten ins Nichts und reagierten erst nach mehrmaligem Ansprechen. Er war nicht der Einzige, dem die Situation den Verstand raubte. Das erleichterte ihn.

Obschon sein Geist in ständiger Alarmbereitschaft war, merkte er, wie ihn Müdigkeit überkam. Er kämpfte dagegen an, doch es war ein aussichtsloses Gefecht, in dem der Verlierer von Beginn an feststand. Gegen die Natur konnte man nicht gewinnen. Sein Körper forderte den dringend benötigten Schlaf mit Gewalt ein, weil Nikolai es nicht freiwillig tat. 

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro

#ballett