3 - Das Problem mit der Zeit

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Mein Körper steht noch immer unter Strom, als ich mein zuhause erreiche.

Es fällt mir unheimlich schwer, zu realisieren, was da gerade im Supermarkt passiert ist.

Habe ich wirklich einen fremden Mann geküsst?

Oh Gott ... Ich kann nur beten, dass ich mit dem Kuss keinen Schaden angerichtet habe. Noch mehr Hoffnung investiere ich allerdings in den Wunsch, dass mich das Schicksal schon bald ein zweites Mal in die Arme des Avocado-Mannes führt.

Ich muss ihn unbedingt wiedersehen. Solche intensiven Gefühle wie er, hat noch nie zuvor jemand in mir ausgelöst.

Vermutlich sollte mir diese Tatsache Angst machen, doch das tut sie nicht. Viel eher freue ich mich darüber, dass meine Seele geheilt ist und sich mein Herz endlich wieder dazu bereit fühlt, sich neu zu verlieben.

Begleitet von einem Lächeln betrete ich die Küche, um den Pizzateig bis heute Abend im Kühlschrank zu lagern. Danach gehe ich weiter ins Wohnzimmer, wo ich auf meine beiden Väter Thomas und Paul und meinen kleinen Bruder treffe.

In ihren gelb-blauen Trikots sitzen sie vor dem Fernseher und jubeln der Basketballmannschaft von Silver Fields zu, die heute ihr erstes Auswärtsspiel der neuen Saison bestreiten.

Aus Erzählungen weiß ich, dass Paul in seiner Jugend selbst ein talentierter Basketballspieler war. Er hat sogar ein Stipendium für ein College erhalten, allerdings konnte er dieses wegen einer Verletzung nicht annehmen.

Wahrscheinlich klingt es egoistisch, aber ich bin froh, dass Paul damals eine Sprunggelenksfraktur hatte, denn sonst hätte er Thomas zu 99,9 Prozent nicht kennengelernt.

Meine Väter haben beide eine Ausbildung zum Physiotherapeuten gemacht. Im Laufe der Zeit haben sie sich immer besser verstanden und am Ende sogar ineinander verliebt.

Dass es Thomas und Paul auf ihrem Weg nicht immer leicht hatten, hat mir meine Großmutter verraten. Vor rund 30 Jahren wurden homosexuelle Paare noch als abnormal angesehen - vor allem in strengkatholischen und konservativen Familien wie der von Paul.

Mit gerade einmal 19 Jahren wurde Paul von zuhause rausgeschmissen. Auch wenn Thomas und er zu jenem Zeitpunkt noch nicht lange zusammen waren, haben sie sich eine Wohnung in einem Nachbarort von Silver Fields gesucht und sich dort ihr gemeinsames Leben aufgebaut.

Trotz aller Hindernisse, die sich ihnen in den Weg gestellt haben, haben sie nie ihre Liebe zueinander verloren.

Ich bin unfassbar stolz auf die beiden, dass sie sich dem Gesellschaftszwang widersetzt und stattdessen an ihren Gefühlen festgehalten haben. Nur weil sie so stark waren und nie aufgegeben haben, können mein Bruder und ich in einem zuhause voller Liebe aufwachsen und uns wie Blumen entfalten.

Streng genommen sind Cyrus und ich keine leiblichen Geschwister. Wir wurden beide im Alter von zwei Jahren aus dem Kinderheim adoptiert.

Cyrus' biologische Eltern waren alkohol- und drogenabhängig. Sein Erzeuger ist vor vier Jahren an einer Überdosis Kokain gestorben, wohingegen seine Erzeugerin seit mehreren Monaten wegen Drogenhandels im Gefängnis sitzt.

Thomas und Paul haben regelmäßig den Kontakt mit Cyrus' Erzeugern gehalten, damit mein Bruder sie jederzeit sprechen oder besuchen kann. Vielleicht ist Cyrus mit seinen elf Jahren noch zu jung, aber aktuell hat er kein Interesse daran, seine Erzeugerin kennenzulernen.

Meine Vergangenheit sieht ein bisschen anders aus.

Meine leiblichen Eltern sind bei einem Brand gestorben, als ich eineinhalb Jahre alt war. Da es keine Verwandten gab, die mich aufnehmen konnten oder wollten, wurde ich in ein Kinderheim gebracht.

Auch wenn ich keine Erinnerungen an meine biologischen Eltern habe, hätte ich sie gerne kennengelernt - nicht etwa, um Thomas und Paul zu ersetzen, sondern weil es mich interessiert, welche Wurzeln ich habe.

