20. Ein Spaziergang mit schrecklichen Folgen

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,,Und ihr seid euch wirklich sicher, dass ich euch nicht zurück in die Innenstadt von Edinburgh fahren soll?" Ihrem Angebot Kraft verleihend, ließ Amelia den Schlüssel ihres Autos in der Hand klimpern, während sie Mona und Roland aus forschenden Augen würdigte. ,,Ich könnte euch auch direkt nach Hause fahren, wenn ihr das möchtet! Schließlich habe ich mit der Schule vorhin alles abgeklärt, du bist für den heutigen Tag komplett freigesprochen und es ist alles so abgesichert, dass deine Eltern von nichts wissen sollten, Mona." Die Worte der Lehrerin drangen mit Nachdruck zum hundertsten Mal in den Gehörgang des Mädchens ein, dass dieses sich herrisch zurückhalten musste, um nicht genervt die Augen zu verdrehen.

,,Ja!", erwiderte sie beherrscht, setzte jedoch ein dankbares Lächeln auf. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie oft sie diese Bestätigung bereits wiederholt hatte, doch was sie in den vergangenen fünf Minuten erfahren hatte, war, dass ihre Anführerin wesentlich hartnäckiger war, als sie befürchtet hatte. Roland, Amelia und Mona selbst standen allein wegen dieser Diskussion schon gefühlte Stunden auf dem Schotterplatz vor Rubys Haus herum, während Ethan und diese abwartend im geöffneten Türrahmen verharrten. Ihnen schien der Dickkopf der blonden Frau ebenfalls ziemlich zu missfallen, denn beide verliehen mit ihren verschränkten Armen und den entnervten Gesichtsausdrücken mehr als deutlich den Eindruck, dass sie endlich die Tür ins Schloss fallen lassen wollten.

,,Drei Stunden später...", hörte das Mädchen Ethan stöhnen, welcher den Blick gelangweilt gen Himmel richtete, so, als wollte er eine indirekte Botschaft an seine Anführerin vermitteln. ,,Wäre ich nicht so erzogen worden, dass man so lange wartet, bis die Gäste weg sind, dann hätte ich mich längst nach drinnen verpisst!"

,,Nicht nur du!", pflichtete ihm Ruby grimmig bei, ohne ihre drei Besucher aus den Augen zu lassen. ,,Ehrlich, wenn das nicht gleich ein Ende nimmt, mache ich das sogar wirklich!" Mona schmunzelte amüsiert und schielte unauffällig zu den Zweien hinüber. Sie konnte beide gut verstehen, immerhin wartete sie selbst nur darauf, dass Amelia locker lassen und sie, gemeinsam mit Roland, allein einen Spaziergang zurück unternehmen lassen würde. Das Mädchen konnte nicht erklären, weshalb ihr dies so wichtig war, obwohl es den Vorschlag ihrer Lehrerin als überaus zuvorkommend empfand, von dieser nach Hause gefahren zu werden. Normalerweise hätte sie ein solches Angebot auch gar nicht abgelehnt, allein schon wenn sie bedachte, dass es zu Fuß wesentlich länger dauern würde, als mit einem Fahrzeug. Doch so sehr sie der Gedanke an den längeren Marsch quälte, sie musste es einfach tun! Mona wollte endgültig die Barrieren der Schweigsamkeit zwischen sich und Roland vernichten und dazu benötigten sie ziemlich viel Zeit, völlig ungestört von allen anderen.

Verstohlen schielte das Mädchen zur Seite ihres besten Freundes. Ein flaues Gefühl durchwucherte ihre Magengegend, während ihre Gedanken jegliche Szenarien im Kopf abspielten, die bei ihrem Spaziergang mit ihm möglicherweise auftreten könnten. Würde er eine angemessene Erklärung dafür finden, weshalb er bezüglich der gesamten Traumwandlersache Geheimnisse vor ihr gehabt hatte? Und würde ihr eigener Starrkopf endlich nachgeben und ihm verzeihen, so wie sie es schon die ganze Zeit am liebsten tuen wollte, dass alles wieder so wie früher war, außer dass sie nun mehr voneinander wussten als zuvor?

Fragen über Fragen durchlöcherten Monas Gehirn wie hungrige Maden, sodass sie schließlich schwermütig seufzte. Dieser Streit mit Roland lastete ihr viel zu sehr auf den Schultern, vermutlich genauso wie auch ihm. Sie ertrug es einfach nicht länger, ständig im Zwiespalt ihrer Gefühle zu lungern, die keine Einigung finden konnten, ob sie nun im Recht oder Unrecht mit all ihren Ärger war. Allein die Vergebung mochte irgendwie noch nicht durchsickern, und das, obwohl das Mädchen mittlerweile gar nicht mehr nachtragend sein wollte. War es denn wirklich so schwer, jemandem, den man vom ganzen Herzen liebt, etwas zu verzeihen?

Verzweifelt schüttelte Mona den Kopf. Nein, es so durfte es nicht weitergehen! Roland hatte sich bereits mehrere Male bei ihr aus tiefster Seele entschuldigt, nun war sie an der Reihe, seine Worte endlich vollständig zu verinnerlichen und dafür würde sie gleich mit ihm alleine sprechen müssen, um alle Unklarheiten zu bereinigen!
Das wird schon hinhauen!, hörte sie die innere Stimme aufmunternd flüstern, was dem Mädchen ein schwaches Lächeln auf die Lippen zauberte. Irgendwie würde dieses ganze Prozedere endlich sein Ende nehmen, zumindest redete sie sich dies so optimistisch wie möglich ein.

Roland schien den Blick seiner besten Freundin zu spüren, denn wenige Sekunden später wandte er sich sichtlich entnervt von Amelias Diskussion ab und warf Mona trotz dessen ein gequältes Grinsen entgegen. Anscheinend erging es ihm nicht besser als ihr selbst und war offenbar genauso angespannt bezüglich der Tatsache, dass auch er endgültigen Frieden mit ihr schließlich wollte. Hoffnungsvoll vertiefte das Mädchen ihr Lächeln, um dem Jungen etwas Mut zu vermitteln, doch noch bevor sie ihm etwas Aufmunterndes zuflüstern konnte, drang bereits Amelias Protest in ihren Gehörgang ein.

,,Dann geh von mir aus doch einfach rein!" Der gereizte Unterton der Lehrerin war kaum zu überhören, als diese sich giftig dreinblickend zu Ruby umdrehte. ,,Ich habe schließlich dafür zu verantworten, dass die beiden sicher zu Hause ankommen! Schön, mit Rolands Eltern hab ich so gut wie nichts am Hut und er ist eh fast achtzehn, aber Mona ist meine Schülerin! Wenn ihr euch nicht damit zufrieden geben könnt, dass ich etwas mehr Zeit benötige, dann..."

