Freitag - 59.2 - zum Teetrinken bei den Raben

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Don't forget - it's fiction!

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Der Zimmerservice wird gerufen, damit das Frühstück abgedeckt wird. Die Manager gehen wieder an ihre Arbeit. Sung-Deuk fährt schon zur Halle, weil er nämlich dort mit dem Staff weiter die ganzen Überraschungen vorbereiten will. Taehyung drängt Yoongi zum Klavier, damit sie konzentriert arbeiten können und er dann zur National Gallery verschwinden kann. Jimin nutzt die Gelegenheit, singt sich mit ein und unterstützt Tae bei der Arbeit am Klang. Auch Jin singt mit, um sich dann anschließend seinem neuen Solo widmen zu können. Jeongguk macht sich auf die Socken zur Druckerei und lässt unterwegs Hoseok an der Shopping-Mall aus dem Taxi springen. Und Namjoon und Yuiko gehen auf "ihren" Balkon, um sich zu sortieren, wie sie den Vormittag verbringen möchten.

Eine Weile sitzen sie aneinander gekuschelt da. Dann formuliert Yuiko ihre Gedanken laut.
„Ich mag PD. Er ist ein aufrechter und sensibler Mann. Wir wären jetzt einfach losgelatscht, weil es am Mittwoch ja auch so geklappt hat. Aber er hat Recht."
Sie denkt nach.
„Was wollen wir denn eigentlich jetzt machen?"
Namjoon muss schmunzeln.
„Also am Mittwoch Mittag hast du ja eine ganze Menge aufgezählt. Davon übrig sind zum Beispiel Madame Tussauds und der Tower mit den Raben und den Kronjuwelen. Was sagt dein Bauch?"
Yuiko grinst.
„Piepmätze und Klunker. Oder?"
Namjoon nickt.
„Gut! Ich bin dabei. Solange du nicht den Moriarty machst?!"
Beide müssen sehr lachen.
„Ich glaube, wenn wir jemals Zeit dazu haben, müssen wir zusammen 'Sherlock' kucken. Das scheint eine gemeinsame Leidenschaft zu sein! - Und wie wollen wir ..."

Namjoon wird sofort wieder ernst.
„Es ist heute viel wärmer als vorgestern. Da funktioniert Schal vor dem Gesicht einfach nicht mehr. Facemasken sind sehr auffällig. Also Kapuzen. Und mit dem Taxi zur Towerbridge, zu Fuß rüber zum Tower. Und ..."
Er seufzt.
„...flirten nur, wenn wir alleine sind."
Yuiko schaut ihn an.
„Hm. Dann müssen wir aber für Proviant sorgen!"
Mit diesen Worten beugt sie sich vor und gibt ihm einen langen, gefühlvollen Kuss.

„Hm. Die Vorspeise. Das war lecker!"
Empörte Augen blitzen ihm entgegen.
„Mecker nicht, du Nimmersatt!"
Er grinst.
„Tu nicht so, als wärst du selbst damit schon satt!"
Er zieht sie an sich und erwidert ihren Kuss. Yuiko schlägt die Augen wieder auf, und Namjoon wird ganz warm, denn er sieht, dass sie einfach nur glücklich ist. Sie flüstert, ganz leise.
„Nachtisch jetzt oder später?"
Als das dann auch geklärt ist, ziehen die beiden sich schlabberige Klamotten mit Kapuzen an und brechen auf zum Tower.

Kaum sitzen sie im Taxi, erinnert sich Namjoon an etwas.
"Du, Yuiko?"
Sie schaut zu ihm hin.
"Hm?"
Er muss lächeln.
"Als du am Mittwoch deine Aufzählung gemacht hast, da hast du mitten drin nach einem ziemlich einsamen 'H' aufgehört zu reden und nach einer Schrecksekunde mit 'Harry und Meghan' weiter gemacht. Darf ich dich fragen, was du eigentlich sagen wolltest?"
Yuiko wird ein bisschen rot, aber eigentlich vor Glück.
"Darfst du. Ich wollte 'Händchen haltend durch die Kew Gardens spazieren' sagen."
Namjoon strahlt sie an vor Glück und seufzt.
"Oh Mann! Wir haben uns in dieser Woche echt ganz schön selbst im Wege gestanden!"
Dazu kann Yuiko nur nicken.
"Yepp. Da hast du Recht!"