„Hey, ihr drei!", mache ich schließlich auf mich aufmerksam, um den Nebel aus meinem Kopf zu vertreiben. Zum Glück wird in dieser Sekunde die Halbzeit beim Basketball eingeläutet, denn sonst hätte ich mir bloß so etwas ähnliches wie „Pst! Sei leise!" oder „Lass uns nach dem Spiel sprechen, ja?" anhören dürfen.

Sowohl meine Väter als auch mein Bruder sind total basketballverrückt. Wenn sie sich ein Spiel anschauen, darf ich keinen Mucks von mir geben. Selbst meinen Handyklingelton muss ich dann ausschalten, damit sie bloß kein Wort des Kommentators verpassen.

„Hallo, Herzchen!", bemerkt mich Thomas als Erster. Er fegt ein paar Erdnussreste von der Couch, ehe er mit der Hand auf den freien Platz neben sich klopft. „Setz dich doch zu uns. Das Spiel ist superspannend! Das könnte selbst dir gefallen."

Als Nicht-Basketballfan in dieser Familie bin ich eindeutig eine Außenseiterin. Selbst meine Großmutter schaut sich jedes Spiel der Silver Bulls an.

„Schon gut. Ich möchte euch nicht stören", winke ich lachend ab. Ein Powernap klingt sowieso viel verlockender als schwitzenden Muskelpaketen beim Werfen eines Balles zuzuschauen.

„Ach Quatsch! Du störst uns nicht, Harlow!", widerspricht mir Paul sofort. Seine schokoladenbraunen Augen funkeln mich so liebevoll an, dass ich automatisch lächeln muss.

Thomas und Paul sind die besten Väter, die man sich nur wünschen kann.

Natürlich war es als Kind schwierig für mich, zu begreifen, warum ich zwei Väter habe, doch meine Großmutter hat mich diesbezüglich sehr gut aufgeklärt. Ihretwegen habe ich es geschafft, die bösen Kommentare meiner Mitmenschen auszublenden und die Normen und Werte, die uns von der Gesellschaft mehr oder weniger vorgeschrieben werden, zu hinterfragen.

Heute bin ich stolz darauf, zwei Väter zu haben. Thomas und Paul lieben mich aus tiefstem Herzen und tun alles dafür, um mir meine Träume zu ermöglichen. Außerdem bin ich ihnen dankbar dafür, dass sie meinem Leben eine zweite Chance gegeben haben.

„Na gut", stimme ich seufzend zu, bevor ich mich zwischen Thomas und Cyrus auf die Couch quetsche.

„Mach dich mal nicht so fett, Harly!", beschwert sich mein Bruder auch sogleich. „Ich bekomme keine Luft mehr!"

Cyrus ist eine richtige Dramaqueen. Schon jetzt graut es mir davor, wenn er in ein paar Jahren in die Pubertät kommt. Bestimmt mutiert er dann zu einer noch größeren Nervensäge, als er es ohnehin schon ist.

„Sei still, Cy!", entgegne ich gelangweilt. „Sonst erzähle ich Liana, dass du ihr heimlich Liebesbriefe schreibst."

„Wehe!" Cyrus' eisblaue Augen schleudern Blitze der Wut auf mich ab. „Dann rufe ich Valentin an und sage ihm, dass du ihn doch noch toll findest!" Im Einklang mit seiner Drohung reckt Cyrus triumphierend sein Kinn in die Höhe, da er genau weiß, dass er diesen Schlagabtausch gewonnen hat.

„Ruhe jetzt!", mischt sich Paul ein, bevor ich noch etwas erwidern kann. „Ich möchte das Interview mit Andrew Davis hören!"

Damit ist das letzte Machtwort gesprochen.

🌧🌧🌧

Es ist halb acht am Abend, als ich die Treppenstufen herunterpoltere und außer Atem vor meinen beiden Vätern zum Stehen komme.

Eigentlich wollte ich mich schon um sieben Uhr mit meinen Freundinnen treffen, aber irgendwie hat sich die Zeit selbstständig gemacht. Eventuell trägt aber auch ein Mann mit grauen Sturmaugen und Meersalzlippen die Schuld daran, dass ich nicht mehr auf die Uhr geachtet habe.

„Na? Wie sehe ich aus?", möchte ich von meinen Vätern wissen, nachdem ich mich einmal um meine eigene Achse drehe.