,,Amelia, es ist wirklich okay!", erhob Mona plötzlich die Stimme und breitete beschwichtigend die Arme aus. Sie hatte es endgültig satt, dass ihre Anführerin keine Einsicht zeigen mochte. Und dabei sah es ihr normalerweise überhaupt nicht ähnlich, anderen Menschen ins Wort zu fallen, schon gar nicht Menschen, die wie Amelia über ihr standen, doch in dem Moment, als diese förmlich in die Luft gegangen war, war zeitgleich der Geduldsfaden des Mädchens gerissen. Herr Gott, Mona wollte doch bloß etwas Freiraum, um mit Roland endlich alles bereden zu können und allgemein den ganzen Tag zu verarbeiten, der sie bislang wie ein Tsunami überrollt hatte! War das etwa so schwer zu verstehen? Oder dass sie immer noch nicht wie ein kleines Kind behandelt werden mochte, auf das man jede Sekunde achten musste? Mit Mühe unterdrückte das Mädchen ein gestresstes Seufzen. Sie würde niemals verstehen, weshalb manche das Leben nur so kompliziert gestalteten und weshalb dies gerade ihre Nerven kosteten sollte, doch anstatt ihren Gefühlen freien Raum zu lassen, holte sie tief Luft und zwang sich zur Ruhe.

,,Jetzt mal ernsthaft!", begann Mona bemüht ruhig und sah Amelia dabei so sanft in die Augen, dass sie mit einem solchen Blick selbst einen wutentbrannten Drachen hätten zähmen können. ,,Du lässt zu, dass ich mein Leben riskiere und auf einer Feuer speienden Echse reite, welche mich zutiefst hasst und mir mit meinen Tod gedroht hat, aber lässt mich stattdessen nicht die zwei oder drei Kilometer alleine laufen? Korrektur, ich bin ja nicht mal alleine, sondern an Rolands Seite! Ehrlich, ich weiß es wahnsinnig zu schätzen, dass du uns unbedingt fahren möchtest, auch wenn das vielleicht nicht danach aussehen mag! Aber ich bitte dich, hör auf, mich wie deinen Schoßhund zu behandeln! Ich bin dank Ruby nicht einmal mehr verletzt, wie du siehst!" Demonstrierend hob das Mädchen die Hand, welche Avery vor höchstens zwei Stunden in der Tür eingeklemmt hatte. Nichts, nicht das klitzekleinste Anzeichen eines gebrochenen Handgelenks war zu erkennen. All die Blutergüsse, welche ihren Handrücken qualvoll geziert hatten, waren spurlos verschwunden, mitsamt dem entsetzlichen Schmerz hinter ihrem Schädel, der jegliche Bewegungen behindert haben mochte.

Von der zauberhaften Erinnerung fasziniert lächelte das Mädchen. Es hatte sich ziemlich eigenartig, aber dennoch wundervoll angefühlt, als Ruby mit ihren Händen behutsam über Monas Stirn und deren verletztes Gelenk gestrichen hatte, dass diese kaum etwas von dem Heilungsprozess mitbekommen hatte. Allein ein wohliges, wärmendes Kribbeln war berauschend durch ihren Körper geflossen, sodass das Mädchen einfach nicht anders gekonnt hatte, als entspannt die Augen zu schließen. Ab und an hatte sie gespürt, wie sich die gebrochenen Knochen ruckelnd zusammensetzten, doch der Schmerz, vor welchem sie so viel Angst gehegt hatte, war nicht ein einziges Mal aufgetreten. Nur wenige Sekunden später hatte Ruby ihre Hände fort genommen und die konzentrierte Miene entschwinden lassen, welche die gesamte Zeit über auf ihrem Gesicht geruht hatte.

Dankbar widmete Mona der Heilerin ein glückliches Lächeln, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die widerspenstige Anführerin richtete.
,,Hör zu, ich verlange nicht von dir, auf mich zu hören! Aber ich fände es wirklich schön, wenn du mir etwas mehr zutrauen würdest! Ich verstehe dich ja, ich bin mir immer noch total unsicher wegen meiner neuen Gabe und weiß mich auch noch nicht so ganz in dieser... Traumwelt zurechtzufinden, allerdings bemühe ich mich darum und ich werde dies niemals erreichen, wenn du mich selbst auf dem Nachhauseweg beschützen willst! Du musst mich nicht mit Samtpfoten anfassen, nur weil ich eurer berüchtigter Neuling bin, der bislang nichts auf die Reihe kriegt!"

Atemlos schnappte Mona nach Luft, ohne Amelias Blickkontakt zu unterbrechen. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit dieser Ansage das Richtige getan hatte. Schließlich stand sie ihrer eigenen Lehrerin, sowie Anführerin gegenüber, der sie eigentlich bedingungslosen Gehorsam erweisen sollte. Doch obwohl das Zweifeln ihres Handels bereits kribbelnd durch ihr Inneres schlich, so hatte sich das Gesagte überaus befreiend angefühlt. Normalerweise gehörte das Mädchen zu der Art von Mensch, welche sich trotz Widerwillen unterwürfig fügte, jedoch schlummerte da dieser eine Funke in ihr, der ihr jedesmal den Willen gab, endlich einmal selbst auf das zu hören, was sie selbst tun wollte. Und auf genau diesen Funken hatte sie nun zum ersten Mal reagiert, ohne zu wissen, weshalb. Es fühlte sich einfach richtig an.

Amelia zögerte. Der Lehrerin war eindeutig anzusehen, dass sie mit sich selbst um Vernunft rang. Doch noch bevor Mona befürchten konnte, dass die Frau die Situation minutenweise in die Länge ziehen und sich letztendlich doch dagegen entscheiden würde, schlug diese mit einem Mal seufzend die Augenlider nieder.
,,Vielleicht hast du da nicht ganz unrecht!", pflichtete sie dem Mädchen schließlich bei, dessen Herz aus lauter Erleichterung einen Gang zurücklegte. Mit einer Mischung aus Besorgnis und Stolz seufzte Amelia schwermütig, rang sich jedoch ein kleines Lächeln ab. ,,Manchmal ist es als Anführerin nicht so leicht, nicht jederzeit die Beschützerrolle übernehmen zu können. Aber du hast recht, Mona! Und ehrlich gesagt freut es mich sogar ziemlich, dass du dich deinem Schicksal bekannt hast! Auch wenn ich bestens nachvollziehen kann, dass das nicht gerade einfach für dich war!"

Gerührt zuckten Monas Mundwinkel ebenfalls in die Weite, wobei sie allerdings deutlich spürte, wie ihr die rötliche Färbung ins Gesicht trat. Sie hatte keineswegs erwartet, das von ihrer Lehrerin zu hören, wo sie sich den vergangenen Tag über alles andere als tapfer verhalten hatte. Verlegen senkte sie den Kopf, um zu verbergen, wie sehr sie von diesen Worten beglückt worden war, jedoch konnte das Mädchen sich nicht verkneifen, ein breites Grinsen über die Wangen streifen zu lassen. Es war ein befreiendes Gefühl, das von dieser erhabenen Frau zu hören, gerade nach den sämtlichen Katastrophen, welche sie heute bereits erlebt hatte.

