5. Kapitel: "Ich hab sogar studiert, ich weiß nur nicht mehr was."

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Dag hatte sich eine Zigarette von Bastian geschnorrt. Aus seiner Hosentasche angelte er ein buntes Feuerzeug. Es war eins dieser billigen, die man in jedem Supermarkt an der Kasse kaufen kann und die ich benutzte, um Vanilleduftkerzen und Räucherstäbchen anzuzünden. Chemie hin oder her, wie viele Gemeinsamkeiten konnten wir schon haben? Ich zündete Duftkerzen an und er Zigaretten.
Bis jetzt war es nett gewesen, mit Dag zu flirten, doch ich musste der Realität ins Auge sehen. Ich war noch nicht bereit für einen neuen romantischen – beziehungsweise romantisierten – Abschnitt meines Lebens. Noch weniger als das, war ich bereit für jemanden, der nicht in mein Beuteschema passte und generell eher aussah, wie einer, der Ärger bedeutete.

„Hör mal", setzte ich an und atmete tief durch. „Bei mir geht echt gerade alles drunter und drüber." Abwartend sah ich zu ihm auf. Vielleicht würde er von selbst draufkommen, er war immerhin nicht unterbelichtet.
„Was denn so? Erzähl mal davon", erwiderte er. Perplex öffnete ich den Mund, dann klappte ich ihn wieder zu.
„Also ich ... Ich studiere Archäologie." Warum redete ich noch immer mit ihm? Ich gehörte wirklich geknebelt unter Alkoholeinfluss. Das war doch überhaupt nicht, worauf ich eigentlich hinauswollte; ich wollte ihn diesmal wirklich absägen. Nur war das Bedürfnis danach, ihm mein Herz auszuschütten wohl größer als meine Entschlossenheit, ihm einen Korb zu geben.
„Wieso sagst du das so?", fragte er.
„Wie: so?"
Er steckte die Selbstgedrehte an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus. „Ich studiere Archäologie", wiederholte er, was ich gesagt hatte, klang dabei allerdings, als wäre ich mit meinem Statement an Verdruss gar nicht zu überbieten gewesen. Ich lachte nervös über seine Imitation.
„Hey, so erbärmlich habe ich das nicht betont", protestierte ich.
„Oh doch." Dag grinste und zog erneut an der Zigarette. Sein Gesichtsausdruck wechselte von mildem Amüsement zu nachdenklichem Ernst. „Ist es nicht das Richtige für dich?"

„Das versuche ich gerade herauszufinden", antwortete ich seufzend. „Keine Ahnung. Seit ich darüber nachgedacht habe, wie ich damit später mal mein Geld verdienen möchte, macht es mir nur noch halb so viel Freude." Dag fing meinen Blick auf.
„Wieso hast du denn auf einmal angefangen, dich wegen materieller Sicherheit zu sorgen?", fragte er und schob stumm noch hinterher: Und wieso hast du vorher keinen Gedanken daran verschwendet?
„Ich komme aus guten Verhältnissen", offenbarte ich ihm. „Meine Familie ist nicht reich, aber wir gehören mehr oder weniger zur gehobenen Mittelklasse. Jedenfalls konnte ich mich so vor ein paar Jahren dafür entscheiden, etwas zu studieren, für das ich mich schon als Kind interessiert habe."
„Das ist schön", merkte Dag an und ich nickte.
„Ja, nur ist ein Traum nichts weiter als das – ein Traum." Achselzuckend starrte ich Löcher in die eiskalte Luft.
„Hinter Träumen steckt im Allgemeinen ziemlich viel. Welche Träume du verfolgst, zeigt dir doch auch, wo deine Prioritäten im Leben liegen."
„Wahrscheinlich ist das das Problem. Mir fehlt ein Ziel. Ich weiß nicht, worauf ich mich zurzeit vorbereite, außer auf die Abschlussprüfungen."

