Kapitel 39

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Ich hatte Owena kaum mehr als ein Dutzend mal in der Zwischenwelt gesehen und doch bemerkte ich sofort, dass sich ihre Erscheinung hier verändert hatte. Statt ihrem sonst schneeweißen Anzug trug sie ein einfaches, blaues Stoffkleid und über den Schultern eine an den Seiten ausgefranste Decke. Ihre Haare waren offen und ich hätte schwören können, dass sie deutlich heller waren als in Etenia.

Keiner von uns rührte sich. Ich konnte Owena nur mit offenem Mund anstarren und Lucas ging es bestimmt ähnlich. Auch Navarro bewegte sich nicht von der Stelle.

"Gustav", sagte Owena leise. In Etenia hatte in ihrer Stimme immer so viel Autorität gelegen, dass man es nicht einmal wagte, ihr zu widersprechen. Hier war nichts mehr davon übrig.

Navarro schien seinen Schock überwunden zu haben, denn er brach in leises Gelächter aus.

"Ich muss sagen, damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. So viele Augen und Ohren, die ich überall hatte und trotzdem hast du es irgendwie geschafft. Ich frage mich nur, wen du noch alles hinters Licht geführt hast." Er deutete auf mich und Lucas. "Die beiden hatten ja schonmal keine Ahnung, wie sehr sie von dir benutzt worden." Er legte den Kopf schief. "Und es ist dir noch nicht einmal peinlich."

Owena hob den Kopf. "Ich habe niemanden belogen. Ja, vielleicht habe ich ein wenig über meine wahren Absichten getäuscht, aber Arin und Lucas werden das bekommen, was ich ihnen versprochen habe. Ich hatte keine andere Wahl. Wie sonst hätte ich dich erreichen sollen?"

"Du wusstest die ganze Zeit, wo ich war. Dafür haben deine Agenten gesorgt", antwortete Navarro

"Die Agenten, die für dich Augen und Ohren offen gehalten haben?", fragte Owena.

Navarro zuckte mit den Schultern. "Nicht alle. Der gute, alte Erlingur hat sich zum Beispiel schon immer geweigert, mit mir zu reden. Keine Ahnung, womit du dir seine Loyalität erkauft hast."

"Vielleicht hättest du ihn nicht so anfahren sollen, bevor du gegangen bist", antwortete Owena.

Navarro schnaubte. Ohne zu antworten sah er sich auf dem Friedhof um. Sein Blick fiel auf mich. Noch immer vollkommen regungslos stand ich neben der Gedenksäule. Dann schüttelte ich langsam den Kopf.

"Bitte, lauf dieses Mal nicht wieder weg", flehte Owena leise. "Ich weiß, du fühlst dich hintergangen und von allen verlassen, aber-"

Sie stockte, als Navarro sich plötzlich in Bewegung setzte und auf sie zukam.

"Gustav, hör mir zu. Bitte. Das kann so nicht weiter gehen. Ich kann dir nicht länger dabei zusehen, wie du alles um dich zerstörst, im Namen der Gerechtigkeit. Es wird sie auch nicht zurück bringen." Mit ausgebreiteten Armen versuchte sie, Navarro davon abzuhalten, an ihr vorbei zum Ausgang zu gehen.

Doch Navarro machte nicht den Eindruck, als hätte er überhaupt gehört, was Owena gerade gesagt hatte. Direkt vor Owena blieb er stehen und sah ihr direkt in die Augen. Ich hielt den Atem an.

"Sie dich an", hauchte er und hob die Hand, um Owena sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Ich blinzelte. Als ich die Augen wieder öffnete, trug er nicht mehr seinen weinroten Anzug, sondern ein löchriges, mit Flecken bedecktes Oberteil und eine ebenso schäbige Hose. Hätte man den Friedhof erst in diesem Moment betreten, hätte man denken können, die beiden wären Schauspieler in einem Historienfilm.

