6.

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„Los, beweg dich, scheiß Kosake."

Der deutsche Wachmann stieß ihm so heftig in den Rücken, dass Nikolai strauchelte. Ich bin kein Kosake, hätte er am liebsten klargestellt, doch er hielt den Mund. Er hatte schon zu viel gesagt, das ihn in Schwierigkeiten gebracht hatte. Er wusste nicht, was das für ein Beruhigungsmittel gewesen war, das der Arzt ihm gespritzt hatte, aber es hatte seine Sinne derart vernebelt, dass er zu dem deutschen Offizier, der bei seiner Abholung dabei war, gesagt hatte, er solle zur Hölle fahren. Als Strafe hatte dieser ihn in ein Mannschaftslager geschickt. 

Verstohlen sah Nikolai sich um, während ihn die beiden Wachen über die riesige Anlage des Kriegsgefangenenlagers Quedlinburg zerrten. Hinter den dutzenden, länglichen Holzbaracken, die lieblos und ohne jeden Sinn für Schönheit in die Landschaft gesetzt worden waren, ging die Sonne unter und tauchte die Dächer in ein unwirkliches, orange-goldenes Licht. 

Der doppelreihige Stacheldrahtzaun, der das Areal umgab, wirkte, als würde er glühen und damit angeben wollen, welch höllische Waffen er für den Fall eines Ausbruchversuches zur Verfügung hatte. In Anbetracht der Wachtürme mit Maschinengewehren, die in der Mitte jeder Längsseite bedrohlich in den Himmel ragten, fragte sich Nikolai, wer auf einen solchen Einfall kommen sollte.

Die beiden Wachmänner hielten auf eine Baracke zu, die sich ein Stück abseits der anderen befand und öffneten die Tür. Nikolai zögerte. Seine Beine schienen mit dem Boden verschmolzen zu sein, sodass er sie nicht mehr bewegen konnte.

„Rein da, na los!"

Hilflos sah er über die Schulter, um einen letzten Blick auf den Sonnenuntergang zu erhaschen. Immerhin konnte er nicht wissen, ob es das letzte Mal war, dass er einen zu Gesicht bekam. Sanft streiften die letzten Strahlen des Tages seine Wange. Es war, als würden sie ihm Mut zusprechen wollen. Er atmete tief durch, bevor er seine Beine zum Weitergehen zwang und in das Barackeninnere trat. Ohne anzuklopfen, rumpelten die beiden mit ihm in eines der Zimmer.

Wässrige, stahlgraue Augen, die unter dicken, beinahe geschwollen wirkenden Lidern schwammen, lugten ihm von einem massiven Schreibtisch entgegen. Mit einem flauen Gefühl im Magen erwiderte Nikolai den Blick des schmächtigen Sekretärs, der verdutzt eine seiner buschigen Augenbrauen hob. Er musterte Nikolai wie ein seltenes Fundstück oder wie einen Exoten, bis sein Blick an den Schulterklappen von Nikolais Uniform hängenblieb.

„Nanu? Was ist denn das? Ein Leutnant?"

„Ja, im Lazarett aufgegabelt", antwortete einer der Soldaten, die ihn hergebracht hatten.

Der Gefreite hinter dem Schreibtisch beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, was er da sah. Nikolai krallte die Finger in den Stoff seiner Hose.

„Was macht der denn hier? Das ist ein Mannschaftslager."

„Er hat Hauptmann von Braun beleidigt."

Der Sekretär verzog den Mund. „Oh, ganz dünnes Eis. Das erklärt alles. Russe, wie?"

Nikolai war nicht sicher, ob die Frage an ihn gerichtet war, deshalb antwortete er vorsichtshalb nicht.

„Ja, was sonst?", erwiderte der Soldat.

Der Gefreite setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und zwirbelte unschlüssig an seiner Augenbraue, bis er eine Entscheidung traf. „Holt Kompaniefeldwebel Reiser, er sollte erfahren, dass wir einen russischen Offizier hier haben."