,,Danke!", murmelte sie lächelnd, was sie insgeheim sowohl auf auf deren Nachgiebigkeit, als auch auf die lieben Worte bezog, die ihr Herz zunehmend erwärmten. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich frei, und sie hoffte inständig, dass sie von diesem Gefühl diesmal nicht so schnell in Stich gelassen werden würde. Zu jenem Zeitpunkt war dem Mädchen allerdings noch keineswegs bewusst, wie sehr es es bereuen würde, Amelias anfängliches Angebot abgelehnt zu haben...

~

Knirschend bogen sich die Erdklumpen unter Monas schlendernden Schritten, während sie an Rolands Seite mit gesenktem Kopf über den Feldweg hinwegstiefelte, welcher das Meer aus goldenen Ären von der Hauptstraße in Form einer bräunlichen Linie trennte. Untergeben bogen die stolzen Halme sich unter der sanften Brise, die verspielt über das Land hinweg strich und die Strähnen des Mädchens zwirbelte, doch anstatt sich dem verwöhnenden Gefühl der Kühle hinzugeben, wie dieses es sonst immer genossen hatte, starrte es bloß konsequent auf ihre Füße, die abwechselnd in ihr Blickfeld traten.

Der Junge zu ihrer Rechten schien keineswegs gesprächiger gestimmt zu sein, sondern hatte bislang den Eindruck erwecken lassen, nicht zu wissen, womit er in eine passende Konversation starten sollte. Seine schuldbewussten Blicke hatten sich unaufhörlich in die Seite seiner besten Freundin gebrannt, sodass sein selbstkritisches Gefühlschaos letzten Endes auf eine negative Art und Weise auch von dieser Besitz ergriffen. Angespannt versuchte Mona, seine Trübseligkeit irgendwie abzuschirmen, doch da das stickige Schweigen bereits von Beginn ihres gemeinsamen Spaziergangs auf ihren Schultern lastete und ihr ein nervös schlagendes Herzklopfen verlieh, fiel es ihr schwerer als gedacht, von seiner negativen Einstellung verschont zu bleiben, weshalb sie es schließlich seufzend aufgab, es weiter zu versuchen.

Dabei wollten wir doch unbedingt über alles reden!, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf. Dauerhaftes Schweigen war kein Teil der Abmachung gewesen. Und genau der Punkt war es, welcher dem Mädchen grässliches Unbehagen bereitete. Wie um Himmels Willen sollten sie es nur schaffen, ihre Probleme zu bereden, wenn keiner von beiden wusste, wie sie das Gespräch beginnen sollten? Nervös zog sich Monas Magen zusammen. Sie verstand selbst nicht, was mit ihr los war. Sie wollte doch nichts sehnlicher auf der Welt, als dass sie und Roland sich endlich endgültig vertrugen und deren Beziehung fortan nicht aus bloßer Spannung bestand. Immerhin waren sie es doch gleichermaßen leid, weshalb gelang es dann einfach keinem, das entscheidende Wort zu ergreifen?

Plötzlich aufkommende Angst schnürte dem Mädchen förmlich die Kehle zu. Was war, wenn sie mit ihren Verurteilungen, die ihr immer noch auf der Zunge lagen, Rolands Schuldgefühle von Neuem auffrischten oder sie schlimmstenfalls sogar einen Streit entfachen würde, der die Zwei endgültig auseinander trieb? Was würde passieren, würde sie zu nachlässig reagieren und dem Jungen blindes Verständnis erweisen, wo er ihr doch insgeheim immer noch leid tat? Wo sie doch spürte, dass er sich dafür mehr als jeder andere schämte und am liebsten alles wieder rückgängig machen wollte?

Am liebsten hätte Mona sich die Haare gerauft, um so irgendwie das entsetzliche Gedankenchaos zu tilgen, das ihren Kopf verwüstete. Jedoch hätte ihr dies nicht ansatzweise weitergeholfen, außer, dass ihr Körper somit auf eine bemitleidende Art und Weise um Hilfe geschrieen hätte. Stattdessen gab sie sich mit einem entkräfteten Stöhnen zufrieden, während sie ihren Blick ziellos auf die goldenen Felder senkte, die sich getrennt von beiden Straßenseiten erstreckten. Als wolle der Himmel ihr ein Zeichen von Hoffnung entsenden, ließ die Sonne die Kolben der Ären glühend erstrahlen und hätten ihr durch ihren wunderschönen Anblick, welchen sie ausstrahlten, beinahe ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert, wäre da nicht die tiefe Frustration in ihrem Inneren gewesen, welche ihr selbst diesen Moment der Freude verwehrte. Die Tatsache, dass sie einfach nicht wusste, wie sie zu handeln hatte, saugte jede Glückseligkeit aus ihrem Herzen heraus, sodass sie nicht anders konnte, als das zauberhafte Spiel der Natur mit einem betrübten Blick zu erwidern.

,,Ich erwarte nicht von dir, dass du mir vergibst!" Rolands plötzliche Stimme traf das Mädchen so unvermittelt und erleichtert zugleich, dass sie wie elektrisiert zusammenzuckte und mit dem Kopf zu ihm herumwirbelte, nur um zwei braune Augen hinter den Brillengläsern zu entdecken, welche sie reumütig und verzweifelt zugleich betrachteten. ,,Du hast alles Recht der Welt, wütend auf mich zu sein! Schließlich habe ich von dir umgekehrt ebenfalls erwartet, dass du mir nichts verheimlichst und doch habe ich es selbst getan!" Trübselig stieß er ein tiefes Seufzen aus, während sein Blick zunehmend glasiger wurde. ,,Es tut mir einfach so unfassbar leid! Ehrlich, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr! Aber auch wenn du mir vielleicht nicht glauben magst... ich... ich hatte wirklich keine andere Wahl!"

Seine Stimme zitterte, fast so, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen, was Mona einen schmerzenden Stich in der Brust verpasste. Sie konnte noch so wütend auf eine Person sein, sie ertrug es schlichtweg nicht, wenn Menschen, die ihr dennoch viel bedeuteten, traurig waren. Wehmütig presste das Mädchen ihre Lippen aufeinander, während es sich abwandte und den Blick wieder zur Erde richtete. Sie wollte seinen bekümmerten und hilflosen Anblick nicht ertragen, gerade deshalb, weil sie nicht wusste, wie sie auf seine Aussage antworten sollte. Schließlich gab es nichts in Rolands Worten, dem sie, um ihn wahrheitsgemäß zu trösten, widersprechen konnte, egal, wie sehr sie es soeben getan hätte.