Einen Augenblick blieben sie einfach so stehen, ihre Blicke ineinander verloren, Navarros Hand an Owenas Kinn. Mein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. War das der Moment, in dem sie gestorben waren? Die schäbige Kleidung die, die sie in ihrer letzten Nacht auf dem Schiff getragen hatten? In diesem Moment, ohne die Anzüge, die strenge Frisur, wirkten die beiden auf einmal viel kleiner, fast schon verloren. Nicht wie die Leiterin der Zwischenwelt und einen Jahrhunderte alten Geist, sondern einfach wie zwei Menschen, die alles verloren hatten.

"Vermisst du sie nicht?", brach Navarro schließlich die Stille. 

Owena nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

"Jeden Tag. Jeden Tag stell ich mir vor, wie sie wohl ausgesehen hätte, ob sie deine Haare gehabt hätte, oder vielleicht meine Augen. Aber der Schmerz hört nicht davon auf, wenn du anderen das selbe Leid zufügst. Auch wenn du meinst, dass es das Richtige ist."

"Du hast mir gefehlt", sagte Navarro, seine Stimme so voller Schmerz, dass ich selber schlucken musste. Ein trauriges Lächen stahl sich auf sein Gesicht. "Ich habe so oft darüber nachgedacht, was für eine wundervolle Mutter du doch gewesen wärst, wenn wir einfach daheim geblieben wärst. Wie du mit ihr über die Wiese gelaufen wärst, wie wir ihr das Sprechen beigebracht hätten. Dabei bist du genau das gewesen, all die Jahrhunderte."

Er musste nicht einmal aussprechen, wen er damit meinte. Die verlorenen Seelen der Zwischenwelt, um die Owena sich gekümmert hatte, bis sie endlich ihren Frieden gefunden hatten.

"Du hast mir auch gefehlt. Von dem Tag an, an dem du die Zwischenwelt verlassen hast."

"Es war besser so. Ich habe sowieso nur Schaden angerichtet."

Owena schüttelte den Kopf. "Das hast du nicht. Bitte komm nach Hause, Gustav. Komm zurück in die Zwischenwelt."

"Die Zwischenwelt war nie mein Zuhause", erwiderte Navarro. "Du warst das. Du und unserer kleiner Stern."

"Ich bin da", sagte Owena und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich bin noch immer da und warte auf dich."

Ein seichtes Lächeln stahl sich auf Navarros Gesicht. Ein Lächeln, dass ich noch nie bei ihm gesehen hatte. "Es gibt nur eine Sache, die ich mir jetzt wünsche."

"Ja?", fragte Owena leise.

Navarro deutete auf den Steg hinter mir, hinter dem sich der Himmel langsam rötlich färbte.

"Dieser Sonnenaufgang. Mit dir." Er hielt Owena seine Hand hin und, ohne zu zögern, ergriff diese sie. Als würden sie mich und Lucas gar nicht mehr wahrnehmen, liefen sie an uns vorbei zum Wasser hinunter, bis ans Ende des Stegs und ließen sich dort nieder. Navarro legte seinen Arm um Owena und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Während ich sie ansah, Arm in Arm auf dem kleinen Holzsteg, konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen kamen. Nach all den Jahrhunderten waren sie endlich am Ziel ihrer Reise angekommen, an diesem Ufer, in dass sie all ihre Hoffnungen gesteckt hatten. Und doch waren sie weiter davon enfernt als an dem Abend, an dem sie aus dem Norden aufgebrochen waren. Dieser Sonnenaufgang hätte der Anfang eines neuen Lebens sein sollen, nicht das Ende. Ich drehte mich zu Lucas. Auch der hatte rot unterlaufene Augen. Ich trat zu ihm und griff vorsichtig seine Hand. Als ich zurück zum Steg sah, war dieser leer.

"Wo sind sie hin?", fragte Lucas.

"Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, wo auch immer sie sind, dass sie endlich Frieden gefunden haben", antwortete ich, auf einmal eine Merkwürdige Enge im Hals.

"Es war alles, wegen ihrer Tochter? Etenia? Die ganzen Morde, all dieses Gerede von Strafe und Gerechtigkeit?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Schmerz und Trauer können merkwürdige Dinge mit einem anstellen. Vor allem, wenn man diese Last hunderte von Jahren auf den Schultern tragen musste. Ich könnte nicht sagen, was ich an seiner Stelle getan hätte. Vermutlich wäre es nicht viel besser gewesen."