Sofort huschte einer der Soldaten los und kehrte nur wenig später mit einem stämmigen, dunkelhaarigen Mann Mitte oder Ende Vierzig zurück. Ein buschiger Schnauzbart zeichnete einen Halbkreis über seinen schmalen, verkniffenen Lippen. In einer Mischung aus Belustigung und Abscheu ließ er seine Augen über Nikolai wandern und stemmte die Hände in die Hüften. „Ein Leutnant, tatsächlich. Wirkt ein wenig zu filigran für harte Feldarbeit, was?"

„Der Lagerarzt hat ihn als arbeitstauglich eingeschätzt, Herr Kompaniefeldwebel", erwiderte einer der Soldaten.

„Wirklich?"

Der Kompaniefeldwebel, der offenbar Reiser hieß, stieß ein abfälliges Lachen aus. „Wenn's der Herr Doktor sagt... Besser ist's. Legen Sie eine Karteikarte für ihn an, Gefreiter."

Der Sekretär nickte. „Jawohl, Herr Kompaniefeldwebel."

Reiser verließ den Raum und schlug die Tür mit unnötiger Wucht zu, sodass Nikolai erschrak.

Der Sekretär sah Nikolai direkt in die Augen. „Na, dann wollen wir mal. Ihre Personalien."

Nikolais Mund öffnete sich in dem Versuch, eine Antwort zu geben, doch er brachte keinen Ton hervor. Vor seinem inneren Auge blitzte wie aus dem Nichts eine Erinnerung auf. Die von Blut und Schlamm bespritzten Gesichter seiner dezimierten Einheit starrten ihn erwartungsvoll an und hofften, dass er etwas sagte – vor allem, dass er das Richtige sagte. Dabei fehlten ihm jegliche Worte. Er wusste nicht, wie er es kommentieren sollte, dass zu ihren Füßen die in Einzelteile gesprengten Überreste ihrer Kameraden lagen. So plötzlich, wie das Bild erschienen war, verschwand es und ließ ihn allein in seinem Schrecken.

Irritiert presste Nikolai die Lippen wieder aufeinander. Der Sekretär schien nicht minder verwundert. Verdattert wandte er sich an seine Untergebenen. „Spricht er Deutsch? Brauchen wir einen Übersetzer?"

„Nein, er spricht Deutsch."

„Also, dann antworten Sie, Leutnant. Sie wissen schon, Name, Einheit und so weiter."

Nikolais Lippen bebten und scheiterten daran, ein vernünftiges Wort zu formen. Stattdessen stotterten sie nur hilflos den Buchstaben „N" hinaus. Etwas Feuchtes rann an seiner Schläfe entlang, bis er realisierte, dass es Schweiß war. Was war los? Warum konnte er seinen Namen nicht nennen? Er versuchte es noch einmal, doch erneut kam er nur bis zum „N".

Nikolai Fjodorowitsch Orlow, schrie sein Kopf ihn an.

Was war so schwer daran? Er hatte das Gefühl, ein Vakuum im Mund zu haben, das um keinen Preis einen Laut hinauslassen wollte. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen und löste sich nicht davon. Der Sekretär furchte verständnislos die Stirn und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. 

Nikolais Uniform war nassgeschwitzt. Sein Gegenüber musste den Eindruck gewinnen, er sei mehr als beschränkt. Genauso fühlte sich Nikolai in diesem Moment. Er konnte sich nicht erklären, was mit ihm los war. Um dieser unendlich peinlichen Situation entfliehen zu können und überhaupt irgendetwas zu sagen, versuchte er es in seiner Verzweiflung mit seinem Kosenamen.

„Kolja" Gewaltsam presste er dieses eine Wort hervor und spuckte es seinem Gegenüber unter Aufbereitung aller Kräfte vor die Füße. Das bescherte ihm noch mehr verdutzte Blicke. Der Sekretär legte den Kopf schief und lächelte gönnerhaft, als hätte er ein einfältiges Kind vor sich. Nikolai musste zugeben, dass er es ihm nicht verübeln konnte, so verhielt er sich ja schließlich.

