Kapitel 3

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Kurz nach acht betrat ich den großen Saal. Es hatte mich einiges an Überwindung gekostet, mich nicht einfach zwischen den Kissen zu verkriechen und den Abend wie ein Gewitter an mir vorbeiziehen zu lassen, doch ich wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Nach all dem, was ich gerade erlebt hatte, würde ich ohnehin keine Ruhe bekommen. Immer und immer wieder hatte ich in Gedanken die Unterhaltung mit Erlo abgespielt, hatte versucht all das, was er mir erzählt hatte, zu begreifen, doch vergeblich. Es ergab alles keinen Sinn.

Egal wie lange ich in meinem Gedächtnis kramte, die Erinnerung des Augenblicks, den Erlo mir vorhin gezeigt hatte, war wie gelöscht. Und nicht nur das. Alles, seitdem ich von zu Hause weggelaufen war, war verschwommen und durcheinander, wie ein Puzzle, das vom Tisch geworfen und in tausende Einzelteile zerfallen war. Immer wieder flogen einzelne Bruchstücke durch meinen Kopf, die Hütte, Navarro, der Wald, doch sie schienen nicht zusammen zu passen, wie ich sie auch drehte und wendete.

Ich wusste, nein ich spürte, dass Navarro irgendetwas mit meinem Tod zu tun gehabt hatte. Auch wenn vielleicht nicht er derjenige gewesen war, der den Abzug betätigt hatte. Ich wusste es mit der gleichen Sicherheit, wie ich gewusst hatte, dass Erlo die Wahrheit über meinen Tod gesagt hatte. Selbst für mich war nicht begreifbar, woher diese Gewissheit kam.

Jedes Mal, wenn ich an Navarro dachte, zog sich mir der Magen zusammen, als würde sich mein Körper an Dinge erinnern, die mir selbst verwehrt blieben. Es war ein grässliches Gefühl. All das, was in den letzten Monaten geschehen war, lag mir geradezu auf der Zunge und doch konnte ich es einfach nicht greifen, so sehr ich mich auch danach streckte.

Schließlich hatte ich beschlossen, die Erinnerungen in Ruhe zu lassen und der Willkommensfeier eine Chance zu geben. Früher oder später musste ich mich dieser neuen Welt sowieso stellen, ob ich bereit dafür war oder nicht. 

An diesen Gedanken klammerte ich mich verzweifelt fest, während ich die Schuhe wechselte, meine Haare richtete und schließlich Wilmas Wegbeschreibung zum Saal folgte, aber mit jedem Schritt wuchs das unwohle Gefühl in meiner Magengegend.

Als die breite Glastür hinter mir leise zufiel, stockte ich. Ich hatte erwartet, die farblose Version einer Schulcafeteria zu sehen oder den Speisesaal einer Jugendherberge, irgendetwas, was dieselbe eigenartige Kälte ausstrahlte, die ich auf den Gängen und in Erlos Büro gespürt hatte. Der Anblick, der sich mir in diesem Augenblick bot, war weit davon entfernt.

Die Größe des Saals war in etwa vergleichbar mit einer Schulturnhalle, mit hoher Decke und langen, kahlen Wänden. Da hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Der Boden unter meinen Füßen war nicht aus grünem Linoleum sondern bestand aus glänzendem, weiß-silbernem Marmor. Zu Lebzeiten hätte schon eine kleine Fliese davon ein Vermögen gekostet. Selbst die reichsten Freunde meines Vaters hätten sich diesen Raum nicht leisten können, doch hier in der Zwischenwelt herrschten vermutlich andere Regeln.