Ich wusste, dass Lucas mir am liebsten widersprochen hätte, doch in diesem Moment konnte es warten. "Ist alles okay mit dir?", fragte er.

Ich lächelte. "Ja, mit dir?"

Lucas nickte. "Ich brauch noch ein bisschen, um zu verkraften, dass ich die ganze Zeit für einen Narren gehalten wurde, aber ich denke, ich werde darüber hinweg kommen."

"Du hast ja Zeit."

"Ja, das stimmt."

"Also. Was jetzt?", fragte ich.

"Ich denke, wir sollten in die Zwischenwelt zurückkehren. Ein letztes Mal. Und dann all das hier hinter uns zu lassen und in unsere Leben zurückkehren." 

Ich nickte. "Okay." Dann sah ich zum Steg. "Setzen wir uns noch eine Weile ans Wasser? Wenigstens, bis die Sonne hoch genug ist, dass wir den Weg zurück zum Auto finden?"

Lucas stimmte zu und so setzten wir uns an genau die Stelle, an der Navarro und Owena vorhin verschwunden waren. Ein wenig schräg fühlte es sich schon an, gleichzeitig hatte ich mich lange nicht mehr so verbunden und geborgen gefühlt wie jetzt. Ich schloss die Augen und genoss die ersten Sonnenstrahlen auf meiner Haut, die seichte Wärme, die sie mir auf das Gesicht zauberte.

"Ich denke, es ist an der Zeit", sagte Lucas schließlich. Ich öffnete die Augen.

"Ein letztes Mal?", fragte ich und zog die beiden Pistolen hervor.

Lucas nickte lächelnd. "Weil es so schön war."

"Warte", unterbrach ich ihn.

Lucas hielt inne und senkte die Pistole.

"Bevor wir das hier tun." Ich räusperte mich. "Es würde mich freuen, wenn wir uns danach trotzdem noch sehen würden. Ich meine, so ein Leben ist wirklich hart, da könnten wir bestimmt jemanden brauchen, der das selbe durchgemacht hat, der einen versteht, weißt du?" Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Auch wenn es abwegig klingen mochte, hatte ich tief in mir drin wahnsinnige Angst, dass Luca mich gleich auslachen würde, dass er mich nie wieder sehen wollte. Was auch immer man das zwischen uns nennen wollte, es war bedingt. Bedingt durch die gemeinsame Aufgabe. Jetzt, wo wir sie nicht mehr hatten, hielt ihn nichts mehr davon ab, mich zum Mond zu schießen.

Lucas lächelte, seine Augen strahlten, als er sich zu mir beugte.

"Soll das ein Witz sein? Du bist das beste, was meinem Leben je passiert ist. Ich lass dich nicht so einfach gehen. Nicht, so lange ich eine Wahl habe."

Dann gab er mir einen sanften Kuss.

"Du auch", hauchte ich, noch immer eingelullt von seinem Atem auf meinem Gesicht, seinen Lippen auf meinen. "Du und diese kleine Kugel, die du mir mitten ins Herz gejagt hast." Ich schob meinen Pullover zur Seite, so dass er die feinen, weißen Narben sehen konnte, die sich über meinen Oberkörper zogen. "Ich hab schon vergessen, welche davon die erste war, aber bereuen tu ich keine."

Lucas grinste, drehte sich um und deutete auf einen kleinen Punkt an seinem Nacken. "Weißt du, das war mein klarer Favorit. Die Nacht war eine, die ich nie vergessen werde."

Ich schnaubte, konnte aber nicht anders, als ebenfalls zu lachen. "Komm schon. Erlo wartet bestimmt schon längst auf uns."

"Okay." Gemeinsam hoben wir unsere Pistolen. Er richtete seine auf mich, ich meine auf ihn.

"Drei", begann ich zu zählen.

"Zwei", fuhr Lucas fort.

"Eins."

Dann drückten wir ab.

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