Vom Einlassen und Aussperren

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Wild und unwirtlich, wie das Blutdorngebirge ist, verwundert es nicht weiter, dass die Gegend bis heute weitgehend unerforscht geblieben ist. Nicht nur die giftige Pflanze, die den Bergen zwischen dem lavókanischen und dem tavagarischen Herrschaftsgebiet ihren Namen verliehen hat, schreckt Forscher und Abenteuerlustige gleichermaßen ab, sondern auch die Legenden, die sich seit Jahren um sie ranken und die auch heute noch viele Menschen mit Unbehagen erfüllen.

Ungeduldig übersprang Acarion mehrere Abschnitte, die sich mit diversem Aberglauben und dessen wissenschaftlicher Entkräftigung beschäftigten. Kindermärchen waren für ihn wohl kaum von Interesse.

Kaum bestritten in der modernen Forschung ist allerdings, dass ein Labyrinth aus Höhlen und Tunneln das Blutdorngebirge durchzieht. Aufgrund der bereits erläuterten mangelnden Forschung im Bereich der Gebirgskette sind die Ursachen seiner Entstehung unbekannt, aber seine Existenz gilt in Fachkreisen als Tatsache.

Acarion schob Geografische Eigenheiten Tavagariens entschieden zur Seite und ergriff den Bericht, dessen Kopie er vor wenigen Tagen erhalten hatte. Etwas wie Aufregung keimte in ihm auf, aber noch unterdrückte er das Gefühl. Erst musste er sicher gehen.

Die Metallimporte aus Lavókan lagen auch in diesem Rú-Zyklus wieder unter den vereinbarten, berichtete einer der königlichen Boten.

Es folgte eine lange Reihe von Zahlen und Prozentangaben, die Acarion vorläufig ignorierte. Ihn interessierte ein Abschnitt weiter unten.

Während die namérischen Truppen keine Einbußen zu vermelden haben, sind besonders die tavagarischen Städte Tavagar und Geran betroffen. Lavókan hat zu den Problemen nach wie vor offiziell keine Stellung bezogen. Uns erreichen lediglich die üblichen Meldungen, die Lieferungen seien frist- und vertragsgerecht auf den Weg über den Luven geschickt worden.

Ruckartig erhob Acarion sich. Der Bericht rollte sich mit einem leisen Rascheln wieder zusammen.

Jetzt konnte Raverion von seinen Erkenntnissen erfahren, sicherlich hatte er die Verbindung noch nicht hergestellt. Wie konnte er auch, wenn der Kreis der Vielen ihn von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit Problemen wie der angemessenen Kleidung für Angehörige des Hofes belästigte.

Mit energischer Geste griff Acarion sich den Bericht sowie die daneben liegende Karte Tavagariens und erlaubte der Aufregung, ihn zu durchfluten. Das Scharren seines Stuhls auf dem steinernen Boden zerriss die angenehme Stille seiner Bibliothek.

Als er sein Gewicht auf sein rechtes Bein verlagerte, biss er schmerzerfüllt die Zähne zusammen. Zwei Jahre waren seit dem Großen Krieg vergangen und langsam wandelten Acarions Zweifel bezüglich seiner angeblichen Heilung sich in Gewissheit. Die Schmerzen würden nicht wieder verschwinden.

Bevor er seine Bibliothek verließ, räumte er Geografische Eigenheiten Tavagariens wieder an seinen Platz im Regal zurück. Er würde sein Haus nicht in Unordnung zurücklassen.

An der Tür griff er nach seinem schwarzen Mantel und tastete unwillkürlich nach der einfachen Kette um seinen Hals. Sie war noch da. Wie immer.

Er zog sich die Kapuze über die dunklen Haare und streifte sich lederne Handschuhe über. Die neun eintätowierten Ringe – fünf schwarze, vier goldene – würden sonst nur unnötig Aufmerksamkeit erwecken und er wollte keinesfalls aufgehalten werden. Die Neuigkeiten duldeten keinen Aufschub.

Acarion schlug den direkten Weg zur Festung ein. Jeder Schritt sandte einen stechenden Schmerz in sein Bein.