Dag nickte bedächtig.
„Was war dein Berufswunsch, als du noch ein Kind warst? Du sagst, du hast dich schon damals für Archäologie interessiert."
„Ich wollte Forscherin werden, wie meine Mutter. Sie hat Ägyptologie studiert, ist eine anerkannte Wissenschaftlerin und früher ständig gereist. Von ihr habe ich die Liebe zum Altertum geerbt. Sie arbeitet seit sie mit meinem Vater nach Deutschland gezogen ist im Ägyptischen Museum ... Tut mir leid, wenn ich dich damit langweile", unterbrach ich mich.
„Nein, keine Sorge, du langweilst mich nicht", lächelte er.
„Ich war oft im Museum, als ich noch klein war", fuhr ich also fort. „Meine Mutter ist mehr als zufrieden. Aber nicht jeder hat das Glück, einen so tollen Job zu finden. Wenn ich es beruflich – und dadurch finanziell – nicht schaffe, frage ich mich, wie ich mein Leben trotzdem in vollen Zügen genießen soll." Dag lachte.
„Stellst du Genuss und Geld auf eine Stufe? Das eine geht nicht ohne das andere?"
„Nein", schüttelte ich ebenfalls lachend den Kopf. „Letzten Endes genieße ich mein Leben, solang es die Menschen miteinschließt, die mich lieben; meine Freunde, meine Familie, et cetera. Aber du musst einsehen, dass Luxus für die Normalsterblichen heutzutage praktisch nicht mehr existiert. Es sei denn, du machst das, was meine Tante mir dauernd predigt: nämlich etwas Anständiges."
„Lass dir nichts einreden. Nichts ist anständiger als diszipliniert deinen eigenen Träumen hinterherzujagen."

Wenn er es sagte, musste ich zugeben, klang es nicht nach Gewäsch und pseudo-tiefsinnigem Geschwafel. Ich fragte mich, ob er ein guter Redner war, der seine Argumente durchdachte, und ob es ihm deswegen ein Leichtes war, mich von seinen freigeistigen Ansichten zu überzeugen – oder ob ich, mit all meinen Unsicherheiten, bloß das perfekte Ziel für sein Gesülze abgab.

„Ich möchte nicht unglücklich sein in meinem Beruf", überging ich Dags rebellischen Einwand. „Wenn ich das Archäologiestudium abschließe, möchte ich Ausgrabungen betreuen, auf Fachtagungen Vorträge halten und Kindergruppen durch Museen führen."
„Dann hast du doch aber ganz genaue Vorstellungen davon, was du später machen möchtest", meinte Dag.
„Es ist ein Entweder-Oder", seufzte ich. „Entweder ich werde aktive Forscherin oder Mitarbeiterin eines Museums."
„Dein Leben ist länger als du dir das anscheinend vorstellst. Du kannst erst das eine, dann das andere tun", widersprach er.
„Das stimmt. Nicht zu wissen, wann wir sterben werden, erlaubt uns Pläne zu schmieden; bis zur Unendlichkeit."
„Und noch viel weiter", beendete er todernst meinen Satz.
„Toy Story", grinste ich. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht nicht ahnte, welche niederen Motive ihn antrieben, wenn er mir Mitgefühl und Freundlichkeit entgegenbrachte. Eine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass ich gutgläubig, vertrauensselig, leichtsinnig war.

„Einer meiner Pläne schließt Kinder mit ein. Bevor ich fünfunddreißig werde." Das war eine Information, mit der ich nüchtern definitiv nie rausgerückt wäre.
„Soll heißen, die biologische Uhr tickt. Setzt dich das unter Druck?"
„Oh, ja. Das und der hoffentlich verständliche Wunsch, meinen Kindern materielle Sicherheit zu bieten, garantieren dafür, dass ich mich in der Uni abrackere. Eigentlich wollte ich früh einen Mann mit Kohle heiraten, um das zu kompensieren. Aber der Ritter in glänzender Rüstung lässt irgendwie auf sich warten. In der Zwischenzeit muss ich mir also eigenhändig was aufbauen."
Dag lachte.
„Du willst also heiraten und mehrere Kinder", wiederholte er.
„Too much information?", hakte ich vorsichtig nach.
„Nein, ist gut zu wissen", grinste er.