Die Erkenntnis, dass er ihr trotz ihres gemeinsamen Gelübdes, keine Geheimnisse voreinander zu wahren, etwas verheimlicht hatte, ließ Monas Herz qualvoll zusammenziehen, sodass die Worte von Mitgefühl, welche insgeheim dennoch in ihr schlummerten, schlicht in ihrem Hals stecken blieben. Und das, obwohl das Mädchen bereits an seinen trüben Klängen erkannte, wie ernst der Junge seine Entschuldigung meinte. Normalerweise genügte es ihr, allein den zerreißenden Ton von Verzweiflung zu vernehmen und sofort Fürsorge für die betroffene Person zu empfinden, selbst wenn diese sie zuvor verletzt hatte. Doch die mitfühlende Alarmsirene, welche in Monas Innerem wütete und sie eindringlich dazu aufforderte, Roland in den Arm zu nehmen, zeigte diesmal keinerlei Wirkung. Dazu war der Geschmack von Verrat noch zu sehr vertreten, als dass sie sich ihm blind hingeben konnte. Und sie wusste genau, dass ihr bester Freund auch nicht erwartete, dass sie ihn sofort verzieh, vermutlich wollte er es auch gar nicht.

Stattdessen bemühte sich das Mädchen, sachlich zu bleiben und sich nicht von möglicherweise fälschlichen Emotionen leiten zu lassen, weshalb sie, anstatt ihn zu beruhigen oder anzuschreien, den Fokus auf seine letzte Aussage legte.
,,Und warum konntest du das nicht?", fragte sie tonlos, um ihr sämtliches Gefühlschaos zu verbergen, während sie weiterhin auf ihre sich fortbewegenden Füße starrte. ,,Was hat dich daran gehindert, mir von alledem hier zu erzählen?" Pochend hämmerte ihr Herz gegen die Brust, als sie die Antwort abwartete. Trotz der Neutralität, welche in Monas Worten gelegen hatte, um keinen weiteren Streit auszulösen, hoffte sie inständig, dass es auch die richtigen gewesen waren, um stressigen Situationen möglichst zu entgehen.

Zur Erleichterung des Mädchens quittierte Roland dies mit einem erneuten Seufzen, das so viel Verzweiflung und Reue mit sich brachte, dass es ihr schon wieder weh tat.
,,Das Gesetzt der Traumwandler!", erwiderte er leise, was Mona überrascht und verwundert aufhorchen ließ. Das Gesetzt der Traumwandler? Sie meinte zwar, diese Silben von Amelia bereits einige Male gehört zu haben, doch wirklich Gedanken hatte sie sich bislang nicht darüber gemacht. Bis jetzt, wo ihr bester Freund es so aussprach, als handle es sich dabei um etwas sehr schwerwiegendes. Etwas, welches tonnenschwer auf seinen Schultern lastete und ihn zu Dingen zwang, an die er sich nicht halten wollte.

Fragend hob sie den Kopf und würdigte Roland eines skeptischen Blickes. Doch noch bevor sie irritiert nachhaken konnte, sah der Junge Mona bedeutungsvoll in die Augen.
,,Amelia wird dich noch früh genug darüber aufklären, mach dir deshalb keine Gedanken!", äußerte er, wobei er sein Gesicht jedoch einen betrübten Eindruck hinterließ. ,,Jeder von uns Traumwandlern ist bedingungslos daran gebunden, egal ob es uns gefällt oder nicht. Sie halten Claritas angeblich zusammen und sichern die dort lebenden Traumwesen ab, aber wenn ich ehrlich bin, halte ich einige für ziemlich bescheuert!" Abwertend schnaubte er, und senkte den Blick, ohne allerdings vom Faden ab zukommen. ,,Unter anderem ist es strengstens verboten, gewöhnliche Menschen von beiden Welten wissen zu lassen. Das Gesetzt macht dabei keine Ausnahmen, nicht einmal wenn es sich dabei um Vertraute wie dich handelt, die so etwas niemals weitererzählen würden!"

,,Aber wer kontrolliert das denn bitte?" Die Frage platzte Mona so abrupt heraus, dass Roland überrascht die Augenbrauen hob. Seine Verwunderung über ihre plötzliche Gesprächigkeit war ihm anzusehen, doch dem Mädchen brannten diese Worte viel zu sehr auf der Zunge, als dass sie sie zurückhalten konnte. Verständnislos zog sie die Stirn kraus und gestikulierte schwunghaft mit den Händen, ehe sie fortfuhr. ,,Mal im Ernst, es hätte da ja keiner wissen müssen! Du hättest es mir auch einfach sagen können, ohne dass es weder ein Traumwandler, noch ein anderer deiner gewöhnlichen Menschen mitbekommen hätte!"

Sie formte mit zwei Fingern beider Hände Anführungsstriche, um ihrer Betonung Kraft zu verleihen, während sie ihren besten Freund skeptisch ansah. Seine Erklärung erschien ihr bislang recht schleierhaft. Schließlich sollte Roland doch wissen, dass Mona nie im Leben eines seiner Geheimnisse ausplaudern und ihm selbst dann Glauben schenken würde, wenn er den unrealistischsten Müll daherreden würde. Außerdem, wie waren seine eigenen Worte noch gewesen? Innerhalb einer so engen Freundschaft sollte man sich doch alles erzählen?
Ziemlich ironisch, dass gerade er sich nicht daran gehalten hat!, dachte Mona grimmig, unterdrückte jedoch ein Schnauben. Es würde nichts bringen, ihren Frust derbe an ihm rauszulassen, obwohl sie wusste, dass der Junge dies aufgrund seines Vergehens verstehen würde.

Roland hatte den Blick derweil wieder abgewandt. Seine Augenbrauen hingen wieder beschämt herab, wenn auch diese diesmal noch betrübter dreinblickten, sodass es dem Mädchen beinahe leid tat, ihn so geknickt zu sehen.
,,Es geht nicht darum, ob du es für dich behältst oder in die Welt hinaus schreist, Mona!", erläuterte er sachlich, wobei seine beste Freundin anhand seines kaum merklich traurigen Wortlaut dennoch erkannte, wie sehr ihm diese Erkenntnis insgeheim zu schaffen machte. ,,Es geht allein um das Prinzip! Sobald die Mondzeremonie beginnt und du daraufhin an deinen künftigen Gefährten gebunden wirst, legst du kurz zuvor einen Schwur ab! Einen heiligen, um genau zu sein, mit dem du feierlich kundtust, dass du dich den Sternengöttern und ihren Gesetzten bedingungslos unterwirfst!"