Er warf nur einen kurzen Blick zurück. Ein zweistöckiges Gemäuer mit fünfeckigem Grundriss, das seinen Platz in dem Viertel sicherte, umrahmt von einem üppigen Garten. Kletterpflanzen wanden sich an einer Mauer hinauf, ein Umstand, den Acarion zunächst hatte verhindern wollen, dessen Vorteile er aber bald schätzen gelernt hatte. Es war praktisch, für den Zugang zu Veralenergie nicht jedes Mal in den Garten gehen zu müssen.

Auf der größten Straße in Richtung Me'lion hätte er sich über dieses Problem keinerlei Gedanken machen müssen. Blumen umrankten die Türen der Händler, die reich genug waren, einen Laden an der Hauptstraße zu unterhalten, Blumen schmückten die Statuen und Wasserspeier der unzähligen Brunnen, für die Tavagar so berühmt war. Blumen wurden in großen Kübeln von unnatürlich mit Muskeln bepackten Männern und Frauen am Straßenrand aufgestellt, sodass sie als Spalier den Weg zur Festung wiesen.

Der süße Blumenduft sorgte für das Gefühl, eine gigantische Parfümerie betreten zu haben.

Schon nach einer Biegung trat Me'lion in Acarions Blickfeld. Aus sandfarbenem Gestein erbaut und in eleganten Formen angelegt, war die Festung die wahre Königin von Tavagar. Sie thronte über der tavagarischen Hauptstadt und verschmolz an der hinteren Seite mit den Felsen des hinter Tavagar beginnenden Siongebirges. Doch die Königin war verletzt. Zwei der fünf Wachtürme Me'lions lagen noch immer in Trümmern, die Ruinen wie anklagende Finger in den Himmel des frühen Nachmittags gestreckt.

Das gigantische Tor am Kopfende des Platzes, der einen herrschaftlichen Freiraum vor der Festung schuf, wurde von sechs in blaue Uniformen gekleideten Stadtwachen flankiert. Als sie sahen, dass Acarion sich näherte, traten sie ohne eine Frage zur Seite.

Die schweren Torflügel wurden für ihn auseinandergestemmt. Unter seiner Kapuze verbarg er ein schmales Lächeln. Natürlich hätte er auch einen Seiteneingang nehmen können, wo das Öffnen einer Tür mit weniger Aufwand verbunden wäre. Auch dort kannten die Wachen ihn. Aber er mochte das Gefühl, das Herz der Macht von Tavagarien durch den Haupteingang zu betreten.

Der Weg zum Thronsaal erschien Acarion wie eine Ewigkeit. Endlose, leicht zu verteidigende Treppenfluchten und bis auf einen dicken Teppich schmucklose Steingänge reihten sich aneinander.

Vor dem Großen Krieg war Me'lion mehr Palast gewesen als Festung, doch Raverion hatte viele der Kostbarkeiten in den Wiederaufbau Tavagariens gesteckt. Ursprünglich reich verzierte Reliefs waren nun schmucklos, die ausgesparten Plätze für die Edelsteine anklagende Löcher.

Als Acarion die letzte Stufe hinaufstieg, zitterte sein Bein bei jedem Schritt. Schmerzpfeile schossen durch seinen Körper.

Im letzten Gang gestattete er sich den Luxus einer kurzen Pause. Er würde Raverion nicht atemlos wie ein einfacher Bote gegenübertreten. Als er um die nächste Ecke bog, gerade aufgerichtet und mit kaum mehr als einer Spur seines Humpelns, nahmen die zwei ebenfalls blau gekleideten Wachen vor dem Thronsaal sofort Haltung an.

Acarion setzte die Kapuze ab.

Sie traten nicht zur Seite.

Mit einem Hauch Irritation musterte er die beiden. Keiner von ihnen wagte es, dem Blick aus seinen dunklen Augen standzuhalten.

Er wartete.

Als keiner der Wachen Anstalten machte, ihn einzulassen, zog er langsam die Augenbrauen hoch.