Ich trage ein gelbes Sommerkleid, das mir bis zu den Knien reicht und ab der Taille in einen weiten Rock fällt. Meine Füße, die ich extra noch lackiert habe, stecken in silbernen Sandaletten.

Den größten Kampf musste ich mit meinen Haaren ausfechten. Es hat fast eineinhalb Stunden gedauert, bis ich meine Mähne zu schönen Locken, die mir wie ein Wasserfall über die Schultern fließen, geformt bekommen habe.

„Du siehst bildhübsch aus, Herzchen", macht mir Thomas ein Kompliment für mein Aussehen, weshalb ich erleichtert aufatme.

Normalerweise veranstalte ich nicht so ein Drama wegen eines dämlichen Outfits, doch tief in mir schlummert die Hoffnung, heute noch ganz zufällig dem Avocado-Mann aus dem Supermarkt über den Weg zu laufen.

Vermutlich ist es albern, aber ich möchte ihn beeindrucken und sein Interesse wecken.

Gott, dieser Mann macht mich verrückt! Seit unserem Kuss kann ich an nichts anderes mehr denken.

„Nimm noch eine Jacke mit, Schätzchen", durchbricht Paul mit seiner liebevollen Stimme die rosaroten Nebelschwaden in meinem Kopf. „Später könnte es kalt werden. Falls wir dich abholen sollen, ruf uns einfach an, ja?"

Ich nicke. Dann schnappe ich mir den Pizzateig, verabschiede mich mit einer Umarmung von meinen Vätern und verschwinde abschließend in dem kleinen Gartenhäuschen, um mein Fahrrad zu holen.

In den vergangenen Jahren haben wir das Lagerfeuer meistens bei Liana oder Marley zuhause veranstaltet. Dieses Jahr werden wir uns allerdings bei Rocco treffen, weil sein Garten ungefähr so groß wie ein ganzes Basketballfeld ist.

Ich habe keine Ahnung, welchen Job sein Vater ausübt, aber er scheint nicht gerade schlecht zu verdienen. Wenn er Lust hat, kann er mir gerne mal einen Spendencheck ausstellen ...

Da sich Roccos Haus - oder besser gesagt Villa - etwas außerhalb von Silver Fields befindet, dauert es fast eine halbe Stunde, bis ich es erreicht habe. Außer Atem stelle ich mein türkisfarbenes Hollandrad ab und suche dann das Törchen, das in den Garten führt.

Die Luft wird bereits von flatternden Musiktönen erfüllt und bringt mein Herz zum Beben. Obwohl ich mir erst gestern Nacht auf dem Abschlussball die Füße wund getanzt habe, freue ich mich riesig darauf, gleich wieder meine Hüften kreisen zu lassen.

Das Tanzen ist für mich eine Möglichkeit, um meine Gefühle auszudrücken. Ich liebe es, neue Bewegungen zu kreieren und mich frei zu fühlen.

Gut gelaunt betrete ich den Garten, der mit unzähligen Lichterketten und Lampions geschmückt ist. Auf der Terrasse stehen eine kleine Bar und ein Beer Pong Tisch, über dem eine Discokugel angebracht ist. Am Rand, direkt unter einer Überdachung aus Glas, befindet sich eine lange Tafel, auf der eine Art Buffett errichtet wurde.

Schon jetzt fühle ich mich pudelwohl und kann es kaum erwarten, diesen Abend mit vielen unvergesslichen Erinnerungen zu füllen.

Ariella ist die Erste - und Einzige - die mein Auftauchen bemerkt. Etwas verloren lehnt sie an der Getränkebar und nippt an ihrem Glas. Sobald ihre Augen an mir haften bleiben, schleicht sich ein erleichtertes Lächeln auf ihre Lippen.

„Da bist du ja endlich, Harly!", begrüßt sie mich mit einer Umarmung. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen."

„Du kennst mich doch, Ari", erwidere ich mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme. „Ich habe mal wieder die Zeit vergessen."

Daraufhin schüttelt Ariella bloß ihren Kopf.

Leider habe ich die schlechte Angewohnheit, immer und überall zu spät zu kommen - selbst, wenn ich das gar nicht möchte. In der Schulzeit habe ich fast täglich verschlafen und bin deshalb so oft zu spät zum Unterricht erschienen, dass ich irgendwann aufgehört habe, mitzuzählen.

Es grenzt an ein Wunder, dass ich weder die Abschlussprüfungen noch den Abschlussball verschlafen habe. Vermutlich bin ich dort aber auch nur deshalb pünktlich aufgekreuzt, weil Ariella höchstpersönlich dafür gesorgt hat.