Ein unbehagliches Schlucken drang aus seiner Kehle empor und ließ auch Mona entsetzt die Augen weiten. War das etwa wirklich Rolands Ernst? Sie... sie würde sich... unterwerfen müssen? Gesetzten, die sie noch nicht einmal kannte und die ihr jetzt schon nach den Erzählungen ihres besten Freundes kaum zusagten, würde sie widerspruchslos folgen müssen? Als würde eine eiskalte Hand ihre Kehle umklammern, japste das Mädchen erschrocken nach Luft und starrte überfordert zur Erde. Warum erfuhr sie das erst jetzt? Weshalb war Amelia nicht längst auf die Idee gekommen, sie auch darauf vorzubereiten? Sie war doch selbst den berüchtigten Tenebranern bereits bekannt, dann hätte sie doch auch ruhig erfahren dürfen, was noch auf sie zukommen würde!

Der bittere Geschmack von Enttäuschung ließ das Mädchen beinahe ebenso verzweifelt wie Roland das Gesicht verziehen. Warum musste das alles gerade sie treffen? Sie, Mona McGalen, war doch nicht einmal etwas besonderes oder gar fähig genug, sich in der Schule durchkämpfen zu können! Was machte sie gerade aus, dass sie innerhalb eines Tages ihre gesamte Lebensordnung verlieren und in eine fremde Welt geworfen wurde, welcher sie sich zusätzlich schlichtweg anzupassen hatte? Verzweifelt stieß Mona ein tiefes Seufzen aus. Sie wollte das alles nicht! Sie wollte keine willenlose Sklavin der Götter sein, von denen sie heute zum ersten Mal etwas gehört hatte. Was, wenn ihr keine ihrer Befehle gefielen? Was, wenn sie plötzlich gezwungen war, eine Killermaschine zu werden oder auf jegliches verzichten musste, was ihr lieb und teuer war? Amelia mochte das Mädchen vielleicht für den ersten Tag vor all den Informationen schonen wollen, aber was brachte ihr das schon? Mona war sich absolut sicher, dass sie sich wesentlich weniger elendig gefühlt hätte, wäre sie doch ein bisschen großzügiger aufgeklärt worden. Als hätte man sie wie ein kleines, einsames Kind im unheimlichen Dunkel zurückgelassen, ohne Hoffnung und ohne Verstand darüber, was überhaupt los war.

Die sanfte Berührung von Rolands Hand auf ihrer rechten Schulter riss sie plötzlich unmittelbar aus den Gedanken. Überrascht entgegnete sie seinen besorgten Blick, mit welchem er sie mitfühlend beäugte.
,,Hey!", sprach er sanft. ,,Was ist los? Ist es immer noch wegen der einen Sache? Vertrau mir doch, ich hätte es dir doch so gerne erzählt, aber..."
,,Darum geht es nicht!", unterbrach Mona ihn und schüttelte hastig den Kopf, wobei ihre Augen betrübt zurück in Richtung Erde wanderten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm das grundlegende Problem vermitteln sollte, ohne sie dass ihm den Eindruck vermittelte, sich komplett quer gegenüber ihrer neuen Verantwortung zu stellen, weshalb sie mit dem Fuß frustriert einen verwahrlosten Kieselstein ins anliegende Feld kickte. ,,Jetzt mal ganz im Ernst! Ihr gebt mir alle vor, dass es eine Ehre sei, eine Traumwandlerin zu sein und dass ich mich eigentlich dafür freuen sollte! Und ja, Claritas ist ein wunderschönes Land, keine Frage, aber findest du nicht, dass das gesamte Konzept dahinter, es zu beschützen, etwas... extrem ist? Ich meine, ich kann mir doch nicht einmal aussuchen, ob ich mich an einen Gefährten binden oder gar mein Leben dafür aufs Spiel setzten will, dass eine Welt, die mir bislang völlig unbekannt war, nicht von irgendwelchen Psychopathen aus der Nachbarschaft angegriffen wird! Und als wäre das nicht genug, erfahre ich von dir gerade, dass ich mich absurden Gesetzten beugen soll, die beinahe unsere Freundschaft zerstört hätten! Von denen mir Amelia kaum etwas gebeichtet hat."

Verzweifelt stieß Mona ein tiefes Seufzen aus und gestikulierte dabei frustriert mit den Armen. Es ergab einfach alles keinen Sinn! Wie um Himmels Willen sollte sie sich jemals damit abfinden können, eine solch gefährliche Rolle zu spielen, ohne überhaupt frei zu sein? Verbittert verzog das Mädchen das Gesicht. Bis vor wenigen Stunden hatte sie sich noch erträumt, anders zu sein, ein Mensch zu sein, den ihre gehässigen Mitschüler mitsamt Avery akzeptieren und mögen würden. Sie hätte alles mögliche in Kauf genommen, nur damit man sie respektierte und würdigte. Nun war ihr dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, und Mona hätte sich kaum elender fühlen können, als sie jetzt zurzeit empfand.

Geknickt ließ sie den Kopf hängen, ehe Rolands mitfühlender Händedruck plötzlich ihren Arm umschloss.

,,Ich verstehe dich!", sprach er leise, wobei sein sanfter Blick prickelnd auf der Haut des Mädchens ruhte. Als würde der Junge nach passenden Worten suchen, machte er eine kurze Pause und sog hörbar die Luft ein, während er mit seinen warmen Fingern beruhigend über Monas Ellenbogen strich. Auch wenn er gerade nichts sagte, spürte diese, wie seine Berührung eine Welle von Entspannung in ihren Körper entsannte, wofür sie dankbar aufatmete und seinen Augenkontakt, wenn auch weiterhin betrübt, erwiderte.

Roland räusperte sich, ehe er letztendlich fortfuhr und ihr dabei ernst ins Gesicht blickte.

,,Ich habe mich damals kein Stückchen besser gefühlt, als ich erstmalig von meinen Kräften und Claritas erfahren habe. Als wäre ich ein Gefangener von unbekannten Machenschaften, der nicht ansatzweise versteht, wofür ihm überhaupt Kräfte verliehen wurden. Und dass Amelia mich über das meiste erst nach der Vollmondzeremonie aufgeklärt hat, habe ich ebenso wenig gerafft wie du!" Ein erleichtertes Lächeln ließ Monas Mundzüge für einen kurzen Moment erhellen. Die Erkenntnis, verstanden zu werden, löste eine wohltuende Wärme in ihrem Inneren aus, die jeglichen Ärger zunichte schlug, von welchem sie zuvor noch befangen gewesen war. Also war sie doch nicht die Einzige, der all diese Neuheiten zu schaffen machten, sondern hatte sogar ihren besten Freund an der Seite, welcher zuvor von derselben Verwirrung erschlagen worden war, von der sie zurzeit geplagt wurde. Das Empfinden, allein zu sein, löste sich innerhalb weniger Sekunden zunehmend auf und verwandelte sich in einen winzigen Hoffnungsschimmer, doch mehr als ein nutzloser Feigling zu sein, für den sie von Brutus gehalten wurde.