Das Taxi setzt sie an der Towerbridge am Ufer von Southwalk ab. Die 61 Meter hohen Brückentürme und dahinter der weitläufige Komplex des Tower sind echt imponierend. Sie gehen über die Uferstraße und auf die Brücke zu. Wenn man dann die Treppen hoch steigt, sieht man direkt auf einen der Türme.

Man könnte auch ganz oben durch einen der beiden Gänge gehen, aber die sind voll verglast, sogar der Fußboden [hab kein aktuelles Bild gefunden], und Namjoon schüttelt sich alleine bei dem Gedanken daran, in 43 Meter Höhe über einen Glasboden laufen zu müssen.
„Sorry, ich vertraue dir, Yuiko, aber DAS mach ich nicht mal mit geschlossenen Augen. Dafür muss ich mich nicht da hochquälen!"
Also laufen sie unten entlang der Fahrspuren über die Brücke.

Die Brückenteile klappen gar nicht sooo oft hoch, weil die Schiffe sich 24 Stunden vorher dafür anmelden müssen und deshalb so durchgeschleust werden können, dass sie möglichst selten den Verkehr behindern. Aber ausgerechnet jetzt, wo die beiden auf die andere Seite wollen - schalten die Ampeln auf rot, es bimmelt penetrant und schnell heben sich die beiden Seiten an, um ein Kreuzfahrtschiff durch zu lassen. Also bleiben Namjoon und Yuiko am Geländer stehen, schauen erst ein bisschen dem technischen Schauspiel zu und wenden sich dann zum Wasser.

Yuiko schaut nach unten und lächelt auf einmal. Da fällt Namjoon die andere mysteriöse Situation vom Mittwoch ein.
„Yuiko? Ich bin schon wieder neugierig. Darf ich dich fragen, was du am Mittwoch auf den Zettel geschrieben hast, den du dann ins Wasser geworfen hast?"
Sie lächelt noch ein bisschen mehr, greift nach seiner Hand und antwortet leise.
"Ja, darfst du. Kannst du dich erinnern, dass ich bei meiner Aufzählung von ToDo's für London auch 'einen Traum in der Themse versenken' genannt hatte?"
Auch er flüstert nun.
„Ja. Kann ich. Und ... was war das für ein Traum?"
Noch immer lächelnd dreht sie sich zu ihm hin und tippt erst ihm, dann sich vor die Brust.
„Das hier. Das war mein Traum. Und er ist schon wahr geworden."
Wieder explodieren Glücksknubbel in vielen bunten Farben. Tief schauen sie sich unter ihren Kapuzenrändern hervor in die Augen.

Dann fällt Yuiko noch eine andere Szene von Mittwoch Nachmittag ein. Sie war sehr irritiert darüber, hatte sich aber nichts anmerken lassen.
"Namjoon? Darf ich dich auch was fragen?"
Er nickt bloß.
"Natürlich! Schieß los!"
Sie lächelt.
"Peng!"
Beide müssen kichern unter ihren Kapuzen.
"Als ich dir im Liberty den Mantel ausgesucht hatte, da hast du mich einen Moment lang sehr intensiv angesehen. Ich bin in dem Moment fast gestorben vor Glück, weil ich meinte, in deinen Augen ganz viel Liebe zu entdecken. Du warst so unglaublich zu mir an dem Nachmittag - gleichzeitig witzig, frech, fürsorglich, zart, ... soviel. Und dann hast du plötzlich auf dem Absatz kehrt gemacht und bist zum nächsten Spiegel gerannt. Warum?"
Namjoon wird bei ihren Worten abwechselnd blass und rot. Seine Antwort ist fast nur ein Flüstern, klingt ein wenig beschämt.
"Weil ich feige war? Weil ich dich in dem Moment am liebsten geküsst hätte, aber der überverantwortungsbewusste Leader die Oberhand gewonnen und gebremst hat? Weil ich Angst hatte, du könntest das nicht wollen?"
Unsicher schaut er sie unter der Kante seiner Kapuze hervor an. Aber Yuiko lächelt nur und flüstert nun auch.
"Dann fühl dich bitte jetzt geküsst und hör sofort auf, dich zu schämen. Ja, mich hat das sehr verunsichert. Aber genau das zeichnet dich doch aus: du kannst herrlich albern sein, aber du schaltest dabei dein Hirn nicht ab, verlierst nie das Gefühl dafür, wann es Zeit ist, wieder ernst zu werden und sensibel zu handeln. Vielleicht hättest du in dem Moment deinem Bauch gehorchen sollen. Aber der Ort war nicht passend dafür, und das hast du gespürt. Ich will dich genau so, wie du bist!"
Dankbar nimmt er ihre Hand, drückt sie fest und sie drehen sich beide zum Wasser, weil sie hier grade nicht tun können, was sie eigentlich jetzt gerne täten - nämlich diesen Kuss nachholen.