Seine Augen glitzerten wie die Eiskristalle, die inzwischen auf uns niederregneten. Es hatte angefangen zu schneien. Die idyllische Szenerie unter dem Licht der Straßenlaterne, inmitten der um uns wirbelnden Schneeflocken, überforderte mich. Ich sog die klirrend kalte Luft in meine Lungen, atmete aus und ließ dabei los.
„Iara sagt", wisperte ich, sodass er sich vorbeugen musste, um mich zu verstehen; mir näher sein musste. „Sie sagt, ich verrate viel zu viele persönliche Details, wenn ich –" Hicks. „Oh je, tut mir leid." Als ich rückwärts stolperte, stieß ich mit dem Rücken gegen den Laternenmast. „Schluckauf bekomme ich dann auch immer", verriet ich so leise wie zuvor, denn er war mir gefolgt. Der Abstand zwischen uns hatte sich kein Stück verringert. Ich nahm abgesehen von Dag nichts mehr bewusst wahr in diesem Augenblick, der dem in der Küche so ähnelte.

„Hast du auch gerade ein Déjà-vu?", fragte er mich.
„Ja."

 Die weißen Atemwölkchen hatten kaum Platz zwischen unseren Lippen. Ich kämpfte mit mir. Wenn ich es geschehen ließ, hätte ich verloren ... Wäre ich verloren ...

„Ich wüsste wirklich gern, was das zwischen uns ist", sagte Dag. „Diese ... Sache."
Ich wusste genau, was er meinte. Mich hätte es auch interessiert. So etwas wie magische Anziehung zwischen zwei Menschen gab es nicht, das Leben war keine Hollywood-Romanze; aber was war es dann?
„Vermutlich der Alkohol", spekulierte ich.
„Vermutlich."

„Du warst vorhin so abweisend zu mir, als wir mit Iara und Vincent zusammensaßen. Deswegen nehme ich mal an, du warst da einfach noch nicht besoffen genug", lächelte ich.
„Fuck", lachte Dag. „Nein, daran lag's nicht, das tut mir leid, ich wollte dich nicht abschrecken. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich dich so verdammt süß finden würde. Iara hat hin und wieder von dir erzählt, oft sogar; aber es ist anders, jetzt, wo ich ein Bild zu deinem ungewöhnlichen Namen habe. Ein ganz anderes Bild, als das, das ich mir ursprünglich ausgemalt hatte."
„Sehe ich anders aus als in deiner Fantasie?", fragte ich, absichtlich zweideutig diesmal. Wenn er auf die Anspielung einging, wüsste ich immerhin, woran ich war.
„Kein Stück", flirtete er zurück. „Aber du siehst anders aus, als ich mir Iaras beste Freundin vorgestellt habe." Ein fast schmutziges Grinsen legte sich auf seine Lippen, das bald verschwand. „Es ist schön endlich zu wissen, wer du bist. Du bist ihr wichtig."
„Sie ist mir auch wichtig", brachte ich knapp mit dünnem Stimmchen raus. Ich war wie hypnotisiert von seinen blauen Augen. „Wieso hast du mich in der Küche nicht geküsst?"

Ich und mein bescheuertes, loses Mundwerk! Nicht zu fassen, dass ich das gerade gesagt habe!
Dag lachte nicht, er schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. War das gut oder schlecht?
„Ich glaube, ich hätte diesen Kuss nicht so locker weggesteckt, wenn ich es getan hätte", erwiderte er schließlich. Ich widerstand dem Drang, meine Hand an seine Wange zu legen. „Nicht so locker wie ich, meinst du?"
„Kein Plan ..." Dag fuhr sich durchs Haar, dann verschwanden seine Hände in seinen Jackentaschen. „Du bist bestimmt nicht leicht", fügte er hinzu und ich strich die Möglichkeit, mit Dag etwas anzufangen gedanklich durch. Er hatte Recht, ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Damit hatte ich, was ich wollte, wieso fing ich also an zu schmollen? „Ich mag das", legte er auf einmal nach.
„Was?"