An der kurzen Wandseite gegenüber des Eingangs war eine Bühne, umrahmt mit weißen Rosen und blinkenden Lichterketten. Davor waren Stühle aufgereiht, auch diese verziert mit weißen Rosen. Ich konnte nicht genau erkennen wie viele es waren, doch ein paar hundert Leute hatten dort mindestens Platz. Von der Tür aus führte ein breiter Teppich zwischen den Stühlen hindurch bis zur Bühne. Noch war er verstopft mit Gästen, die in kleinen Gruppen zusammen standen und sich angeregt unterhielten. Trotzdem beeilte ich mich, schlüpfte seitlich an den Reihen vorbei und fand schließlich einen freien Platz in der zweiten Reihe.

Auf dem Platz daneben saß ein Mädchen, ein paar Jahre jünger als ich vielleicht, mit knielangem Kleid, schmalen Lackschuhen und einer großen, silbernen Schleife im Haar.

"Hey", grüßte ich sie und nickte ihr freundlich zu, bevor ich mich neben sie setzte. "Hübsches Kleid."

Sie ignorierte mich. Wäre sie bei meinen Worten nicht ein wenig zusammengezuckt, wäre ich mir sicher gewesen, dass sie mich nicht einmal bemerkt hatte. Ihr Blick war starr nach vorne gerichtet. Die Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, die Lippen zu einer schmalen Linie gepresst.

"Alles okay?", fragte ich. Als sie noch immer nicht reagierte, tippte ich sanft gegen ihre Schulter. "Alles okay?", wiederholte ich. Plötzlich fuhr das Mädchen herum und sah mich mit solchen, vor Schreck aufgerissenen Augen an, dass ich selber zusammenzuckte. Mit klopfendem Herzen starrte ich sie an. Ihr gesamtes Gesicht war überzogen mit dünnen, weißen Linien. Auch ihr Hals war voll davon. Doch es war ein anderer Anblick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: Ihre Pupillen waren schneeweiß.

Ich riss erschrocken den Mund auf und rutschte von ihr weg, doch im selben Moment schämte ich mich auch schon dafür. Genau diese Reaktion war das letzte, was das Mädchen jetzt noch verdient hatte.

"Entschuldigung", stammelte ich, konnte aber nicht anders, als den Blick von ihr abzuwenden. Wenn schon ein einfacher, sauberer Schuss eine solche Narbe zurückließ wie die auf meiner Brust, wollte ich gar nicht daran denken, was ihr passiert sein mochte. Ich schluckte und rutschte wieder ein wenig auf sie zu.

Dann richtete ich den Blick nach vorne. Die Bühne war von meinem Platz aus nur ein paar Meter entfernt. In der Mitte stand ein schmales Rednerpult, daneben einige Blumenvasen mit weißen Rosen. Der Rest der Bühne war leer. Dahinter an der Wand hing ein großes, leuchtendes Zeichen. Es war das Unendlichkeitssymbol, so wie Erlo und Wilma es an ihren Anzügen getragen hatten. Auch an dem Rednerpult erkannte ich das Symbol, deutlich kleiner, aber dennoch nicht zu übersehen.

Genau in diesem Moment ertönte ein leiser Gong und ein schmaler, glatzköpfiger Mann trat aus der Menge heraus vor das Rednerpult. Sofort wurde es still im Saal.

"Liebe Ankömmlinge", begann er. "Willkommen in Etenia." Er machte eine kurze Pause, doch es kam kein Applaus. Ich warf einen Blick über die Schulter, sah in viele ratlose oder geradezu emotionslose Gesichter. Nur vereinzelt konnte ich ein Lächeln dazwischen erkennen."Mein Name ist Martin Reichert, für euch gerne Martin", fuhr der Mann fort. "Ich bin Abteilungsleiter der D25 J4, auf den heutigen Tag seit 27 Jahren, wenn ich richtig mitgezählt habe, sowie seit diesem Jahr aktives Mitglied im Deutschen Nordbundausschuss in Etenia. Es freut mich, dass heute sogar drei Abteilungen die Sitzungen einleiten, darunter meine eigene Heimabteilung, sowie die D25 J9 und die D23 J5. Auch unsere Gäste der anderen Abteilungen heiße ich herzlich Willkommen." Wieder legte er eine Pause ein, wieder blieb es still im Saal.