„Wo sind denn die anderen?", frage ich meine Gegenüber neugierig, nachdem mein Blick mehrere Kreise durch den Garten gezogen hat. Von Marley, Kaylee, Rocco, Liana und ihrem Freund fehlt jede Spur.

Ob sie vielleicht auch alle zu spät dran sind? Irgendwie bezweifele ich das.

„Rocco gibt ihnen gerade eine Hausführung", antwortet mir Ariella. „Ich habe extra auf dich gewartet, damit du nicht allein bist."

Mal wieder wird mir bewusst, was für ein herzensguter Mensch Ariella ist. Sie denkt immer zuerst an die anderen und versucht alles möglich zu machen, damit sich ihre Mitmenschen wohlfühlen.

In meinen Augen wäre Ariella eine perfekte neue Mutter Teresa.

Um meine Gedanken nicht laut auszusprechen - ich weiß, dass Ariella meinen Vergleich hassen würde - schnappe ich mir eine Bierflasche von der Getränkebar und lotse meine beste Freundin dann zu der Hollywoodschaukel, die sich im hinteren Teil des Gartens befindet. Dort lässt es sich entspannter warten als auf der Terrasse.

„Und? Wie ist Lianas Freund so?", möchte ich aufgeregt von Ariella wissen, sobald wir uns auf den karierten Sitzpolstern niedergelassen haben. „Hast du schon viel mit ihm gesprochen?"

Ariella seufzt. „Er hat mir nur kurz die Hand gegeben. Danach war es ihm wichtiger, Liana aufzufressen."

Beinahe synchron verziehen wir unsere Gesichter zu einer Grimasse - ungefähr so, als hätten wir in eine saure Zitrone gebissen.

Es war schon schlimm genug, als Marley und Rocco zu Beginn ihrer Beziehung die ganze Zeit am Knutschen waren. Dasselbe Spektakel nochmal mit Liana und ihrem Freund zu durchleben, steht nicht gerade weit oben auf meiner Bucket List.

„Ich weiß auch nicht warum, aber ich glaube nicht, dass ihre Beziehung lange halten wird", gesteht Ariella nach einer kurzen Pause des Schweigens. „Irgendwie wirkt Duke nicht wie ein Beziehungsmensch auf mich. Er gibt mir eher das Gefühl, als ob er sich noch ausleben müsste und keine Ahnung hat, was er im Leben erreichen möchte."

„Hm", mache ich. „Vielleicht passt er ja gerade deswegen so gut zu Lia."

Kaum sind meine Worte verklungen, nehme ich Stimmengewirr aus dem Haus wahr, das immer lauter wird. Wie es scheint, hat Rocco seine Führung erfolgreich hinter sich gebracht.

Da ich furchtbar neugierig bin, wie Lianas Freund aussieht und welche Eigenschaften ihn auszeichnen, springe ich übermütig von der Hollywoodschaukel und eile dann mit schnellen Schritten auf die Terrasse zurück. Ariella folgt mir mit deutlich weniger Elan.

Als Erstes kommen Marley und Kaylee zum Vorschein. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen begrüßen sie mich und drücken mir einen Plastikbecher, der mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt ist, in die Hand.

Kurz nach den beiden treten Rocco und Liana auf die Terrasse. Während Rocco mehrere Holzballen zu der Feuerschale trägt und mir nur kurz zunickt, verwickelt mich Liana in eine Umarmung.

„Na? Hast du es auch mal geschafft, Harly?", ärgert sie mich, indem sie mir ihre Zunge entgegenstreckt.

„Natürlich!", grinse ich. „Ich will es mir ja nicht nehmen lassen, deinen Freund ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Wo ist der Gute denn eigentlich?"

Suchend schaue ich mich um, doch ich kann nirgends ein fremdes Gesicht ausmachen.

„Pinkeln!", antwortet mir Liana lachend. „Duke hat eine sehr sehr schwache Blase. Wenn er Alkohol trinkt, muss er teilweise viermal in der Stunde auf die Toilette."

Automatisch steige ich in Lianas Gelächter mit ein.

Das Lachen bleibt mir allerdings zwei Sekunden später im Hals stecken, als eine männliche Person die Terrasse betritt und ihre funkelnden Augen auf mich richtet.

Ach du Scheiße!

Soll das ein schlechter Scherz sein?

Bitte steh mir bei, lieber Gott, denn sonst werde ich diesen Abend nicht überleben!

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