,,Aber mittlerweile kenne ich einige der Gründe, warum wir uns so zu verhalten haben.", fuhr Roland daraufhin fort und schenkte seiner besten Freundin ein aufmunterndes Lächeln, welche dieses jedoch bloß mit vor Irritierung hochgezogenen Augenbrauen quittierte.

,,Und diese lauten?", entgegnete das Mädchen verwirrt, in der Hoffnung, endlich Antworten auf die etlichen Fragen zu erlangen, die sie unaufhörlich quälten. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass tatsächlich eine Sinngebung hinter dem gesamten, fragwürdigen Konstrukt existierte, war allerdings dennoch sehr daran interessiert, was er ihr dazu zu sagen hatte.
Sichtlich amüsiert ließ der Junge ein Schmunzeln aus seiner Kehle dringen, während er Mona unaufhörlich betrachtete.
,,Wusstest du schon, dass du wahnsinnig putzig aussiehst, wenn du verwirrt bist?", sagte er neckisch, schenkte ihr jedoch einen liebevollen Blick. ,,Fast so, als würde ein kleines, niedliches Kaninchen sein Futter verloren haben und verzweifelt danach suchen!"

,,Du Idiot!" Vorwurfsvoll knuffte ihm das Mädchen in die Seite und bedachte Roland mit einem gespielt empörten Gesichtsausdruck, versagte allerdings bei dem Versuch, das breite Grinsen zurückzuhalten, welches eindringlich in ihren Mundwinkeln kitzelte. Auf irgendeine mysteriöse Art und Weise gelang es ihrem besten Freund jedes Mal aufs Neue, sie wieder zum Lachen zu bringen, selbst wenn er sie gerade mit seinen frechen Neckereien aufzog. Und dafür war das Mädchen ihm insgeheim mehr als dankbar, weswegen es den Jungen mit einem freundschaftlichen Blick bedachte.

Dieser kicherte gewitzt.
,,Und wenn du wütend bist, ähnelst du eher einem aufgebrachten Küken! Man kann dich dann absolut nicht ernst nehmen, wusstest du das?"
,,Nein, nur nicht!" Genervt und sarkastisch zugleich rollte Mona seufzend mit den Augen. ,,Hast du mir die letzten zehn Jahre unserer Freundschaft noch nicht oft genug unter die Nase gerieben oder so! Vielen Dank für den Hinweis, sehr hilfreich!"

Ihr rhetorischer Unterton veranlasste den Jungen dazu, ihr mit dem Zeigefinger spielerisch in die Seite zu stupsen.
,,Immer wieder gerne, Miss McGalen!", erwiderte Roland schmunzelnd, wobei er eine gehobene Tonlage imitierte, als würde er eine besonders wichtige Geschäftsperson verkörpern, die einer jungen Frau erheblich weitergeholfen hatte. ,,Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung!"

Mona rang sich ein schwaches Lächeln ab, ehe ihre Miene mit einem Mal wieder einen ernsteren Ausdruck annahm. Es hatte überaus gut getan, nach dem ganzen Schlamassel wieder etwas lachen zu können, doch Rolands letzte Aussage erinnerte sie schmerzlich daran, dass er ihre vorherige Frage noch gar nicht beantwortet hatte. Schweren Herzens wandte sie den Blick zurück zur Erde und stieß zum hundertsten Mal ein tiefes Seufzen aus. Sie wollte diese freudige Stimmung nicht zerstören, besonders aus dem Aspekt nicht, dass sie und Roland endlich wieder ein normales, albernes Gespräch führen konnten, nachdem dieser ätzende Konflikt einen vorüber gehenden Graben zwischen ihnen geschaufelt hatte. Und jetzt, wo die beiden diesen endlich überwunden hatten und das Mädchen dank seiner Aufklärung keine Wut bezüglich ihres besten Freundes spürte, zerbrach ihre ursprüngliche Verwirrung des gesamten Konstrukts die euphorische Laune, welche die Zwei fröhlich miteinander plaudern ließ. Genauso, wie es vor dem ganzen Desaster gewesen war.

Gedrängt von dem Bedürfnis, Antworten zu erhalten, räusperte sich Mona sträubend.
,,Du wolltest mir vorhin noch erklären, warum wir uns diesen komischen Gesetzten und Verhaltensweisen so zu unterwerfen haben, als wären wir willenlose Marionetten!", stieß sie schließlich ernst hervor, wobei sie unsicher den Kopf hob und seinen Blick erwartungsvoll erwiderte. Das Mädchen hatte keine Ahnung, ob seine anschließende Äußerung tatsächlich bewirken würde, dass es sich mit dem Ganzen besser abfinden könne, doch es ignorierte das flaue Gefühl im Magen gekonnt und konzentrierte sich auf ihren besten Freund, dessen scherzende Miene schlagartig von einem schwachem Lächeln bedeckt wurde. Er vermittelte dabei den Anschein, als würde ihm das Konzept selbst nicht wirklich zusagen und sich trotzdem darum bemühen, es positiv zu betrachten, was Monas ungutes Gefühl keineswegs beseitigte.

,,Du musst es mal so sehen,", begann er sachlich, wobei seine braunen Augen einen ernsten Blick auf das Mädchen warfen, ,,hättest du Amelia sofort zusagt, eine Traumwandlerin zu sein, wenn man dich vor die Wahl gestellt hätte?" Die Frage erfolgte so unvermittelt, dass Mona irritiert die Stirn kräuselte. War das jetzt wirklich sein voller Ernst? Wollte er die Antworten, nach denen sie sich so sehnte, weiter hinaus zögern oder handelte es sich dabei schon um die Lösung, nach der sie bislang vergeblich suchte?

Dann jedoch hallten seine Worte erneut in ihrem Kopf wider und ließen sie plötzlich inne halten. Hätte sie die Wahl gehabt, dem zuzustimmen oder abzuwägen, hätte sie sich dann für ersteres entschieden? Unentschlossen wandte Mona den Kopf ab, um nachdenklich zur Erde zu starren. Auf der einen Seite musste sie zugeben, dass die ganze Sache in der Tat etwas Spektakuläres versprach. Claritas hatte das Mädchen so dermaßen fasziniert, dass es beinahe jeden Moment dafür genutzt hatte, deren Schönheiten und Magie bestaunen zu können. Und noch dazu waren einige Elemente, von denen sie immer geträumt hatte, wahr geworden: Es existierten tatsächlich Drachen und alle möglichen magischen Wesen, an die sie als kleines Kind geglaubt hatte.

