Kapitel 4.2 - Sand unter den Füßen

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62. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Es war Flut. Das spürte ich umso deutlicher, je näher ich der Meermündung kam. Jede Bewegung wurde schwerer und meine Haut schien überall zu jucken. Selbst das Atmen verursachte mir ein Brennen in den Lungen. Das Salzwasser machte mir zu schaffen, genau wie normalen Flussmenschen. Und die Flut spülte mehr und mehr davon in den See. Hinten beim Herzplatz, wo ich sonst immer war, merkte man davon nichts, aber so nah am Meer spürte ich die Auswirkungen des Salzes deutlich. Trotzdem schwamm ich weiter und bald sah ich Varonas hellen Fischschwanz vor mir.

Einen Moment lang zögerte ich. Sie sah so konzentriert aus, wie sie mit Orell, Sina, Koral und einigen anderen Flussmenschenkriegern reglos im Wasser schwebte, um irgendetwas in den Weiten des Meeres zu beobachten. Plötzlich schien ein Ruck durch sie hindurch zugehen. Sie drehte sich um und sah genau in meine Richtung.

>>Senga!<<, rief Varona mich an und schwamm direkt zu mir, ehe sie meine Hand nahm und mich strahlend anlächelte. >>Was tust du denn hier draußen? Das ist doch furchtbar ungemütlich bei Flut!<<

Kurz fragte ich mich, was sie dann hier draußen tat und weil wir zwischen uns noch immer kaum eine Wand zogen, bekam Varona diese Frage direkt mit. Doch sie quittierte sie nur mit einem Achselzucken. >>Orell meinte, er hätte ein paar Meermenschen in der Ferne gesehen und da ist Vorsicht immer besser als Nachsicht.<<

Meermenschen – ich wusste noch immer kaum etwas über sie. Nur, dass der Schwarm sie als permanente Bedrohung wahrnahm, obwohl sie mit Süßwasser wohl ebenso schlecht klarkamen wie Flussmenschen mit Salzwasser: Zu lange in zu hohe Dosis konnten sie umbringen. Doch diese natürliche Barriere schien nicht auszureichen, um die uralte Feindschaft auf sich beruhen zu lassen.

Von Varonas Seite her nahm ich ebenfalls ein tiefes Bedauern und ein resigniertes Kopfschütteln wahr. >>Vielleicht ändert sich da was in zwei oder drei Generationen daran<<, murmelte sie leise und irgendwie frustriert in unseren Gedanken, ehe sie mich wieder aufmunternd anlächelte. >>Aber egal. Zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Was kann ich für dich tun?<<

Diese Frage brachte mir schlagartig wieder mein eigentliches Anliegen in den Sinn. Zac. Wieder dachte ich an das Bild, dass ich von Varon aufgeschnappt hatte, sodass die Earis es auch sah. >>Varona, was ist mit Zac? Warum-<<

Wumm.

Ich blinzelte.

Völlig unerwartet war da eine Wand zwischen uns, die sorgfältig jeden ihrer Gedanke vor mir verbarg. Es war das erste Mal, dass sie mich derart ausgrenzte. >>Es ist alles okay. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.<<

Ich blickte sie ungläubig an. >>Ist das dein Ernst?<<

Wenn alles gut war, warum machte sie dann so ein Geheimnis daraus?

Sie wich meinen Blick aus, hielt ihre Wand aber trotzdem noch immer aufrecht. >>Alles gut, wirklich. Er – er will im Moment nur niemanden sehen. Woher hast du das überhaupt?<<

Die Art wie sie das sagte, machte mich verlegen. Trotzdem nahm ich mich zusammen und drückte den Rücken durch. >>Varon hat nach dir gesucht und mich gefragt, ob ich weiß, wo du bist. Dabei ist ihm ein Bild durchgerutscht.<<

In meinen Erinnerungen sah ich wieder das Bild von Zac: blass und krank. Augenblicklich schürzte Varona ungewöhnlich missbilligend die Lippen und ein Gedanke sickerte nun doch durch ihre langsam löchriger werdende Wand: Oh, diese Plaudertasche...

>>Er hat es ja nicht mit Absicht getan. Aber was ist denn nun mit Zac?<<, versuchte ich weiter zu argumentieren und sie seufzte geschlagen, ehe sie ihre Mauer wieder aufgab.