Die Brücke ist inzwischen wieder freigegeben, und so gehen die beiden auf die andere Seite, kaufen sich Tickets für den Tower und betreten das weitläufige Gelände. Sie schließen sich einfach einer der kostenlosen Führungen an und werden von einem Beefeater mit einem Haufen lustiger oder gruseliger Anekdoten durch die Gebäude geführt. Der Führer zeigt ihnen das „Traitors gate", ein Tor unten in der Mauer, durch das man mit einem Boot direkt in den Tower gelangen konnte. Sie bewundern die Dicke der Mauern, die Höhe des Turms, die luxuriösen Zimmer im White Tower, schütteln die Köpfe über scheinbar tonnenschwere Ritterrüstungen, hören die Geschichten von verschwundenen Prinzen, geköpften Ehefrauen, von Feuer, Krieg und Verrat. Sie machen den Extraschlenker zu den Kronjuwelen mit und lassen sich mit allen anderen an den Panzerglasvitrinen entlang schieben, in denen die größten und teuersten Klunker der Welt geheimnisvoll glitzern. Während sie dann über das Gelände laufen, sehen sie immer wieder einen der Raben. Der Beefeater erklärt schließlich auch das.

„Warum die Raben ursprünglich in den Tower kamen, weiß niemand mehr. Aber als um 1670 der astrologisch interessierte King Charles II. Die Raben entfernen lassen wollte, weil sie ihm immer auf seine empfindlichen Teleskope geschissen haben, hat ihm ein abergläubischer Hofangestellter erzählt, dass der Tower zusammenstürzen und das englische Königreich untergehen würde, sollten jemals weniger als sechs Raben im Tower leben. Daraufhin hat Charles II. die Raben unter königlichen Schutz gestellt und seine Sternwarte nach Greenwich verbannt. Darum läuft heute auch der Nullmeridian nicht durch London sondern durch Greenwich, das damals ein relativ unbedeutender Ort in der Nähe von London war, allerdings mit einem Königsschloss. Und im Tower leben immer mindestens sieben Raben, damit selbst dann noch sechs da sind, wenn mal einer davonfliegt, von einem Fuchs gefressen wird oder an Altersschwäche stirbt."
Amüsiertes Gemurmel von Seiten der Führungsteilnehmer ist zu hören.

Auch Namjoon schmunzelt.
„Schon ziemlich schräg, was Menschen bereit sind zu glauben. Aber ich habe gut reden. In jeder Kultur gibt es solche Mythen, und es gibt immer Menschen, die fest daran glauben. In Korea gibt es zum Beispiel jede Menge Geisterglauben. Der Schamanismus ist die älteste Religion in Korea, und Spuren davon sind in allen neueren Religionen wie Buddhismus, Taoismus und Co. zu finden."

