Von Grausamkeit und Gnade

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Yonas Hand schloss sich um den Griff ihrer Ruhka. Sie hielt den Atem an.

Foks ging an ihr vorbei, in einer so kurzen Distanz, dass sie erkennen konnte, wie sich das Mondlicht in seinen Augen spiegelte. Er sah sie nicht.

Yona stieß die Luft aus. Anscheinend musste der Junge sich nur erleichtern. Sie würde einfach hier warten und weitergehen, sobald – eine zweite Gestalt bewegte sich auf den Wald zu. Korman, die Flasche noch immer in der feisten Hand, folgte Foks.

Wieder hielt Yona den Atem an, wieder wurde sie nicht bemerkt.

Korman zog Vokengeruch hinter sich her wie einen Umhang. Übelkeit stieg in ihr auf. War der Koch verrückt geworden? Er ließ das gesamte Lager unbeaufsichtigt. Es war purer Leichtsinn. Es war fahrlässig.

Yona konnte ihr Glück kaum fassen.

Vorsichtig machte sie einige Schritte nach vorne. Sie konnte Acarions Wagen bereits vor sich sehen, ein dunkler Schatten vor dem Hintergrund der Wiese. Sie hatte freie Bahn.

Dann zögerte sie, ein undefinierbares Gefühl in ihrer Magengegend hielt sie zurück. Warum hatte Korman seinen Posten verlassen, um Foks in den Wald zu folgen? Wieder verharrte Yona auf der Stelle, hin- und hergerissen.

Dann schließlich wandte sie sich um und schlich die kurze Strecke zurück.

Atemlos spähte Yona durch das dichte Blattwerk, das ihr den Tag über Deckung geboten hatte, und hielt Ausschau nach Foks oder Korman.

Sie zu finden, stellte sich als deutlich leichter heraus, als sie angenommen hatte. Die beiden machten so viel Lärm, dass Yona sie auch in der Dunkelheit leicht orten konnte. Sie waren in ein Wortgefecht verwickelt.

Als sie langsam näher kam, konnte sie die einzelnen Worte verstehen. Beinahe gleichzeitig erkannte sie die Silhouetten, die sich wie Scherenschnitte vor dem Wald hinter ihnen abhoben.

„... gesagt, stell dich nicht so an." Korman, wütend. Etwas raschelte über den Waldboden, wie ein Umhang, der darüber gezogen wurde.

„Bitte Korman, lass mich –" Foks, flehend, die Stimme dünn.

„Es wird doch nur schlimmer für uns beide, wenn du so einen Aufstand machst."

Ein dumpfer Schlag. Ein Fluch, gefolgt von Foks' Bitten. Es gab keinen Zweifel daran, was hier gerade geschah.

In Yonas Kopf setzten sämtliche rationalen Gedanken aus. Die Wut, die seit der Entdeckung der Menschenhändlergruppe in ihr köchelte, loderte in einer hellen Stichflamme auf. Sie dachte nicht nach, sie handelte.

Yona stürmte aus ihrer noch halb verborgenen Position, kümmerte sich nicht um die Lautstärke, wusste nur noch, dass sie ihre Ruhka aus der Halterung riss. Ein weit entfernter Teil von ihr registrierte, dass ein sirrender Schmerz von ihrer Schulterwunde in ihren Kopf schoss.

Die beiden Scherenschnitte fuhren auseinander und zu ihr herum. Mit der freien Hand stieß Yona den kleineren zur Seite und stürzte sich auf den großen. Er hatte nicht die geringste Chance.

Gerne hätte sie sich Zeit gelassen, hätte die Angst und den Schmerz in Kormans Augen aufgesogen, aber die brennende Wut war zu groß. Sie spürte kaum den Widerstand, als sich ihre Klinge in den Hals des Mannes bohrte.

Ein leises Röcheln war Kormans letzter Laut, bevor er mit einem dumpfen Schlag auf den Waldboden traf. Zum Schreien war ihm keine Zeit geblieben.

Ebenso plötzlich, wie Yonas Wut ausgebrochen war, ebbte sie auch wieder ab. Ihre erhitzten Wangen wurden kalt und ein Loch schien sich in ihrem Magen auszubreiten. Schmerzen pochten in ihrer verletzten Schulter. Sie schluckte trocken.

Dann drehte sie sich langsam herum, die Ruhka gerade noch in der schlaffen Hand. Das Bild, das sich ihren mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnten Augen bot, hätte in einer anderen Situation vielleicht komisch sein können. Hier erfüllte sie es nur mit kaltem Schrecken.

Foks stand wie angewurzelt hinter ihr, die Augen riesig, kindlich aufgerissen. Seine Hose hing ihm um die Knöchel.

Yona konnte sich zu gut vorstellen, was sie für einen Anblick bieten musste. Die braunen Haare wild und mit Zweigen durchsetzt, das Gesicht im schwachen Mondlicht totenbleich und von Blutspritzern überzogen, die Augen in unterschiedlichen Farben funkelnd. Sie musste gefährlich aussehen. Wild. Wie ... wie ein Verox.

