Prolog

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Schwäne müssen weiß sein.

All die wundervollen, schillernden Ballette vermitteln einem dieses Gefühl.

Odette.

Ein weißer Schwan, ein strahlendes, übernatürlich schönes Wesen. Die Gute, der Liebe eines Prinzen würdig.

Eine Schande, wenn auch nur ein einziges Tier aus der Art schlägt und mit seinem schwarzen Gefieder das Ansehen seiner Artgenossen beschmutzt, egal wie elegant es sich gibt.

So wie Odile, die Hinterlistige, die Unedle, die Ehrlose.

Nikolai war wie Odile.

Er war der schwarze Schwan.

Mit klopfendem Herzen und erbeutetem Schlüssel sperrte er die Umkleide auf. Bevor er eintrat, warf er einen unruhigen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass niemand ihn gesehen hatte. So leise wie möglich schloss er die Tür hinter sich und sah sich um. Angesichts der Unordnung und dem üblen Geruch getragener Ballettschuhe, der schwer in der stickigen Luft hing, verzog er das Gesicht. Diverse Kostüme in allen nur erdenklichen Farben und Variationen lagen überall verstreut. Typisch für ihn, dachte Nikolai. Wahrscheinlich war er mit keinem einzigen davon zufrieden und hat sie allesamt achtlos in die Ecke geworfen. Er konnte es sich ja leisten, denn er war einer der besten Tänzer des Theaters. 

Aus diesem Grund war er Nikolai ein Dorn im Auge. Er war immer schon der Liebling der Lehrer gewesen, bereits als sie sich noch in Ausbildung befunden hatten. Jetzt hatte er zum wiederholten Male eine begehrte Rolle in der abendlichen Vorstellung erhalten, während Nikolai sich mit der Zweitbesetzung zufriedengeben musste. Das war untragbar, denn es ging um nichts Geringeres, als den Blauen Vogel in Dornröschen zu tanzen, eine wichtige Nebenrolle. Nun, das musste ja nicht so bleiben. Nikolai kannte seinen Feind, seit seiner Jugend beobachtete er ihn genau, seine Stärken und Fehler, seine Angewohnheiten und Macken. Darum wusste er, dass Alexej Wladimirowitsch Smirnow in seiner Umkleide immer ein Glas Wasser stehen hatte, das er stets gewissenhaft austrank, auch wenn es noch von gestern war. Er dachte, es bringe Glück.

Heute nicht. Nikolai ließ die Hand in seine Hosentasche wandern und befühlte das kleine Glasfläschchen, das ihm dabei helfen würde, seine Karriere voranzutreiben. Langsam, als fürchte er, eine zu schnelle Bewegung könne es zerbrechen, zog er es aus seiner Kleidung und starrte einen Augenblick lang auf die klare Flüssigkeit darin. Er zögerte. Sollte er wirklich? Wollte er seinen Erfolg auf Lügen und Intrigen aufbauen und dabei einem anderen Menschen schaden? Er schluckte schwer. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, als wollte sie ihn allein für den Gedanken an eine solch schändliche Tat mit Sauerstoffentzug bestrafen.

Obwohl sein Verstand ihn anschrie, es nicht zu tun, öffnete er das Gefäß. Es stand für ihn einfach zu viel auf dem Spiel. Er musste als Künstler Fuß fassen. Dass er es nach seinem Abschluss an der Kaiserlichen Ballettschule zuerst geschafft hatte, in die Kompanie aufgenommen zu werden und es anschließend zum Solisten gebracht hatte, stellte keine absolute Sicherheit dar. Genauso schnell, wie man aufsteigen konnte, konnte man auch wieder fallen. Er musste noch weiterkommen, Premier danseur werden. 