„Der vollständige Name natürlich." Er sprach betont langsam. Nikolai deutete auf ein Blatt Papier und auf den Bleistift, der daneben lag, gepaart mit einem fragenden Blick.

Der Sekretär nickte. „Nur zu. Ich will hier nicht bis morgen sitzen."

Nikolais Finger schlossen sich um den Stift und hielten ihn so verkrampft, dass er in Panik zu verfallen drohte. Was, wenn er nicht einmal schreiben konnte? Seine Sorgen waren unbegründet. Er brachte seinen Namen und seine Einheit zu Papier, wenn auch mühevoll und in krakeliger Schrift. 

Der Sekretär übernahm die Informationen in die neu angelegte Karteikarte und quälte ihn mit weiteren Fragen. Er wollte wissen, wann und wo er geboren worden war, welcher Konfession er angehörte, wo er wohnte, ob er gegen Pocken, Typhus und Cholera geimpft war und welchen Beruf er vor dem Krieg ausgeübt hatte. Nikolai beantwortete alles schriftlich. Er wollte sich nicht noch mehr blamieren. Als er beim letzten Punkt Balletttänzer schrieb, wanderten die Augen des Gefreiten erneut über ihn. Er ließ es allerdings unkommentiert und fuhr mit seiner Arbeit fort.

Es schien Ewigkeiten zu dauern. Nervös beobachtete er die ungeschickten Hände des Deutschen, die unglaublich langsam auf einer Schreibmaschine tippten, deren monotones Klacken Nikolai wahnsinnig machte. Er betrachtete die Dokumente, die nahezu den gesamten Tisch bedeckten und fein säuberlich aufgestapelt waren. Nicht einmal er hätte daran etwas aussetzen können. 

Seine Augen suchten den schlichten, schmucklosen Raum ab, dessen einzige Zierde ein Portrait Kaiser Wilhelms darstellte. Da knallte der Sekretär einen Stempel auf seine Unterlagen und schlug sie geräuschvoll zu. Die unerwartete Lautstärke brachte Nikolais Herz zum Rasen.

„So", ließ sich der Mann vernehmen. „Das wärs fürs Erste."

Er nickte den beiden Soldaten zu. „Bringt ihn in seine Baracke."

Seine Baracke war ein spärlich eingerichtetes Gebäude, in dem sich insgesamt zweihundertfünfzig Gefangene befanden, wie ihm gesagt wurde. Die Gebäude wurden durch Querwände in Hälften geteilt. Die Hälfte, die ihm zugeteilt wurde, bewohnte etwa ein Dutzend russischer Kriegsgefangener, die in Holzbetten oder vor einem Ofen in der Mitte saßen. Es roch nach ungewaschenen Körpern und verbrauchter Luft. 

Nikolai beschlich ein seltsames Gefühl. Hier drinnen herrschte keine gute ... ja, wie sollte er es nennen? Aura? Es klang merkwürdig, aber das war das einzig passende Wort. Es war, als würden die Menschen in diesem Raum in Farben schimmern und die meisten davon waren rot – rot wie Bedrohung. Er spürte das sofort. Es kam ihm vor, als hätte man ihn in eine Löwengrube geschickt. 

Zögerlich trat er ein. Die Bodenbretter knarrten unter jedem seiner Schritte, während er versuchte, die Augenpaare, die sich regelrecht in ihn bohrten, zu ignorieren. Ein dunkelhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem zotteligen Bart versperrte ihm den Weg und baute sich vor ihm auf. Seine braunen Augen funkelten feindselig.

„Aha, was haben wir denn da", höhnte er. „Einen Leutnant."

Am liebsten hätte Nikolai die Augen verdreht. Nicht noch einer, der ihn begutachtete, als wäre er eine seltene Kuh auf einem Markt.

„Was tust du hier machen?"

Nikolai verzog das Gesicht. Was fiel diesem Rüpel mit seiner grauenvollen Satzkonstruktion ein, ihn zu duzen?

„He, ich habe dich etwas gefragt."