„Was soll das bedeuten?", fragte Acarion schließlich kühl.

„Es tut mir leid, Herr", sagte der größere der Wachen, den Blick stur auf seine Stiefel gerichtet. „Ihr seid nicht gemeldet und der König hat signalisiert, nicht gestört werden zu wollen. Also ... von niemandem."

„Wann hat er das gesagt?"

Die beiden wechselten einen kurzen Blick. „Vor einiger Zeit, Herr."

Acarion stieß die Luft zwischen den Zähnen aus. „Die Neuigkeiten, die ich bringe, dulden keinen Aufschub. Sie sind essenziell für den König."

„König Raverion war in dieser Hinsicht recht deutlich", sagte nun der Kleinere. „Er hat betont, dass niemand einzulassen sei, auch nicht ... auch nicht Ihr."

Gereiztheit stieg in Acarion auf wie ein bitterer Geschmack. Raverion schloss ihn also aus, wenn er nicht mit unterwürfigem Buckeln einen Boten voranschickte.

„König Raverion konnte zu dem Zeitpunkt, zu dem er diese Anweisungen gegeben hat, noch nicht wissen, was ich erfahren würde."

„Wir können einem direkten Befehl seiner Majestät nicht missachten", sagte der Kleine. Er wagte es nun, den Blick zu heben.

Acarion unterdrückte ein Augenverdrehen. Dieser Mann war ihm nicht im Geringsten gewachsen.

„Tatsächlich ist es aber doch so", sagte er, „dass, wenn dein König sagt, lasst niemanden ein, niemals tatsächlich lasst niemanden ein gemeint ist. Es bedeutet vielmehr lasst niemanden ein, der unwichtig ist."

Wieder wechselten die beiden Wachen einen Blick und der Kleine schien wieder größere Schwierigkeiten zu haben, Acarions dunklen Augen zu begegnen.

„Ich kann euch versichern, ich habe selten Neuigkeiten gehabt, die weniger zu vernachlässigen gewesen wären."

Die Wachen zögerten noch immer und Wut fachte Acarions Gereiztheit an. Sein Bein schmerzte bereits wieder stärker. Doch er hielt seine Stimme ruhig, nicht leise, aber auch nicht erhoben.

„Wollt ihr wirklich diejenigen sein, die dafür verantwortlich sind, dass euren König diese Neuigkeiten mit Verspätung erreichen? Wollt ihr, dass am Ende des Tages ganz Tavagar über euch lacht? Denn glaubt mir, es wird leicht sein, dafür zu sorgen, dass es jeder in dieser Stadt erfährt. Die zwei Wachen, die eine der wichtigsten Entscheidungen des Königs behinderten."

„Vielleicht würde es uns helfen, wenn Ihr uns mitteilen würdet, welcher Art Eure Neuigkeiten sind." Der Kleinere hatte irgendwo in sich einen Zipfel Mut gefunden. Acarion belohnte den Vorstoß mit einem humorlosen Auflachen.

„Es handelt sich um ein Staatsgeheimnis. Es muss dem König überbracht werden. Was, glaubst du, gibt dir das Recht, das gleiche Wissen wie das Oberhaupt von ganz Tavagarien einzufordern? Du machst dich lächerlich."

Acarion wusste, dass er in gewisser Hinsicht übertrieb. Aber er wusste auch, dass er einen wunden Punkt der Wachen ansprach. Sie waren so nah an den wichtigen Entscheidungsfindungen, aber es war ihnen doch nicht gestattet, daran teilzuhaben. Sie mussten es akzeptieren, dass über ihren Kopf entschieden wurde. Und tatsächlich hatte er Erfolg. Widerstrebend, aber ohne ein weiteres Wort, zogen die beiden Wachen sich zurück und gaben den Weg zur Tür frei.

Ein anderer Mann hätte sie vielleicht vorsichtig geöffnet. Dieser Mann hätte Reue darüber ausgedrückt, dass er sich nicht angekündigt hatte. Acarion war nicht dieser andere Mann. Er stieß die Tür schwungvoll auf und betrat den Thronsaal.


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