Er ermahnte sich, sich zusammenzureißen. Was er zu tun gedachte, würde Alexej nicht umbringen, ihn lediglich einen Abend lang mit Übelkeit und Erbrechen vom Tanzen abhalten. Noch einmal sah sich Nikolai gehetzt um. Wenn man ihn hierbei erwischen würde, dann... nicht auszudenken. Nein, man würde ihn nicht ertappen. Niemand war hier. Also ließ er den Inhalt der kleinen Flasche in das Glas tropfen. Konzentriert beobachtete er, wie das Wasser in Bewegung versetzt wurde und kleine Kreise zeichnete, dort, wo die unheilvollen Tropfen seine Oberfläche durchbrachen.

                                                                        ***

4:44 Uhr

Auf die Minute genau betrat Nikolai den Ballettsaal des St. Petersburger Mariinski-Theaters, heilfroh darüber, dass er ungesehen aus der Umkleide gekommen war. Die Anspannung fiel allmählich von ihm ab und er lächelte zufrieden. So sah ein gelungener Start in den Tag aus. Er hatte dafür gesorgt, dass er heute Abend in Dornröschen tanzen konnte. Auch ansonsten war an diesem Morgen alles nach Plan verlaufen. Er war um 3:33 Uhr aufgestanden, hatte um 3:50 Uhr sein Frühstück eingenommen und um 4:14 Uhr sein Stadthaus in der Nähe des Newski-Prospekts verlassen. Zum Theater benötigte er fünfzehn Minuten, also war er um 4:29 Uhr angekommen. Berechnete man weitere fünfzehn Minuten für den Weg zu den Räumen und zum Umkleiden, war er um 4:44 Uhr bereit, mit seinen Übungen zu beginnen. So wie jeden Tag - und das, obwohl er heute noch etwas zu erledigen gehabt hatte. Mehrere gleiche Ziffern hintereinander erfüllten ihn seit jeher mit einem Gefühl tiefer Befriedigung. Sie gaben ihm das Gefühl, sein Leben unter Kontrolle zu haben, während die Welt um ihn herum im Chaos versank.

Sie war so fehlerhaft, diese Welt, so grausam, so voller Heimtücke und Gefahren, die ihn seit seiner Kindheit mit einem Entsetzen erfüllten, das ihm so manches Mal den dringend benötigten Schlaf raubte. Dabei war er selbst nicht besser. Alexej hatte sich immens über seine Rolle gefreut. Nikolai atmete einmal tief durch, um seine negativen Gedanken zu vertreiben. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, sich seinen Ängsten und Zweifeln hinzugeben. Um sich zu beruhigen, genoss er einen Moment lang den Anblick des leeren Saales und die Ruhe des frühen Morgens. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich wie goldene Fühler durch die an der Ostseite gelegenen Fenster und tauchten den riesigen Raum in ein nahezu unwirkliches Licht. Sie nahmen den kahlen Wänden, den riesigen, blank polierten Spiegeln, die nichts, wirklich gar nichts verziehen und jeden noch so kleinen Fehler aufzeigten, etwas von ihrer Strenge und ihrer kühlen Nüchternheit. Die Fenstersprossen warfen lange Schatten auf dem frisch geputzten Boden und zeichneten ein interessantes Muster darauf.

Die gleiche Welt, dachte er fasziniert, die mir solche Angst bereitet, ist im selben Augenblick so wunderschön, dass es schmerzt. Er riss sich von dem Anblick los, stellte seine Tasche an den gleichen Platz in der Ecke wie immer und begann mit den Aufwärmübungen an der Stange. Seine Hand schloss sich um das glatte Eschenholz, das ihm so vertraut war wie die Stimme seiner Mutter und ihn augenblicklich mit einem warmen Gefühl von Sicherheit durchströmte. Seine Finger passten sich der Rundung so perfekt an, als hätte er nie in seinem Leben etwas anderes gemacht, als wäre er mit ihr geboren worden. 