Der Führer hat inzwischen einen der Raben angelockt und ihm etwas zu fressen hingehalten.
„Die Raben werden eigentlich morgens mit artgerechtem Futter versorgt. Aber leider lassen all die Besucher hier immer wieder Reste liegen oder füttern sogar die Raben mit ungesunden Leckerli's. Außerdem sind die Tiere schlau. Sie sind durchaus in der Lage, einem Menschen die Chipstüte wegzureißen und wegzuschleppen. Eine unserer Rabendamen langweilt sich schnell. Und wenn sie nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, legt sie sich wie tot auf den Rücken und zieht die Beine an. So wartet sie, bis die aufgeregten Besucher einen Beefeater geholt haben. Dann springt sie vor dessen Augen auf und hoppelt davon. Ich denke immer, ich kann sie kichern hören."

Noch eine ganze Weile führt der Mann die Gruppe durch die Anlage. Sie besuchen die alte normannische Kirche. Und Räume für Gefangene, wo Namen und Botschaften in die Wände geritzt wurden.

Schließlich beendet der Führer den Rundgang, bedankt sich für die Aufmerksamkeit und den Applaus und entlässt seine Zuhörer. Manche gehen nun mit einem Audioguide weiter, andere setzen sich auf eine der Bänke, um sich auszuruhen oder zu stärken. Und Namjoon hält Ausschau nach einem Plätzchen, wo sie ungestört sein können. So landen sie auf der hohen Festungsmauer. Hier oben haben sie einen herrlichen Ausblick auf die ganze Anlage mit den vielen alten Gebäuden ringsum, auf die Tower Bridge, auf den Fluss und auf die zahlreichen Hochhäuser des nahen Bankenviertels. Nur selten geht jemand an ihnen vorüber. Sie schauen vom Wehrgang abgewandt auf den Fluss und die Stadt, und so kann ihnen keiner ins Gesicht sehen. Namjoon legt einen Arm um Yuikos Schultern, und beide genießen den entspannten Moment.

„Du, Joonie? Ich ... möchte dich was fragen."
Namjoon spürt ihr Zögern und drückt ihr ermutigend die Schulter.
„Diese Lieder, die ihr singt, vor dem Essen und abends vorm Schlafengehen, das ist Deutsch, oder?"
Nun schaut Namjoon ihr doch ins Gesicht, weil er rausfinden will, was in ihr vorgeht.
„Ja, das sind deutsche Lieder, die uns Tina beigebracht hat. Ich kann sie dir gerne übersetzen. Es sind ein christliches Danklied und ein christlicher Abendkanon."
Wieder ist ein Zögern in ihrer Stimme.
„Wie kommt es, dass ihr solche Lieder singt? Ich mein ... man erfährt ja unheimlich viel über euch, aber eigentlich nichts über eure Religion. Außer, dass du dich als Atheist bezeichnet haben sollst. ... Versteh mich nicht falsch, ich hab da gar nichts zu melden! Ich ... versuche nur, das zu verstehen."

Plötzlich wird auch Namjoon nervös, weil er nicht so ganz kapiert, worum es ihr eigentlich geht. Aber diese Fragen scheinen so wichtig zu sein, dass er ganz ehrlich sein will.
„Jeongguk ist getaufter Christ, hat sich aber, seit er Trainee ist, nicht mehr damit auseinander gesetzt, weil ihm schlicht Kraft und Zeit dafür gefehlt haben. Alle anderen sind mehr oder weniger buddhistisch oder schamanistisch oder wie ich atheistisch angehaucht. Aber außer meinen Ausflügen in die Philosophie und allgemein unseren sehr persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Leben gibt es keine regelmäßige - ich nenn das jetzt mal - 'Weltanschauungsausübung'."
Yuiko schaut ihn an.
„Warum dann diese Lieder? Was hat sich verändert? Was ist passiert?"