Plötzlich sah ich Zac, als Mensch, in einem stabilen Bett liegend, blass und kränklich, genau wie in Varons Erinnerung. >>Es geht ihm nicht gut<<, hörte ich Varonas ernste Stimme in meinen Gedanken. >>Er hat eine Gehirnerschütterung und kann kaum drei Schritte laufen, ohne dass ihm schwindlig wird, geschweige denn schwimmen.<<

Unerwartet und ungewollt überkam mich die Sorge.

>>Was hat er denn angestellt, das ihm eine Gehirnerschütterung eingebracht hat?<<, grummelte ich leise, was Varona mit einem langen Blick quittierte.

>>Ein Arbeitsunfall, sagt er<< Die Art, wie sie das sagte, machte deutlich, dass sie ihre Zweifel an dieser Aussage hatte, aber offenbar auch nicht mehr wusste.

>>Dann muss er wohl besser aufpassen, wo er seinen Hammer hinschwingt<<, murrte ich unwirsch und ich spürte den Hauch von Tadel in ihren Gedanken.

>>Wir wissen beide, dass du es nicht so meinst<<, sagte sie schließlich nach einem Moment des Schweigens.

Resigniert gab ich es auf, meine Sorge bei Seite schieben zu wollen, um sie zu verstecken. Es war sowieso sinnlos, es zu leugnen, wenn sie es in meinem Geist lesen konnte. >>Natürlich nicht!<<, schnappte ich plötzlich frustriert zurück, ohne selbst genau sagen zu können, woher diese Wut kam. >>Immerhin ist er...! Hat er..!. Keine Ahnung! Wo ist er jetzt?<<

Ein breites, schelmisches Grinsen huschte über Varonas ausdrucksstarkes Gesicht und sogar Suriki schien schadenfroh einmal um mich herumzuschwimmen, sofern Fische überhaupt auf eine schadenfrohe Art schwimmen konnten. >>Auf der Insel. Ich bring dich zu ihm.<<


Mit einem flauem Gefühl im Magen folgte ich Varona. Seit dem Tag meiner Schwarmeinführung vor neun Zyklen hatte ich keinen Fuß mehr an Land gesetzt, sodass mich die Möglichkeit, wieder Luft atmen zu können, fast schon schwindelig vor Aufregung machte. Und obwohl ich nicht genau wusste, wohin Varona wollte, wäre ich ihr fast vorweg geschwommen. Tatsächlich schwamm ich durchaus ein Stück weit vor, als eine der Plattformen, die als Übergang zur Insel dienten, in Sicht kam. Noch von meinem Ausflug mit Uhna wusste ich, dass hier eine wetterfeste, überdachte Truhe stehen würde, in der trockene Kleidung und Handtücher auf jene Schwarmmitglieder warteten, die hier an Land gingen. Aber wenn ich ehrlich war, wäre ich sogar nackt ans Ufer gesprungen, wenn ich nur wieder zwei normale Füße anstatt dieser Froschpaddel haben könnte. Doch als ich endlich bei der Plattform war, geriet ich wieder ins Stocken.

>>Varona<<, murmelte ich zaghaft als sie soweit aufgeholt hatte, dass ich ihre Hand berühren konnte. >>Wie soll ich denn an Land kommen? Zac ist nicht da und-<<

>>Huch? Hat dir das keiner gesagt? Seit der Schwarmeinführung kann dich jedes vollwertige Schwarmmitglied wieder in einen Menschen verwandeln.<<

Das hatte mir wirklich niemand gesagt. Hatten sie wohl vergessen. >>Musst du mich jetzt auch küssen, um mich zu verwandeln?<<

Das hatte Zac immer gemacht. Einen Moment lang spürte ich die Röte in meine Wangen steigen und mein Herz schneller schlagen. Doch das schob ich rigoros bei Seite. Er hatte mich verschleppt und gewaltsam seiner Familie angeschlossen. Da brauchte ich wegen so was wirklich nicht mehr verlegen werden. Ich spürte Varonas Lachen in meinen Gedanken. ‚Du bist es aber trotzdem...'

Frustriert versuchte ich, mich mehr auf meine Wand zu konzentrieren.

>>Aber nein: Ich muss dich nicht küssen. Zac hätte es übrigens auch nicht gemusst.<<

Aha.