„Ich mag es, dass du komplex bist."
Ja, komplex traf es gut – Minderwertigkeitskomplex.

„Dag", sagte ich leise. „Das ist nicht -"
„Nicht so einfach?" Er grinste, als ich ihn aus großen Augen anschaute. „Ja, es ist –", stotterte ich los. „Du bist –" Verzweifelt angelte ich nach einem passenden Wort. „Großartig."
„Dankeschön." Er lächelte umwerfend und ich war drauf und dran, im hohen Bogen Schmetterlinge auszukotzen. Alles kribbelte bis in die Fingerspitzen, dabei war ich so fest entschlossen gewesen, Dag den Laufpass zu geben.
Planänderung.


„Gib mir deine Handynummer und versprich mir, dass du Iara nicht nach meiner fragst." Ich reichte ihm mein Smartphone. Er tippte die Zahlenfolge ein.
„Ruf an, schreib nicht, und versprich mir, dass du dich bei mir meldest. Morgen, nächste Woche ..." Ich biss mir auf die Zunge. Dumm, dumm, dumm. „Nächsten Monat. Nächstes Jahr oder Jahrzehnt, mir egal. Nur tu es, okay?"
„Okay", stimmte ich zu.

Dags Arm streifte, vielleicht zufällig, meinen eigenen als er sich von der Straßenlaterne, gegen die er seine Hand stützte, abdrückte. Ein Orchester aus Nervenimpulsen spielte auf und ich schob es noch immer auf den Alkohol. Die Hinweise waren so eindeutig, dass nicht einmal mir Zweifel hätten kommen dürfen. Ich wollte ihn, egal, was ich mir einzureden versuchte. Entgegen all meiner guten Vorsätze hätte ich ihn am liebsten geküsst, mich von ihm in sein Bett schleifen und benutzen lassen, denn ich dachte, das wäre es, was er tun würde, sobald sich ihm die Chance dazu bieten würde. Ich konnte ihm nicht vertrauen. Leute wie er, die Dinge sagten wie: Es ist nicht meine Intention, dich fallenzulassen, waren nicht von der guten Sorte – und er war einer von ihnen, dachte ich ... Ich war zumindest eine von ihnen.

Ich sah runter auf das Handy in meiner Hand, auf die Nummer im Display unter seinem Namen. „Iara fragt sich, wo ich bin", log ich aus der Not heraus.
„Schreib ihr, du bist bei mir." Dag hatte aufgeraucht und sah sich nach dem nächsten Mülleimer mit Aschenbecher um.
„Vielleicht würde sie sich dann bloß noch mehr Sorgen machen", murmelte ich.
„Wie war das?" Er grinste.
„Nichts", erwiderte ich möglichst unschuldig.
„Fühlst du dich nicht sicher in meiner Nähe?", fragte er lauernd.
„Nein, nur ein bisschen wie ein anderer Mensch", rutschte mir die Wahrheit raus.
„So schrecklich?"
„Eher im Gegenteil."

Dag lächelte sein Zahnpastalächeln. Innerlich fluchte ich wieder.
„Gehen wir zurück?", fragte er.
„Wäre besser, mein Kleid ist ziemlich kurz."
„Ist mir nicht aufgefallen." Er drückte die Zigarette aus. „Frierst du?"
„So arg ist es nicht." Damit lieferte ich ihm ungewollt die Steilvorlage für den nächsten blöden Spruch.
„Die Atmosphäre ist ja auch aufgeheizt."
„Wow, noch ein kleiner Tipp für die Zukunft auf deiner Suche nach der großen Liebe: Du musst echt aufhören, solche Sachen zu sagen."
„Ach, komm. Aller Anfang ist schwer."

#DAMDAMDAM

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