Allmählich fühlt sich Namjoon wieder sicher bei dem Gespräch und kann die Anspannung etwas loslassen.
„Tina. Tina ist passiert. Und ich sage gleich vorweg: sie hat sich immer wieder mit Händen und Füßen gewehrt und immer wieder betont, dass sie uns nicht missionieren will. Aber grade das hat mich offen gemacht, mich - ja - mich auf sie und ihr Weltbild einzulassen. Tina ist gläubig auf eine ganz spannende Weise. Ich habe mich nie vorher damit auseinandergesetzt, wie egal welcher Glauben ganz praktisch im Leben aussehen kann. Man kann die jeweils Heiligen Schriften lesen, in Gottesdienste gehen, Tempel besuchen, Pilgerfahrten machen, Gebete auswendig lernen. Man kann in die Geschichtsbücher schauen und sich über Kreuzzüge und Scharia aufregen, über Frauenfeindlichkeit und Judenverfolgung schimpfen. Man kann sich Predigten anhören darüber, welches Wort wie gemeint ist und was man zu glauben hat. Aber was hat das mit dem eigenen Leben zu tun? Dass das überhaupt etwas mit dem echten Leben zu tun hat, das habe ich jetzt durch sie gelernt."
Er überlegt, wie er das am besten erklären kann.
"Ein Beispiel: Was macht ein Mensch, dem plötzlich eine große Verantwortung zufällt? Dieser Mensch hat keine Wahl. Diese Herausforderung muss gemeistert werden."
Yuiko schaut ihn neugierig an.
„Was hat das mit der Religion zu tun?"

„Siehst du - genau das ist es. Wenn ich Tina glauben darf, dann ist das die eigentliche Herausforderung des christlichen Glaubens. Wohl auch, in die Kirche zu gehen und dort die Gemeinschaft zu leben. Wohl auch, in der Heiligen Schift zu lesen, sich innerlich damit auseinander zu setzen. Aber vor allem sagt sie: der christliche Glauben will nicht nur unser Hirn erreichen, er will Teil unseres Lebens sein. Jesus Christus will Teil unseres Lebens sein. Der Gott der Bibel will gefragt werden und sich kümmern. Dieser Gott will als lebendige Person, als echtes Gegenüber, als Gesprächspartner und Lebensbegleiter verstanden werden."

Yuiko hört sehr aufmerksam zu, Namjoon fährt fort.
"Wenn mir das Leben plötzlich eine Aufgabe stellt, die viel zu groß und zu schwer erscheint - was mache ich dann? Ich grabe in meinem Hirn, was ich tun könnte, tun muss. Ich lese ein Buch darüber. Ich frage Menschen, die ich für weiser, für reifer, für erfahrener halte. Ich suche mir praktische und mentale Hilfe. Und genau das tut Tina auch - bei ihrem Gott. Sie hat gar nicht davon angefangen. Ich habe sie beobachtet und habe angefangen zu fragen. Sie hat ganz still geglaubt. Sie war genau in dieser Situation: 'Das hier mit den Jungs von BTS, mit dem Eingesperrtsein, mit den kulturellen Unterschieden, mit der Enge ist zu groß für mich. Und doch darf es nicht misslingen!'"

Namjoon kann Yuikos Blick entnehmen, dass sie das alles wirklich wissen will, und erzählt weiter.
"Sie hat in ihrem Regal ein Fach eingerichtet als ihre Gebetsecke. Dort steht eine Kerze, ein paar Postkarten mit christlichen Sprüchen, die ihr was bedeuten, ein einfacher Holzteller. Darauf stehen drei Bronzeengel, und daneben stehen zwei kleine Schüsseln. In der einen sind Steine, rund, spitz, ganz verschieden. In der anderen ist ein buntes Sammelsurium von Herzen. Aus Holz, Stein, Glas, Keramik, Filz, klein, groß. Wenn sie betet, geht sie dort hin. Es geht ganz schnell. Wenn sie eine Angst, eine Bitte, eine Klage, eine Frage an - nennen wir das mal - an ihr Leben hat, dann legt sie dafür einen Stein auf den Holzteller und schickt ihren Gedanken los. Wenn sie eine Freude, einen Dank, eine Hoffnung im Kopf und Herzen hat, dann legt sie ein Herz darauf. Für sich, ihre Familie, für andere. Du ahnst nicht, WIE oft sie für uns Steine und Herzen dort abgelegt und für uns gebetet hat."