Der Unterricht würde erst in über zwei Stunden beginnen, doch Nikolai fing für gewöhnlich früher an als die anderen Tänzer. Wenn man besser sein wollte als alle anderen, musste man auch härter arbeiten als alle anderen.

Nach ein paar Fußdehnungen und Lockerungsbewegungen ging er zum Plié über. Er beugte die Beine tief, perfekt symmetrisch zueinander, hielt sich mit der einen Hand fest und zeichnete mit der anderen einen Halbkreis von der Mitte seines Körpers hinüber zur Seite. Dabei neigte er sich zur Stange. Er beobachtete sich genau im Spiegel, um zu erkennen, was er noch verbessern könnte. Sein Leben in den Dienst der Kunst zu stellen, war Fluch und Segen zugleich. Es war die höchste aller Freuden, aber gleichzeitig war es mit einem enormen Druck verbunden. Hier waren die Hände nicht schön genug, dort der Sprung zu laut, wann anders das Bein zu tief, die Schritte nicht vollkommen im Takt, der Gesichtsausdruck zu emotionslos... Wenn er eines gelernt hatte, dann dies: Ein Künstler war nie zufrieden mit sich selbst. Egal wie gut man war, es ging immer besser.

Nachdem er jede der fünf Positionen einmal beendet hatte, ging er zu dem Teil über, der ihm an diesem Tag am meisten Freude bereiten würde. In der Mitte des Saales probte er die Choreografie, die der Blaue Vogel aufzuführen hatte. Der Großteil seines Auftritts bestand aus einem Pas de deux, einem Paartanz, aber Nikolai stellte sich seine Partnerin einfach vor, ebenso die Musik. Obgleich die Töne nur in seinem Kopf existierten, durchfluteten sie seine Adern mit purer Energie und sobald er die ersten Bewegungen ausführte, war er nicht mehr Teil dieser Welt. Er hob vom Boden ab, schwebte durch den Raum, als tanze er auf Wolken, so federleicht fühlte er sich, so frei, so unbeschwert. Irgendwie war er tatsächlich wie ein Vogel, der in seinem goldenen Käfig wild mit den Flügeln schlug, um aus seinem Gefängnis ausbrechen zu können. So sehr er sich in seinem alltäglichen Leben darum bemühte, es gelang ihm ausschließlich beim Ballett. In der irdischen Welt existierte er, doch in der überirdischen des Tanzes lebte er. 

Schwerelos flog er durch den Saal, ganz und gar in den seidenen Mantel des Glücks und der Liebe gehüllt. Keine düsteren Gedanken quälten ihn mehr, keine Sorgen oder Ängste. Sein Kopf war wie leergefegt, es gab nur noch den Blauen Vogel und ihn.

Abrupt wurde die Tür aufgestoßen. Die Magie zerplatzte, der Vogel wurde aus seinem Traum gerissen und zurück in den Käfig gesperrt. Nikolai brach mitten in einer Pirouette ab und fuhr erschrocken herum. Die ersten Tänzer strömten in den Raum und störten seine Ruhe. Unvermittelt spannte er sich an, als wappne er sich für einen Kampf. Insgeheim wusste er, dass es tatsächlich einer war. Es war der ständige Kampf darum, gesehen zu werden, besser zu sein, herauszustechen. Sobald er sich unter seinesgleichen befand, war es vorbei mit seiner Unbeschwertheit und seiner Freiheit. Von diesem Augenblick an würde er eine Maske aufsetzen und sein wahres Gesicht verbergen müssen. 

Mit Schrecken musste er feststellen, dass Alexej direkt auf ihn zukam, sein feines, fast feminines Gesicht in einem Ausdruck verzerrt, der schwer zu deuten war. Nikolai wusste nur, dass er nicht erfreut wirkte. Ihn durchlief es eiskalt. Hatte er ihn durchschaut?

„Die Deutschen haben uns den Krieg erklärt", schleuderte sein Rivale ihm entgegen. „Jetzt ist es offiziell."

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