Foks und Yona starrten sich an.

Lange.

Schließlich zog er die Hose hoch. Für einen furchtbaren Moment schloss sich Yonas Hand fester um ihre Ruhka. Wenn sie keine Zeugen hinterlassen wollte, dann war das hier ihre Gelegenheit, wenn er abgelenkt war, ihr seinen ungeschützten Nacken darbot ...

Sie tat es nicht.

„Ich sollte Korman später ablösen." Die Stimme des Jungen war kaum lauter als ein Flüstern und er sprach zu seinen Füßen. „Wenn ich meine Wache antrete, wird ihn bis zum Morgen niemand suchen. Dann kannst du entkommen."

Yona sagte nichts, als Foks sich ohne ein weiteres Wort auf den Rückweg zum Lager machte. Sie ließ die Chance, mit Acarion zu sprechen, vorüberziehen. Sie ging einfach nur zurück zu ihrem vorherigen Versteck, rollte sich zusammen und dachte darüber nach, wie nah sie daran gewesen war, einem unschuldigen Jungen den Kopf abzuschlagen.

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Acarion wurde von hitzigen Stimmen geweckt. Träge öffnete er die Augen und wappnete sich für die unweigerlich kommende Welle von Kopfschmerzen. Dankbar registrierte er, dass sie schwächer ausfiel als am vorhergehenden. Noch im Liegen beobachtete er die Szene, die sich vor ihm abspielte.

Grimor stand nicht weit von ihm entfernt, die muskulösen Arme verschränkt, die buschigen Augenbrauen missbilligend zusammengezogen. Fiona, die Haare noch nicht zu ihrem üblichen Zopf geflochten, sondern in einem wilden Nest um ihren Kopf herum, lief schimpfend auf und ab.

„... kann nicht fassen, dass irgendwer so blöd, so völlig blind gewesen sein kann, das nicht zu bemerken! Foks!"

Der Junge, der von Acarions Sichtpunkt aus beinahe von Grimors breitem Rücken verdeckt wurde, schrak sichtlich zusammen. Falls er antwortete, konnte Acarion es nicht hören.

„Und du bist dir absolut sicher, dass er dich geweckt hat, ja? Du hast nicht noch geträumt?"

„Was soll das Geschrei?" Tónya war dazugekommen. Sie sah deutlich gefasster aus als Fiona, die schwarzen Haare nach hinten gebunden und eine steile Falte auf der Stirn. Sorkan folgte ihr mit einigem Abstand. Es war ein jämmerlicher Versuch zu verschleiern, dass sie an einer Stelle geschlafen hatten.

„Ich kann dir sagen, was das Geschrei bedeutet." Trotz der Entfernung hätte Acarion schwören können, dass Fiona mittlerweile vor Wut spuckte. „Korman ist tot, das bedeutet das Geschrei!"

Tónya fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. „Was?"

„Ja, was", zischte Fiona. „Du hast nicht zufällig während deiner Schicht gesehen, dass er aufgestanden und in den Wald gegangen ist, oder?"

Tónya wich einen Schritt zurück, die Hände defensiv erhoben. „Nein, habe ich nicht." Sie zuckte mit dem Kinn zu Foks. „Frag doch ihn, er sollte Korman ablösen."

„Er sagt, das hat er auch, da war Korman noch quicklebendig. Nur ist er das jetzt nun einmal nicht mehr!"

„Langsam, Fiona", schaltete sich nun endlich Grimor ein. „Wir haben heute Morgen bemerkt, dass Korman nicht an seinem Platz ist", wandte er sich erklärend an Tónya und Sorkan. „Und als ich kurz danach im Wald war, habe ich ihn gefunden. Irgendetwas hat ihm den Hals durchbohrt."

„Irgendetwas ist hier aber nett gesagt", empörte sich Fiona. „Das war eine Klinge und das bedeutet, es war kein irgendetwas, sondern irgendjemand!"

Das war eine Entwicklung, mit der Acarion nicht gerechnet hatte. Interessant. Wie es aussah, hatte Yona sich dagegen entschieden, zu ihrem Forschungsteam aufzuschließen.

Als Acarion sich aufsetzte, richteten sich Fionas Augen sofort auf ihn.

„Du!", fauchte sie und kam in großen Schritten auf ihn zu geeilt. Träge hob Acarion eine Augenbraue. „Du hast etwas damit zu tun, nicht wahr? Hast irgendwie einen Weg gefunden, uns den Garaus zu machen. Hab ich nicht Recht?"

Die erhöhte Lage seines Gefängnisses machte es Acarion leicht, ihr einen Blick von oben herab zuzuwerfen. „Selbstverständlich. Ich habe Korman in den Wald gelockt. Die erhöhte Entfernung war von größtem Vorteil für mich, als ich ihm von hier aus die Kehle durchbohrt habe."