>>Es hat die Sache nur einfacher gemacht. Die Magie der Flussmenschen bezüglich ihrer Flussbräute zielt auf die Seele, nicht auf den Körper, obwohl die Veränderungen direkt physischer Natur sind. Und die Magie lässt sich viel einfacher einpflanzen oder wirken, wenn die Seele des Opfers-<<

>>Opfer? Wie nett.<<

>>Entschuldige. Die Seele des Betroffenen. Wenn sie in Aufruhr ist, wirkt die Magie einfacher. Eine ausgeglichene Seele ist viel schwerer bis gar nicht zu verzaubern. Eine körperliche Berührung wie ein Kuss ist ideal um eine Seele durcheinander zu bringen. Da du das Ritual der Schwarmeinführung aber vollendet hast, ist die Wassermagie tief genug in dir verankert, dass so etwas nicht mehr nötig ist.<<

Fasziniert hörte ich Varona zu, obwohl ich nicht alles verstand. Nachdem sie mich das letzte mal so wehement abgeblockt hatte, hatte ich nicht versucht, noch einmal mit ihr über Magie oder die Eary zu sprechen. Nichtsdestotrotz war ich neugierig. Magie war so selten, so von Gerüchten umwogen und so schwer greifbar, dass sie bis zu meiner Entführung durch Zac eigentlich kaum eine Rolle gespielt hatte, von den Irrlichtern in unserem Wald einmal abgesehen. Daher war es nun auch das erste Mal, dass mir jemand die Zusammenhänge von Magie erklärte. Bisher hatte ich immer gedacht, dass Magie einfach irgendwie passierte. Dass es dazu anscheinend feste Regeln gab, war mir nicht bewusst gewesen.

>>Gilt das für jede Form der Magie?<<, fragte ich neugierig nach und Varona stockte. Einen Moment lang geisterten in ihrem Kopf viele Assoziationen, die ich allesamt nicht zuordnen konnte. Vielleicht von sich zu Hause?

Ganz langsam schüttelte Varona den Kopf. >>Nein<<, sagte sie schließlich. >>Magie ist... komplexer.<<

>>Aber-<<

Doch in dem Moment drückte ihre Hand ein wenig fester zu und von dieser Berührung ausgehend, erfasste ein Kribbeln meinen ganzen Körper. Es traf mich völlig unvorbereitet und ich ächzte überrascht auf, als die fast vergessene Qual wieder einsetzte, die jede Verwandlung begleitete.

Und dann atmete ich das erste Mal seit Wochen wieder Luft.


An Land war es kalt. Aber es war mir egal. Ich hatte endlich wieder Sand unter den Füßen. Und Wind in den Haaren. Sie wieder in ihrer eigentlichen, roten Farbe zu sehen, machte mich schon glücklich, denn an den Grünton, den sie schon ein paar Meter unter der Wasseroberfläche annahmen, hatte ich mich zwar gewöhnt, wirklich gefallen tat es mir aber trotzdem nicht. Vielleicht konnte ich daran etwas ändern, wenn ich noch mal fragte, woran das lag. Das letzte Mal, als es mir jemand erklärt hatte, hatte ich kaum zugehört. Es hing irgendwie damit zusammen, dass das Wasser den Rotanteil des Sonnenlichts herausfilterte, oder so.

Doch das war jetzt auch nebensächlich. Genießerisch schloss ich die Augen, während mir eine kühle Brise sanft über mein Gesicht streichelte und sich mein Körper in den sauberen, trockenen Kleidern langsam wieder aufwärmte. Nicht zuletzt um etwas Zeit zu schinden, ging ich den Kies bestreuten Weg zu den sieben kleinen Häuschen in der Mitte der Insel nur langsam. Trotz des knirschenden Kies unter meinen Füßen, hatte sich eine ungewohnte Stille um mich herum ausgebreitet. Da war niemand, der eine Gedankenverbindung zu mir aufbaute. Ich hörte die Rufe des Schwarms nicht mehr in meinem Kopf.

Ich war allein.

Und dann auch wieder nicht.

Vor mir lief Varona und jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran, dass sie zu den Eary zählte. Und obwohl ich es in der Theorie gewusst hatte, hatte ich es nie wirklich für voll genommen und kaum einen Gedanken darauf verschwendet. Bis jetzt, wo wir an Land waren. Sie war so unmenschlich, ich konnte sie nur noch anstarren.

Außer ihr bekanntes Gesicht, das auch unter Wasser die gleichen hellen, zierlichen Züge trug, war nichts an ihr menschlich oder irgendwie vertraut. Der Rest war... anders. Sie war noch immer klein, ging mir knapp bis zur Schulter.