Doch dann traten Mona die schrecklichen Bilder vor Augen, wie einer der Tenebraner mit erhobenem Messer über Paul aufragte. Drohend, ihm die Kehle mit der scharfen Klinge zu zermerzen, nur um das blutige Leid seines Opfers ergötzend zu belächeln.
Allein der widerliche Gedanke ließ das Mädchen abfällig die Lippen kräuseln. Zitternd verkramten sich ihre Finger zu Fäusten, während sie mit aller Kraft versuchte,dieses grauenvolle Szenario aus dem Kopf zu verbannen. Am liebsten hätte sie dieses Ereignis augenblicklich wieder vergessen. So sehr Mona auch Teile ihres bisherigen Lebens verabscheute, so waren diese nichts im Vergleich zu dem, was sie heute gesehen hatte. Denn das war pure Gewalt gewesen. Gewalt, die einem jungen Menschen in ihrem Alter beinahe das Leben geraubt hätte. Nicht die Art von Misshandlung, unter welcher sie in der Schule andauernd zu leiden hatte, sondern eine weitgehend viel, viel schlimmere. Und wie sollte sie einer solchen schon standhalten können, wo sie doch bereits fast unter Averys Hänseleien zusammenbrach?

Stockend versuchte Mona, ihre Stimme wiederzufinden. Sie hatte bislang gar nicht wahrgenommen, wie sehr sie von dieser einen Sache verstört worden war und realisierte dies erst jetzt, nachdem sie wieder daran gedacht hatte.
Ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend erzürnte eine Welle an Übelkeit, die das Mädchen beinahe taumeln ließ. Doch um Roland keine unnötigen Sorgen zu bereiten, presste sie die Zähne dagegen ankämpfend so fest aufeinander, dass deren Kiefermuskeln bereits zu schmerzen zu begannen. Es half vielleicht nicht, die entsetzlichen Vorstellungen aus dem Schädel zu verstoßen, jedoch erschien es ihr, als würde sie somit den aufkommenden Schwindel ein wenig zurückdrängen können.

Schließlich seufze sie und schüttelte den Kopf, ohne Roland sonderlich zu beäugen. ,,Ich fürchte, nein!", begann sie zaghaft. Der innere Drang, sich dafür zu rechtfertigen, dass sie einer so wundervollen Welt aufgrund einiger Strapazen den Rücken zuwenden würde, ließ bereits das schlechte Gewissen in ihr aufkeimen, sodass sie kurz davor war, den Mund zu öffnen und dem Jungen ihre Gefühle zu beichten, bis sie aus den Augenwinkeln plötzlich seinen verständnisvollen Blick erhaschte.

Vielsagend nickte Roland, wobei ihm ein mitfühlendes Lächeln auf die Lippen schlich. ,,Siehst du!", sprach er leise. ,,Genau das ist der Grund, weshalb dir vorerst keine Wahl gelassen wurde. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich damals am liebsten auch abgelehnt, als meine Kräfte erwacht sind. So wie viele andere von uns sicher ebenso!" Er legte eine kurze Pause ein, in welcher er sich bedeutungsvoll räusperte und seine besten Freundin sanft am Arm berührte.

,,Die Sternengötter möchten nicht, dass ihre Erwählten aus puren Selbstzweifeln sofort aufgeben. Sie hatten ihre Gründe, weshalb sie dich gewählt hatten, dementsprechend möchten sie einfach, dass auch du dir selbst eine Chance gibst. Eine Chance, dich zu beweisen, zu zeigen, was wirklich in dir steckt!"

,,Aber was sehen die denn bitte in mir?" Allmählich verlor Mona sämtliche Geduld. Alles, was sie wollte, war bloß, zu verstehen, warum gerade sie zum Bürdenträger ausgesucht worden war. Rolands Fürsorge mochte ihr vielleicht ein wenig Hoffnung und Wärme im Herzen verleihen, doch dies half ihr nicht im Geringsten weiter, die Verständnislosigkeit zu tilgen, von welcher sie innerlich zerfressen wurde. Frustriert verzog sie das Gesicht und rang die Hände, während sie voller Verzweiflung nach den richtigen Worten suchte, um ihrem besten Freund ihre Zweifel möglichst nahe zu bringen. ,,Ich verstehe beim besten Willen nicht, was an mir so unglaublich besonders sein soll! Du hast doch selbst gesehen, wie leicht ich zu manipulieren bin! Inwiefern soll denn bitte eine Traumwandlerin eignungsfähig sein, die ihre eigenen Kräfte nicht einmal ansatzweise im Griff hat?"

,,Denkst du etwa, ich habe mich anders gefühlt?" Rolands plötzlich ernster, harscher Ton ließ Mona erschrocken zusammenzucken und zu ihm herumfahren. Seine Miene hatte einen wesentlich düsteren Schein angenommen, der besser als tausend Worte beschrieb, wie sehr ihn die Selbstzweifel seiner besten Freundin trafen. Schmerzlich wurde dem Mädchen bewusst, dass der Junge es absolut nicht haben konnte, Menschen, die ihm am Herzen lagen, so negativ von sich selbst reden zu hören, weshalb Mona den Kopf schuldbewusst wieder senkte.

Roland ließ sich davon allerdings keineswegs von abhalten, seiner Enttäuschung, welche ihr Herz verkrampfen ließ, freien Raum zu bieten. Sichtlich frustriert kickte er einen weiteren Stein ins anliegende Feld, als würde ihm dies helfen, gegen seine Wut anzukämpfen. Geplagt vom schlechten Gewissen, nagte Mona unsicher an ihrer Unterlippe herum. Ihren besten Freund so verärgert zu haben, verlieh ihr ein wehmütiges Gefühl, das sie dazu trieb, ihn so schnell wie möglich wieder umzustimmen. Das hatte sie absolut nicht beabsichtigt! Sie war so sehr in Selbstmitleid versunken gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, dass es Roland vermutlich ähnlich vergangen war, als er seine Begabungen erlangt hatte. Als die Sternengötter ihn spontan damit konfrontiert hatten, die gleiche Last zu tragen  wie sie. Und von seiner eigenen, besten Freundin zu hören, dass man als Versager galt, wenn man diese nicht augenblicklich im Griff hatte, hatte ihn scheinbar schmerzhafter an seine eigene Vergangenheit zurückerinnert, als sie selbst es zu beabsichtigen gewagt hätte.

Monas Herz fühlte sich wie ein schwerer Stein an, der ihr bis in die Hose hinab sank. Sie konnte den Jungen absolut verstehen. Wie hatte sie sich auch nur so egoistisch aufführen können, wo es doch auf der Hand lag, dass auch sein Leben nicht aus reinem Zuckerschlecken bestand?

Beschämt wandte sie den Blick erneut zu Roland, der weiterhin damit beschäftigt war, missmutig in Richtung Erde zu starren. Seine Hände waren tief in den Hosentaschen seiner Jeans abgetaucht, als verlor er allmählich den Willen, das Mädchen sonderlich umzustimmen, wofür dieses ihn keineswegs verurteilen konnte.