Nikolai tat so, als würde er den Mann nicht beachten und überlegte, ob er etwas entgegnen sollte. Wenn er wieder keinen Ton herausbrachte, würde er sich blamieren, doch wenn er ihm diese Frechheit durchgehen ließ, würde ihm jeder auf der Nase herumtanzen.

„Ich kann dich nicht hören. Vielleicht solltest du es einmal mit ,Sie' versuchen."

Ein vollständiger Satz. Nikolai triumphierte innerlich. Vermutlich war er vorhin schlichtweg aufgeregt gewesen. Der Mann vor ihm brach in schallendes Gelächter aus und drehte sich mit ausgebreiteten Armen zu den anderen um.

„Hört ihr das, Männer? Dieser Drecksoffizier hält sich selbst in dieser misslichen Lage noch für etwas Besseres."

Unfein packte er Nikolai am Kragen und kam seinem Gesicht so nahe, dass er die hellen Sprenkel auf der Iris des Gefangenen erkennen konnte. „Jetzt tu mir mal zuhören, du aufgeblasener Gockel, du hast hier gar nichts zu melden. Du bist kein Aristokrat mehr, du bist ein schmutziger Kriegsgefangener wie wir alle. Wenn du das vergessen tust, schlitze ich dir die Kehle auf und sobald wir hier herauskommen, tue ich deinesgleichen wie Schweine abschlachten, jeden einzelnen von ihnen. Ist das klar?"

Nikolai versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen und zwang sich, zurückzustarren. Er wusste, dass die einfache Bevölkerung unzufrieden war mit den mittelalterlichen Strukturen in Russland und er erinnerte sich an die abfälligen Gesichter seiner Männer, wann immer er sich ihnen gegenüber hochnäsig verhalten hatte. Ihm war jedoch nicht bewusst gewesen, dass es so schlimm war, dass ihr Hass so groß war. Nikolai nahm all seinen Mut zusammen und antwortete so fest und bestimmt wie möglich. „Lass mich los und tritt zur Seite."

Die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen, schienen Funken zu sprühen. Nikolai wurden die Knie weich. Er wollte keinen Ärger, sondern einfach in Ruhe gelassen werden.

„War das ein Befehl oder eine Bitte?"

„Das kannst du dir aussuchen und jetzt mach, was ich sage."

Er war überrascht, wie bestimmt seine Stimme klang, obwohl er innerlich schlotterte.

„Bitte mich."

Allmählich verwandelte sich Nikolais Anspannung in Wut. Was glaubte dieser Mensch, wer er war? Er hatte ihm nichts getan und genau wie alle anderen wollte er nur eines: überleben. Er hatte kein Recht, ihn zu bedrohen und zu demütigen. 

Seine animalischen Instinkte erwachten und da Flucht nicht möglich war, blieb ihm nur der Kampf. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten, bereit, sich zu verteidigen. Seine Erinnerungslücken, seine Gefangennahme, die unerklärlichen Panikanfälle und die Blamage von eben stimmten ihn nicht gerade versöhnlich. Dazu legte er alles, was er an Autorität aufbieten konnte, in seinen Ton, bevor er bedrohlich leise und betont langsam wiederholte: „Geh-mir-aus-dem-Weg."

Der Unruhestifter musste die Veränderung in seinem Auftreten bemerkt haben, denn sein Ausdruck verlor etwas von seiner Aggressivität.

„Komm, lass gut sein, Iwan", ertönte eine Stimme von weiter hinten. „Du weißt doch, wie hart die Wachmannschaft gegen jede Art von Ausschreitung vorgeht. Abschaum wie er ist es nicht wert, das zu riskieren."

Eine Weile überlegte der Gefangene, vermutlich, um den Schein zu wahren. Dann ließ er Nikolai los und tat, wie ihm geheißen, wobei er ihm feindselig nachsah. Nikolai erschauderte. Er hatte recht gehabt. Hier war er nicht unter Seinesgleichen, die Männer dort hassten ihn mehr als sie die Deutschen verabscheuten. Wahrlich, er befand sich in einer Löwengrube und er fragte sich, wann sie ihn in Stücke reißen und verschlingen würden.  

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