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich nach vorne zu lehnen, das Gesicht nur ein kurzes Stück von den Stäben entfernt, die Hände darum geklammert. „Und das alleine mit der Kraft meines bösen Blicks."

Fionas Hand schoss nach vorne und schloss sich fest um seine. Acarion hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie schon Veralenergie in sich trug, aber er wusste aus Erfahrung, dass untrainierte Magier häufig unbewusst Energie aufnahmen, wenn sie in emotionalen Ausnahmezuständen waren.

Wie erwartet schoss eine Welle des Schmerzes in seine Hand, aber der Angriff war lange nicht so heftig, wie es der an seinem ersten Tag in Gefangenschaft gewesen war. Er hatte keine frischen Wunden mehr, die ihr eine Grundlage boten, und Fiona hatte weder die Kraft noch die Erfahrung, aus dem Nichts ernsthafte Schmerzen bei ihm hervorzurufen.

Und so unterdrückte Acarion sämtliche Regungen in seinem Gesicht, hielt seine Hand in ihrer und schaffte es, ein herablassendes Lächeln auf seine Lippen zu zwingen.

„Beeindruckend", sagte er leise. „Wenn du mir so drohst, werde ich es natürlich nicht noch einmal tun."

Mit einem frustrierten Schrei ließ Fiona ihn los und schritt davon, in Richtung Wald. Acarion spürte die Blicke der vier anderen wie Gewichte auf sich ruhen. Es war wahrscheinlich nicht klug, eines der mächtigsten Mitglieder dieser Gruppe so gegen sich aufzubringen, aber sie machte es ihm so leicht.

Schließlich näherte sich Grimor seinem Käfig.

Aus der Entfernung hatte Acarion den Mann für gefasst gehalten, aber als er nun näherkam, sah er, dass auch in Grimors Augen die Wut loderte. Nur hielt er sie unter Kontrolle. Das machte ihn weitaus gefährlicher.

„Ich werde dich das nur ein einziges Mal fragen, und ich würde dir dringend raten, mir die Wahrheit zu sagen", sagte Grimor ruhig, die Augen ohne zu blinzeln auf Acarion gerichtet. „Sollte ich jemals erfahren, dass du mich angelogen hast, wirst du das bitter bereuen. Du würdest danach keinen funktionierenden Mund mehr haben, mit dem du jemanden anlügen könntest."

Acarion zweifelte nicht einen Moment lang daran, dass der Mann jedes Wort ernst meinte.

„Hattest du etwas mit dem Mord an Korman zu tun?"

Er hob den Blick und sah fest in Grimors fischiges Starren. „Nein."

„Wer dann?"

Acarion entschied sich blitzschnell. Ganz kurz ließ er seine Augen zu Sorkan, Tónya und Foks huschen, die hinter Grimor standen und die Szene mit einer Mischung aus Sorge und Herablassung beobachteten. Dann, als wäre es ein Versehen gewesen, blickte er wieder zu Grimor, dessen Augen sich misstrauisch verengten.

„Ich weiß es nicht."

Acarion war sein Leben lang ein guter Lügner gewesen. Er hatte etwas länger gebraucht, bis er auch darin Meisterschaft erlangt hatte, ein schlechter Lügner zu sein.

Grimor bleckte die Zähne, ein Anblick, auf den Acarion gerne verzichtet hätte. „Es wird mir eine Freude sein, zuzusehen, wie deine leblose Hülle in den Händen eines Verox zusammensackt."

Dann wandte er sich ab und ging auf eines der Zelte zu, von dem Acarion ausging, dass es den alten Mann beherbergte. Er war der Einzige, der nicht zu der Szene dazugestoßen war.

„Und wird sich verdammt nochmal einer darum kümmern, dass Fiona wieder zur Vernunft kommt!", brüllte Grimor noch.

Sorkan und Tónya warfen sich einen kurzen Blick zu, dann zuckten sie synchron mit den Schultern und machten sich gemeinsam auf den Weg in den Wald. Zurück blieb Foks, der Acarion unschlüssig anblickte.

Acarion musterte den Jungen interessiert. Fast hatte er den Eindruck, Foks wolle ihm etwas sagen, seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein Wort dabei herauskam. Dann aber drehte er sich um und ging.

Er ließ Acarion mit einer Reihe von Implikationen zurück. Yona war nicht geflohen. Stattdessen war sie Grimors Gruppe gefolgt, ohne jegliche Verpflichtung. Und bei ihrem letzten Gespräch hatten sie sich nichts als Beleidigungen zu sagen gehabt.

Dennoch oder gerade deswegen wurde Acarion plötzlich von einer Welle der Dankbarkeit überrollt. Vielleicht war es nicht das Schlimmste gewesen, was ihm hätte passieren können, auf Yona zu treffen. Vielleicht brauchte er sie.



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