"Ich gehe davon aus, dass Sie alle in ihrem Erstgespräch mitgeteilt bekommen haben, was hier in der Zwischenwelt auf Sie wartet. Ich hoffe, Sie hatten genug Zeit, dieses Wissen zu verdauen, denn heute Abend ist es noch nicht an der Zeit, um sich um den ernsten Teil ihrer Reise zu kümmern." Er warf einen kurzen Blick zur Seite, dann auf das Pult vor ihm.

"Ach ja, genau. Unsere Prinzipalin hat leider zu viel auf dem Tisch, um Sie persönlich in Empfang zu nehmen, aber sie lässt ausrichten, dass sie Ihnen allen einen guten Start und einen angenehmen Aufenthalt wünscht."

Mein Blick fiel zurück auf das Mädchen neben mir. Sie hatte die Hände an die Ohren gepresst und atmete hektisch, schien von dem Mann auf der Bühne kaum etwas mitzubekommen. Vollkommen überfordert sah ich mich um, suchte nach Wilma oder jemand anderem, der ihr helfen konnte. Der Junge, der auf ihrer anderen Seite saß, hatte ebenfalls bemerkt, dass etwas nicht stimmte, sah mich jedoch ebenso ratlos an.

Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und wedelte damit vor ihrem Gesicht herum. Ich traute mich nicht, sie noch einmal anzutippen, hatte aber keine bessere Idee, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Langsam drehte sie sich zu mir. Dieses Mal schaffte ich es, beim Anblick ihrer Augen nicht zurückzuschrecken, auch wenn ich am liebsten weggerannt wäre.

"Soll ich jemanden holen?", fragte ich leise. Die Rede hatte ich inzwischen vollkommen ausgeblendet, nahm sie nur noch als gleichmäßiges Rauschen war. Das Mädchen überlegte kurz, dann zuckte es mit den Schultern. Ich sah zurück zu dem Jungen neben ihr.

"Pass auf, wir gehen jetzt nach draußen und holen dir jemanden, mit dem du reden kannst, okay?", sagte er mit sanfter, beruhigender Stimme.

Ich erwartete fast, das Mädchen würde bei seiner Stimme ebenso panisch reagieren, doch sie nickte und ließ sich von ihm zur Tür führen. Als ich ihnen Platz gemacht und mich zurück auf meinen Stuhl gesetzt hatte, sah ich zurück zur Bühne. Der glatzköpfige Mann stand noch immer vor dem Rednerpult, doch er schien mit seiner Rede dem Ende entgegenzukommen.

"Sollten Sie Probleme haben, die sich nicht mit ihrem Betreuer oder ihrer Gruppenleitung klären lassen, scheuen Sie sich nicht, sich an mich beziehungsweise Ihre eigene Abteilungsleitung zu wenden. Wir stehen jederzeit zur Verfügung, um Ihnen die bestmögliche Zeit hier zu gewährleisten", sagte er gerade.

"Aber nun zum eigentlichen Grund, warum wir uns heute hier zusammengefunden haben. Zur Einleitung dieser Saison haben wir eine kleine Willkommensfeier organisiert. Ich hoffe, wir haben Ihren Geschmack und Zeitgeist getroffen. Wenn nicht, haben Sie Nachsicht. Die Welt dreht sich sehr viel schneller, wenn man sie nicht mehr selber miterlebt. Also. Das Buffet ist eröffnet, genau so wie die Tanzfläche. Genießen Sie den Abend."

Ein weiteres Mal klatschte die Menge, dann erhob sie sich. Da ich am Rand saß, brauchte ich nicht lange, um die langen Buffettische am Eingang zu erreichen. Kurz warf ich einen Blick durch die Glastür, doch das Mädchen oder den Jungen von eben konnte ich nirgends sehen.

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro