1 - Die Zukunft ist heute

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Manchmal stelle ich mir das Leben wie ein großes Puzzle vor. Die einzelnen Teile setzen sich aus Erinnerungen und Erfahrungen zusammen, die wir im Laufe der Zeit gesammelt haben und auch weiterhin täglich in unseren Herzen speichern.

Mein eigenes Puzzle schillert bereits in vielen bunten Farben. Erst heute ist ein neues Teil hinzugekommen, da ich einen wichtigen Meilenstein in meinem Leben erreicht habe: Meinen Schulabschluss.

Irgendwie fühlt es sich surreal an, die Southwest High ab sofort hinter mir zu lassen. Jahrelang bin ich dort zur Schule gegangen, habe für Prüfungen gelernt, meine Freundinnen getroffen und Spaß gehabt.

Ich hatte einen festen Tagesablauf und einen strukturierten Alltag. Um ehrlich zu sein macht es mir etwas Angst, meine Routinen zu brechen und mein gewohntes Umfeld zu verlassen.

Wenn alles nach Plan verläuft, werde ich in drei Monaten mein Studium am Northham College beginnen. Zwar ist es ein großer Traum von mir, Sport und Psychologie zu studieren, allerdings habe ich ziemlich großen Respekt vor diesem neuen Kapitel.

Vielleicht klingt es dramatisch, aber in drei Monaten wird nichts mehr so sein, wie es mal war. Bis es jedoch so weit ist, sollte ich versuchen, die Sommerferien in vollen Zügen auszuschöpfen und die Zeit, die mir mit meinen besten Freundinnen bleibt, zu genießen.

Ich bin schließlich nur einmal jung, richtig?

Kaum sind meine Gedanken zu Staub verpufft, torkelt meine beste Freundin Marley in mein Sichtfeld. Ihre Augen sind vom Alkohol rot unterlaufen, ihr Lipgloss ist verschmiert und auf ihrem grauen Hosenanzug befinden sich mehrere Flecken. Auch von der kunstvollen Hochsteckfrisur, die ihr ihre Schwester heute Morgen gezaubert hat, ist nichts mehr zu sehen, denn Marleys Haare stehen wirr in alle Richtungen ab.

„Harly", lallt sie meinen Spitznamen, während sie sich auf meinen Schultern abstützt. „Hast du meinen Rocco-Schatz gesehen? Ich kann ihn nicht finden."

Obwohl Marley es schafft, zusammenhängende Sätze von sich zu geben, merke ich ihr sofort an, dass sie zu tief ins Glas geschaut hat.

Normalerweise hat sie keine Schwierigkeiten damit, ihre Grenzen in Bezug auf Alkohol einzuhalten, doch heute scheint ihr alles egal zu sein. Bestimmt ist sie schon weit vor Mitternacht betrunken, weil sie mit allen Mitschülern darauf anstoßen muss, dass sie in ihrer Matheabschlussprüfung irgendwie ein C aufs Papier gezaubert hat.

Hoffentlich legt sie gleich mal eine kurze Trinkpause ein, denn ich habe keine Lust, unseren restlichen Abschlussball mit einer kotzenden Marley auf der Toilette zu verbringen.

Wie gut, dass sie seit ein paar Monaten einen festen Freund hat, der diesen Job sicherlich mit dem allergrößten Vergnügen für mich übernehmen würde ...

Marley und Rocco sind ein süßes Paar. Nachdem sie ihre Startturbulenzen und weitere meterhohe Hindernisse überwunden haben, sind sie zu einem unzertrennlichen Team zusammengewachsen. Ich gönne es meiner besten Freundin aus tiefstem Herzen, dass sie momentan so glücklich ist und auf Wolke Sieben schwebt.

„Das letzte Mal habe ich Rocco vor ungefähr einer halben Stunde gesehen. Er stand zusammen mit ein paar Jungs aus dem Leichtathletikteam draußen auf dem Vorhof", gebe ich Marley schließlich eine Antwort auf ihre Frage.

„Danke Harly! Du bist die Beste!" Marley drückt mir einen feuchten Kuss, der nach Alkohol riecht, auf die Wange, ehe sie schwankend aus dem Festsaal läuft und immer wieder nach ihrem Freund ruft.

Oh man ... Innerlich bete ich, dass sie Rocco möglichst schnell in die Arme torkelt, damit dieser ein Auge auf sie werfen kann. Noch mehr Alkohol und Marley landet am Ende dieser Nacht auf der Intensivstation im Krankenhaus.

Kurz überlege ich, ob ich meiner besten Freundin nicht doch lieber nacheilen sollte - sicher ist sicher -, da lenkt jemand anderes meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Endlich habe ich dich gefunden!", japst Ariella außer Atem. Ihre katzengrünen Augen, die hinter einem eckigen Kunststoffgestell versteckt sind, sind kaum zu erkennen, weil ihre Brillengläser beschlagen sind. „Ich wollte mich nur eben schnell von dir verabschieden und danke sagen, dass du dich zu mir gesetzt hast, als alle anderen die Tanzfläche eröffnet haben."

Bei Ariellas Worten zupft ein Lächeln an meinen Mundwinkeln.

Da ich ganz genau weiß, wie wenig sie Partys, Musik und dem Tanzen abgewinnen kann, habe ich mich zu ihr in die hinterste Ecke des Saals gesellt und gemeinsam mit ihr unseren Mitschülern dabei zugesehen, wie sie die Tanzfläche unsicher gemacht haben.

Am liebsten wäre ich ebenfalls auf das Parkett gestürmt - nicht zuletzt, weil das Tanzen eine meiner größten Leidenschaften ist - doch das hätte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können.

Ariella hat schon so viel für mich getan. Da war es das Mindeste, mich zu revanchieren und sie nicht allein zu lassen.

„Möchtest du wirklich schon gehen, Ari?", frage ich meine Freundin traurig. „Es ist noch nicht mal Mitternacht. Bleib doch noch ein bisschen."

Sofort schüttelt Ariella ihren Kopf, sodass ihre roten Locken aufgeregt hin und her springen. „Ich bin schon viel länger geblieben, als ich eigentlich wollte", fügt sie hinzu. „Außerdem muss ich meinen Cousin morgen früh um neun Uhr vom Flughafen abholen. Er kommt extra hierher, um mein Französisch zu verbessern."

Nur mit Mühe und Not schaffe ich es, mir ein Augenrollen zu verkneifen.

Ariella ist Jahrgangsbeste aller Abschlussklassen. Abgesehen von einem A in Sport hat sie in allen anderen Fächern ein A+ bekommen - auch in Französisch.

Meiner Meinung nach setzt sich Ariella viel zu sehr unter Druck. Mit ihren 18 Jahren hat sie überhaupt noch nicht richtig gelebt, sondern sich nur hinter ihren Schulbüchern versteckt.

Es ist schade, dass sie ihr ganzes Leben einfach so an sich vorbeiziehen lässt, denn irgendwann wird sie es bereuen, nicht täglich ihren Träumen gefolgt zu sein.

„Na schön", gebe ich nach, da ich genau weiß, dass eine Diskussion sinnlos wäre. „Komm gut nach Hause. Wir sehen uns dann morgen Abend."

Ariella nickt. Sie zieht mich noch kurz in ihre Arme, ehe sie ihr moosgrünes Kleid zusammenrafft und dann mit schnellen Schritten aus dem Festsaal eilt.

Ich seufze.

Hoffentlich tritt irgendwann eine Person in Ariellas Leben, die es schafft, sie aus ihrem gepanzerten Schneckenhaus hervorzulocken.

Für ein paar Minuten bleibe ich zwischen den Tisch- und Stuhlreihen stehen und lasse meinen Blick durch den festlich geschmückten Saal wandern.

Der Großteil meiner Mitschüler befindet sich auf der Tanzfläche und bewegt sich dort rhythmisch zum Takt der Musik. Bunte Scheinwerferlichter flackern durch die Luft und hüllen den Raum in einen Schleier der Freiheit.

Jeder genießt diesen Abend und versucht zumindest für ein paar Stunden seine Sorgen und Ängste zu vergessen.

Das hier ist unser Abschlussball. Dieses einzigartige Erlebnis werden wir kein zweites Mal in unserem Leben feiern können.

Auch wenn mich meine Beine am liebsten auf die Tanzfläche tragen würden, um ebenfalls das Gefühl der Freiheit zu verspüren, schlage ich die entgegengesetzte Richtung ein. Ich verlasse den Festsaal, den unsere Schule extra für diesen besonderen Anlass gemietet hat, und gehe stattdessen in den kleinen Park, der sich gegenüber von dem Rathaus befindet.

Bunte Blumen säumen den Wegesrand und führen mich zu einer Bank, die an dem Ufer eines plätschernden Baches steht.

Seufzend lasse ich mich auf der Bank nieder und beobachte die Sterne dabei, wie sie sich auf der Wasseroberfläche widerspiegeln.

Irgendwie kann ich noch immer nicht so ganz realisieren, dass das heute meine letzte Erinnerung an die Southwest High sein wird. Natürlich habe ich die Schule oft verflucht - vor allem die Lehrer, das frühe Aufstehen und das viele Lernen - aber rückblickend war es eine sehr schöne Zeit, die mir geholfen hat, zu mir selbst zu finden.

Ich habe Angst davor, dass mein Leben ab jetzt in eine völlig falsche Richtung verlaufen könnte.

Was, wenn mich ein Sport- und Psychologiestudium doch nicht mit Freude erfüllen wird?

Was, wenn sich die Wege meiner besten Freundinnen und mir in wenigen Wochen trennen werden?

Was, wenn mich das Chaos meines unstrukturierten Alltags verschlingen wird?

Normalerweise freue ich mich auf neue Abenteuer und Herausforderungen, aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal steht meine Zukunft auf dem Spiel, von der ich ehrlich gesagt noch keine Ahnung habe, wie ich sie gestalten möchte.

Begleitet von meinem hämmernden Herzen, das sich so schwer wie Blei anfühlt, ziehe ich einen weinroten Briefumschlag aus meiner Umhängetasche hervor. Auf dem Kurvet steht in schnörkeligen Buchstaben mein Name geschrieben.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir an unserem ersten Tag an der Southwest High einen Brief an unser Zukunfts-Ich schreiben sollten. Unsere Klassenlehrerin hat die Briefe dann am Ende der Stunde eingesammelt und sie uns heute zusammen mit unserem Abschlusszeugnis zurückgegeben.

Von Marley und Ariella weiß ich, dass sie ihre Briefe bereits gelesen haben, doch ich wollte noch auf den richtigen Moment warten. Es erschien mir einfach nicht richtig, den Brief zwischen Tür und Angel auf der Tanzfläche zu lesen.

Meine Finger zittern wie Espenlaub, als ich den Umschlag öffne und wenige Sekunden später einen weißen Zettel auseinanderfalte.

Die schnörkeligen Buchstaben und besonders die kleinen Herzchen, die als i-Punkte gesetzt wurden, verraten mir, dass dieser Brief tatsächlich von meinem jüngeren Ich stammt.

Ein letzter nervöser Atemzug flattert wie ein Schmetterling aus meinem Mund, bevor ich die wenigen Zeilen auf dem Papier überfliege.

Liebe Zukunfts-Harlow,
du weißt, wir sind kein Mensch der großen Worte. Deshalb versuche ich auch, mich kurzzufassen. Mal schauen, ob mir das gelingen wird.
Wenn du diesen Brief liest, hast du hoffentlich deinen Schulabschluss in der Tasche. Wahrscheinlich hast du Angst davor, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, aber bitte sei mutig. Die Zukunft hält bestimmt viele tolle Momente für dich bereit.
Ich wünsche mir für dich, dass du glücklich bist. Dass du jeden Tag genießt und viel Spaß hast. Dass Marls, Ari, Kay und Lia immer noch deine besten Freundinnen sind. Dass du gesund bist und es dir und deiner Familie an nichts fehlt.
Vielleicht hast du mittlerweile sogar jemanden gefunden, den du als deinen festen Freund bezeichnen kannst?! Das wäre ziemlich cool!
Ansonsten hoffe ich, dass du deinen Weg im Leben finden wirst. Sei offen für Neues und verschließe dich nicht vor den Abenteuern dieser Welt.
In dir steckt so viel mehr, als du denkst!
In Liebe, deine Vergangenheits-Harlow
PS: Finden wir Brokkoli und Champignons immer noch so ekelig?

Ich kann nicht verhindern, dass sich ein breites Lächeln auf meine Lippen schleicht, denn schon damals kannte ich mich selbst sehr gut, wie ich gerade feststellen muss.

Es ist ein schönes Gefühl, diese aufmunternden Worte zu lesen. Sie geben mir Kraft und helfen mir dabei, meine Zweifel und Ängste, die der Zukunft gelten, zumindest für einen kurzen Moment hintenanzustellen.

Für diese besondere Nacht sollte ich mein Gedankenkarussell abschalten und einfach Spaß haben. Morgen bleibt noch genug Zeit, um meine ganze Zukunft in Frage zu stellen.

Begleitet von neuer Energie verstaue ich den Brief in meiner Umhängetasche und erhebe mich dann von der Bank. Die funkelnden Sterne am Horizont weisen mir den Weg zurück zum Rathaus, in dem unser Abschlussball stattfindet.

Vor der Eingangstür werde ich von Kaylee und Liana abgefangen. Beide kichern vergnügt und scheinen Schwierigkeiten damit zu haben, sich auf ihren Beinen zu halten.

Bin ich etwa die Einzige, die an diesem Abend nicht in Alkohol ertrinken möchte? Mir persönlich wäre es viel zu schade, morgen mit einem Filmriss aufzuwachen und keine Erinnerungen an meinen Abschlussball zu haben.

„Harly!", lallt Kaylee, während sie mich in eine stürmische Umarmung verwickelt. Da sie sich mit ihrem ganzen Körper auf mir abstützt, fallen wir beinahe zu Boden. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, mein Gleichgewicht zurückzuerlangen und somit einem Aufprall mit dem Asphalt zu entgehen. „Du glaubst nicht, was gerade passiert ist! Ich habe mit Aaron rumgeknutscht! Er ist jetzt keine Kuss-Jungfrau mehr."

Begeistert klatscht Kaylee in die Hände. Statt ihre Euphorie zu teilen, verdrehe ich bloß die Augen.

Aaron Miller war ein Außenseiter an der Southwest High. Ebenso wie Ariella hat er sich lieber hinter Büchern oder Computerspielen versteckt. Sobald er mit anderen Menschen interagieren musste, wurde er feuerrot im Gesicht und hat nur noch gestottert.

Bisher dachte ich immer, dass Kaylee eher auf südländische und selbstbewusste Jungs stehen würde, weshalb es mich nun umso mehr überrascht, dass sie ausgerechnet den schüchternen Aaron mit seinen straßenköterblonden Haaren und babyblauen Augen geküsst hat.

„Also eigentlich wollte Lia ihn im Küssen entjungfern, aber weil sie ja jetzt einen Freund hat, ging das nicht mehr", plappert Kaylee ohne Punkt und Komma weiter. „So schlimm wie erwartet war es auch gar nicht, Aaron zu küssen. Er hatte nur ziemlich viel Speichel im Mund ..."

„Na hoffentlich hast du dir jetzt keine Herpesinfektion eingefangen", mischt sich Liana mit einem schadenfrohen Grinsen ein.

„Das sagt genau die Richtige!", erwidert Kaylee wie aus der Pistole geschossen.

Auch wenn Liana aktuell in einer Beziehung ist, ist sie kein unbeschriebenes Blatt. In der Vergangenheit hatte sie schon sehr viele Dates, Küsse und auch One-Night-Stands. Natürlich kann sie selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestaltet, aber ich habe Angst, dass sie bald in ganz Silver Fields nur noch als Dorfmatratze bekannt sein wird.

Hoffentlich ist die Beziehung mit ihrem Freund ernst und hält dieses Mal länger als vier Monate!

Damit sich Kaylee und Liana nicht in einer Diskussion verfangen können, wechsele ich schnell das Thema, indem ich sie frage: „Wer hat Lust auf Cocktails und Tanzen?"

Entgegen meinen Erwartungen sind nicht Kaylee und Liana diejenigen, die mir antworten, sondern Marley und Rocco. Hand in Hand kommen sie zu uns geschlendert und schenken uns ein vorfreudiges Grinsen.

„Zu Cocktails und Tanzen sagen wir nicht Nein, oder Schatz?" Marleys Augen funkeln mit den Sternen am Horizont um die Wette, als sie ihren Freund erwartungsvoll anschaut. „Natürlich nicht!", bestärkt Rocco sie nur einen Herzschlag später.

Damit ist es beschlossene Sache.

Während Marley Kaylee und Liana hinter sich herzieht, schnappt sich Rocco meine Hand. Schneller als ich blinzeln kann, befinden wir uns wieder in dem riesigen Festsaal und werden von dem Schleier der Freiheit umhüllt.

Das ist der Moment, in dem ich realisiere, dass mein neuer Lebensabschnitt schon längst begonnen hat, denn die Zukunft ist heute!

Und mit diesem Wissen im Hinterkopf genieße ich diese besondere Nacht, als würde es kein Morgen mehr geben.

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