Begleitet von dem dröhnenden Pochen ihres Herzens beäugte Mona ihn aus reuevollen Augen, während sie zögerlich nach den richtigen Worten suchte. ,,Es tut mir leid!", murmelte sie aufrichtig, wobei sie innerlich verzweifelt darum bat, dass er ihr vergeben würde. ,,Du hast ja recht! Es war absolut dumm von mir, mich die ganze Zeit zu bemitleiden! Ich weiß doch, dass es dir zuvor kaum anders ergangen ist und dass auch du dich erst einmal daran gewöhnen musstest, ein Traumwandler zu sein! Ich... ich wollte dich damit auf gar keinen Fall angreifen, ich hatte bloß nicht daran gedacht, wie sehr es dich treffen könnte, wenn du verstehst, was ich meine!"

Nervös nagte das Mädchen an seiner Unterlippe herum, wobei es Roland schuldbewusst musterte. Dieser hingegen äußerte kaum sonderliche Reaktionen. Entnervt stieß er ein frustriertes Schnauben aus, während er einen dicken Erdklumpen vor seinen Füßen her trat. Die Tatsache, dass er nicht sofort antwortete, ließ Monas Herz vor Reue umso schmerzhafter zusammenkrampfen, sodass sie betrübt den Blick abwandte. Wie gerne sie sich doch nur wünschte, ihre vorherigen Worte wieder zurücknehmen zu können! Am liebsten hätten sie den Jungen auf der Stelle umarmt, nur um ihm zu zeigen, wie leid es ihr tat und wie gerne sie nun für ihn da wäre, doch innerlich bedrückte sie das Gefühl, er würde dies zurzeit nicht wollen. Vermutlich genauso wenig wie ihre Anwesenheit, dessen bedauerliche Erkenntnis das Mädchen schwer schlucken ließ.

Dann jedoch, bevor Mona alle Hoffnungen auf eine baldige Versöhnung aufgegeben hatte, gab Roland mittels eines tiefen Seufzers eine Antwort zu bekennen.

,,Schon okay.", murmelte er etwas ruhiger, was Monas Herz vor Erleichterung schneller schlagen ließ. Überrascht fuhr sie mit dem Kopf erneut zu ihm herum, woraufhin sie einem ernsten Augenpaar begegnete. Seine Ärgernis war dem Jungen weiterhin von der gekräuselten Stirn abzulesen, was ihr eine Spur von Zweifel verlieh, ob seine Aussagen wirklich der Wahrheit entsprach. Doch Roland bemühte sich sichtlich darum, seine Wut herunterzuschrauben, indem er ihr ein halbwegs verständnisvolles Lächeln entgegen brachte.

,,Ich muss zugeben, dass mich meine Kräfte auch ziemlich umgehauen haben, als ich sie das erste Mal entdeckt habe!", sagte er leise, wobei seine Stimme einen rauen Klang annahm und seine Miene von einem düsteren Schatten belegt wurde, welcher nur zu kenntlich ausdrückte, wie ungern er sich an diesen Moment zurückerinnerte. Gepackt von Mitgefühl, das Mona in Fluten umarmte, ertappte sie sich dabei, wie sie ihren besten Freund mit hochgezogenen Augenbrauen sorgenvoll musterte. Der gesamte Zorn seinerseits, der sie eben noch geplagt hatte, war ihr im Nu aus dem Gedächtnis getreten, als ihr seine betrübte Haltung aufgefallen war, sodass sie von nichts anderem mehr getrieben wurde, als diese zu vertreiben und ihm zu helfen.

,,Was ist denn passiert?", hauchte sie bekümmert und wollte gerade die Hand auf seine Schulter legen, um Roland ihr Mitgefühl zu entsenden, doch dieser hob abwertend den Arm. ,,Nichts so großartig schlimmes wie bei dir!", erwiderte er kurz angebunden, wobei er seinen Blick starr in die Ferne richtete, als wollte er sich der Fragestellung entziehen. Sichtlich angespannt presste er die Lippen so fest aufeinander, dass diese eine weißliche Färbung annahmen und seine hochgezogenen Schultern verliehen Mona nicht sonderlich das Gefühl, als erzählte er ihr die Wahrheit. Doch noch bevor sie ihn weiter beunruhigt beäugen oder nachhaken konnte, schien Roland bereits nachzugeben.

,,Okay, okay, jetzt hör endlich auf, mich so anzustarren!" Frustriert wirbelte er mit dem Kopf wieder zu ihr herum, wobei er sie so grimmig ansah, als wäre er ihr Mitleid absolut leid. Dann jedoch seufzte er schwer und schloss kurz die Augen, um seine Ruhe zurückzugewinnen, ehe er sie schließlich wieder öffnete und einen traurigen Schein wahr gab, welcher Monas Herz um einiges schwerer werden ließ.

,,Es ist nur ein paar Monate her,", begann er letzendes mit belegter Stimme, wobei er den Blick seiner besten Freundin angespannt erwiderte, ,,Ich wurde auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe betrunkener Jugendlicher angefallen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie das taten, vermutlich, weil sie einfach nur auf Pöbeleien aus waren! Auf jeden Fall habe ich mich gewehrt, doch in dem Moment, als ich zuschlug, habe ich ganz spontan erfahren, dass ich über eine übermenschliche Stärke verfüge und habe den Typen, welcher mich anpacken wollte, ungewollt und mit voller Wucht gegen die nächste Hausfassade geschleudert. Sonst noch Fragen?"

Entsetzt schnappte Mona nach Luft, während Roland ihr abwartend einen verzweifelten Gesichtsausdruck gewährleistete. Tausende Fragen schossen ihr ungeordnet durch den Kopf, begleitet von derselben Panik, die den Jungen damals offensichtlich auch ergriffen haben musste. Wie schrecklich das wohl gewesen sein musste? Und sie hatte nicht einmal gewusst, dass das überhaupt geschehen war. Unfähig zu antworten, verhaarte sie sprachlos auf der Stelle, wobei sie es nicht einmal zustande brachte, den Mund zu schließen. Das Mädchen hatte bislang geglaubt, ihre eigenen Probleme wären nicht zu toppen gewesen, doch das... das raubte ihr vor Schreck sämtlichen Atem.

,,Wie rührend!" Erschrocken fuhr Mona plötzlich zusammen. Jemand, eine junge Frau, hatte sich hinter ihrem Rücken zu Wort gemeldet. Und so sehr sie sich doch gewünscht hatte, von dieser Stimme noch nie im Leben gehört zu haben, so meldete sich in ihrem Inneren eine warnende Alarmsirene, als wäre die Besitzerin dieser ihrem Bauchgefühl ebenso wenig begehrt gewesen. Panik begann von dem Mädchen Besitz zu ergreifen, während sie es nicht wagte, einen weiteren Schritt zu unternehmen. Zitterig und herzklopfend schielte sie zu Roland hinüber, welcher ihren Blickkontakt nicht minder angstvoll erwiderte.

,,Silvia!", stieß er keuchend hervor, ohne sich regen. ,,Was tust du hier?"

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