Doch im Gegensatz zu mir, brauchte sie keine Kleidung. Sie war über und über mit unterschiedlich großen, papierdünnen, leise raschelnden Flügelchen bedeckt. Jedes einzelne so filigran und perfekt wie ein Insektenflügel – und genau so schillernd schienen sie in der matten Nachmittagssonne bei jeder Bewegung in allen Farben matt zu schimmern. Manche dieser Flügel waren so groß, dass sie sich wie ein eng anliegendes Oberteil über ihren ganzen Oberkörper zogen. Andere, die sich über ihre Oberarme erstreckten waren gerade einmal fingernagelgroß. Und wenn sie ihre Arme locker hängen ließ, fügten sie sich so nahtlos ein, dass es so wirkte, als würden sie mit dem Rest des Körpers verschmelzen. Und die Beine konnte man unter all den schimmernden Flügeln nicht einmal erahnen. Wieder blinzelte ich sie an. Wenn ich die Augen ein Stück weit zusammenkniff, sah es so aus, als trüge sie ein weites Kleid, das mit jeder Bewegung seine Form und Farbe änderte.

Wie ihr Körper darunter wohl aussah? Irgendwie glaubte ich nicht, dass er menschlich war, denn ihre Bewegungen hatten nicht den fließenden Rhythmus menschlicher Schritte, sondern eher die staksende Grazie eines laufenden Reihers. Hatte sie überhaupt Beine? Oder eher Vogelfüße? Zumindest ihre Hände... es fing bei den Ellenbogen an. Darüber war alles noch von diesen seltsamen Flügelchen bedeckt, doch ab den Unterarm wichen sie Haut - nur keiner menschlichen. Eher dem grau-ledrigen Horn von Vogelbeinen. Auch die Hände sahen mehr wie vierfingrige Vogelklauen aus – nur mit mehr Gelenken, was sie gleichzeitig unglaublich beweglich machte.

Doch das, was mich am meisten aus der Fassung gebracht hatte, war Suriki. War er vorher noch ein kleiner, weißer Fisch gewesen, war er in dem Moment, als seine Herrin an Land gekommen war, ein kleiner, eleganter, weißer Drache geworden, der federleicht auf ihrer Schulter Platz genommen und sich um ihren Hals geschlängelt hatte.

Zusammen sahen die beiden trotz ihrer kleinen Größe so furchterregend und fremd aus, dass ich noch immer kein Wort herausbekam.


Schließlich standen wir vor einer der sieben Hütten der Insel. Allerdings nicht die, in der ich mit Uhna vor meiner Schwarmeinführung gewesen war. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass vier der anderen sechs einstöckigen solide gemauerten kleinen Bauernhäuser eher Lager waren, als wirklich bewohnbar. Da Varona nahezu reglos neben mir stand und nur Suriki mich nicht aus den Augen ließ, ging ich davon aus, dass wir am Ziel unseres kleinen Spaziergangs waren, zumal durch die geschlossene Tür auch leises, unverständliches Stimmengemurmel zu hören waren. Wer war denn da noch bei Zac?

Und nun? Unsicher starrte ich auf die Tür vor mir. Ohne, dass ich lange darüber nachdachte, suchten meine Hände nach denen von Varona. Die dunkel geschuppten Finger fühlten sich fremdartig, rau und kühl in meinen Handflächen an und trotzdem war ich erleichtert. Sie mochte ja jetzt anders, gruseliger aussehen, aber sie war noch immer meine Freundin.

Ein Schwall wohlvertrauter Freude sprühte zu mir herüber, als sie den letzten Gedanken auffing und meine Hand fester hielt. Die Gedankenverbindung wirkte schließlich auch in dieser Gestalt – und ihr Geist war noch immer das gleiche, bunte, gutgelaunte Chaos, das ich kannte. >>Keine Sorge, Senga. Die Jungs beißen nicht und du musst ja keinen von ihnen berühren.<<

≥>Warte. Die Jungs? Was meinst du damit?<<

>>Na Varon und Ricco sind bei ihm. Jemanden mit Gehirnerschütterung soll man schließlich nicht allein lassen. Jetzt klopf endlich. Mir wird kalt.<<

Varon und Ricco. Natürlich. Wer sonst? Immerhin war Varon nicht nur Zacs engster Freund im Schwarm, sondern auch sein Cousin. Trotzdem... Noch einmal atmete ich tief durch. Dann nahm ich allen Mut zusammen und klopfte. Ganz leise. Zu mehr reichte meine Kraft nicht und ich spürte Varonas Lächeln in meinem Kopf auch ohne sie anzusehen.

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