Yuiko schaut Namjoon konzentriert an. Sie spürt, dass das in den letzten Wochen Erlebte Namjoon so bewegt und geprägt hat, dass sie das verstehen will.
„Ich war in diesen Tagen sehr wachsam, grade am Anfang, weil wir ja erstmal lernen mussten, uns gegenseitig einzuschätzen, damit dieses verrückte Ding gelingen kann. Sie ist sooo oft kurz dort stehen geblieben. Und zwar immer dann, wenn eine Entscheidung anstand, wenn es einem von uns nicht gut ging, wenn sie selbst mit ihrem Latein am Ende war. Es gab Situationen, wo wir alle die Luft angehalten haben vor Schreck oder Angst. Wenn sie am stärksten gefordert war, ist sie nicht aufgesprungen und losgerannt, um IRGENDWAS zu tun. Sie - hat erstmal gebetet. Manchmal mitten im Gespräch. Und wenn ich sie dabei beobachten konnte, habe ich immer wieder das selbe gesehen: wenn sie starr vor Schreck war, konnte sie im Gebet weinen, wenn sie verkrampft vor Angst war, konnte sie sich entspannen, wenn sie gebeugt war von der Last der Verantwortung, hat sie sich beim Beten wieder aufrecht hingestellt. Und sie hat das nicht 'gemacht'. Es wurde ihr geschenkt. Sie sagt: DAS ist glauben. Sich erlösen lassen von Schuld und Qual, sich beschenken lassen mit neuer Zuversicht und Hoffnung. Von einem Gott, der ein lebendiges Gegenüber ist."

„Du erzählst das mit so viel Begeisterung - heißt das, dass du das nun auch glaubst?"
Namjoon hat sich das selbst schon oft gefragt in den letzten Wochen. Langsam schüttelt er den Kopf.
„N.nein. Du hörst mich zögern mit der Antwort. Ich bin dadurch nicht zum Christ geworden. Aber ich habe auf jeden Fall begriffen, dass Religion kein Placebo zur Selbstregulation ist sondern etwas Lebendiges, Pulsierendes, Gegenseitiges. Ich habe gesehen, habe erlebt: ihr Glauben hat uns alle getragen. Also halte ich jetzt zumindest echten, gelingenden Glauben an etwas Höheres außerhalb von mir für eine Realität, die ich nicht länger leugnen kann. Und darüber hinaus habe ich einen ungeheuren Respekt vor ihrer Religion, vor ihrem Gott bekommen. Ich habe Hochachtung gelernt dabei. Ganz egal, ob es ihn gibt oder nicht. Ob ich an ihn glaube oder nicht - dieses 'wasauchimmer' hat uns alle getragen. Und also singen wir diese Lieder aus Respekt vor Tina, vor der Kraft, Weisheit, Geduld und Liebe, die sie daraus bezogen hat. Tina sieht das ganz gelassen, glaube ich. Sie hat jedenfalls die Geduld, abzuwarten, was damit in uns geschieht."

Er schaut Yuiko an, versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, was sie denkt über das, was er ihr grade alles erzählt hat. Sie lächelt.
„Wie schade, dass ich vor ihr versteckt werden muss. In der einen Stunde nach Mitternacht habe ich kaum Chancen, auch nur einen Bruchteil von ihr zu entdecken. Sie bedeutet euch und dir so viel - ich möchte sie richtig kennenlernen!"
Namjoons Herz macht einen Hüpfer.
„Das wirst du! Sei versichert - wir sind ihre 'Leihsöhne', sie wird uns niemals vergessen. Und sie ist unsere Herzensmutter, wir werden sie niemals aus unseren Leben lassen. Sie gehört dazu. Wenn es dir wichtig ist, werden wir noch dieses Jahr für eine Möglichkeit sorgen, dass ihr euch besser kennenlernen könnt. Irgendwie kriegen wir das hin!"

Noch eine Weile stehen die beiden schweigend nebeneinander. Sie fühlen sich tief verbunden, von Herzen geliebt und einfach nur glücklich. Doch irgendwann mahnt der Blick zur Uhr doch zum Aufbruch. Sie fahren mit dem Taxi zum Hotel und erwischen die anderen grade noch im Aufbruch zur Halle.

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11.5.2019    -       19.5.2019    -    15.9.2019
18.10.2019    -    22.5.2020

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