Die Order

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„Hast du alles?", fragt Katharina und rutscht unruhig in ihrem Sessel herum. Ich schreibe ihr wieder einmal zu langsam, vermute ich. Sie ist über neunzig und ich gerade mal dreißig, aber geistig ist sie absolut fit. Und noch immer wesentlich schneller als ich.

„Blaue Vase mit Goldrand und weißen Buschrosen", lese ich den letzten Eintrag vor. Katharina nickt gnädig. „Und es sollte auch eine dazu passende Dose zu finden sein."

„Dose, dito", sage ich laut während des Notierens.

Als ich aufsehe, sehe ich ein ganz leichtes Grinsen um Katharinas strenge Lippen spielen. „So schlimm?" Meine Großmutter verunsichert mich immer wieder.

„Nein", antwortet sie. „Ich dachte nur gerade, wenn du schon keine Kurzschrift beherrschst, dann doch wenigstens sprechende Abkürzungen. Das ist gut."

„Oh!" Darauf weiß ich keine Antwort. So etwas Freundliches, das beinahe ein Lob sein könnte, höre ich kaum jemals von Katharina. Und ich habe sie bisher auch nur wenige Mal lächeln oder lachen sehen. Allerdings sehe ich sie auch nicht sehr oft. Aber auch mein Zwilling Paul erzählt mir oft, dass sie so gut wie nie eine Gemütsregung erkennen lässt. Und er muss es wissen, denn bis vor einer Woche hat er eng mit ihr zusammengearbeitet. Bis zu ihrem Schwächeanfall vor acht Tagen.

Der Arzt hat zwar gesagt, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen ist. Auch im Krankenhaus hat man sie gründlich durchleuchtet und keine krankhaften Veränderungen gefunden. Aber man kann auch nicht ausschließen, dass es erneut geschieht. Es hat sich nicht um eine Kreislaufschwäche gehandelt, sondern um einen kurzzeitigen Aussetzer im Gehirn. So etwas kommt blitzartig, ohne jede Vorankündigung, und ist darum wesentlich gefährlicher. Ein Kreislaufkollaps lässt einem wenigstens noch die Zeit, sich hinzusetzen und um Hilfe zu bitten. Aber Katharina ist mitten im Satz umgefallen und war sich nach dem Aufwachen so wenig bewusst, was geschehen war, dass sie übergangslos weitergesprochen hat. Und sie hat dabei noch großes Glück gehabt. Wäre das drei Minuten später gewesen, hätte sie am Steuer gesessen.

Kompromisslos wie immer hat Katharina die Konsequenzen daraus gezogen und sich einen Platz in einem Heim für betreutes Wohnen beschafft. Und mich zu sich befohlen, damit ich ihr aus ihrem Elternhaus alle die Dinge beschaffe, auf die sie nicht verzichten möchte. Wie üblich hat sie mich nicht gefragt, ob es mir zeitlich passt.

Allerdings lasse ich mich schon seit einiger Zeit nicht mehr nach Lust und Laune herumschieben. Seit jenem Tag vor zehn Jahren, an dem mich meine eigenen Eltern aus dem Haus gewiesen haben, aus Angst, Katharina könnte mein Fehltritt zu Ohren kommen und sie dann meinen Vater und meinen Bruder enterben. Natürlich hat Katharina trotzdem davon erfahren; entgegen aller Befürchtungen hat sie aber ihr Testament nicht geändert – oder nichts davon verlauten lassen. Und Paul hat sie nach seinem Studium in die Firma aufgenommen; erst als ihren persönlichen Assistenten, dann als stellvertretenden Geschäftsführer. In diesen Tagen arbeiten die Firmenanwälte an dem Vertrag, der meinem Zwillingsbruder dann die Alleinherrschaft über den Betrieb sichern soll.

Katharina bleibt natürlich die alleinige Eigentümerin der Gaitex AG. Mehrere Vorstöße meines Vaters, ihm oder wenigstens Paul einige Aktien zu überschreiben, hat sie bisher immer abgelehnt mit dem Argument, es täte keinem Unternehmen gut, zerschlagen zu werden.

Irgendwie kann ich sie sogar verstehen. Wie so ziemlich jeder Zeitungsleser habe ich den Familienkrieg um Aldi Nord mitbekommen und Paul hat mir erzählt, dass so etwas beinahe üblich ist bei Firmen, deren Aktien nach dem Tod des Gründers auf mehrere Familienmitglieder verteilt werden. Das beste Beispiel dafür ist die Gaitex selbst, die nach dem Tod von Katharinas Großvater auf seine drei miteinander zerstrittenen Söhne überging, was sie beinahe ihre Existenz gekostet hätte. Nur mühsam hat sich das Unternehmen die nächsten zwanzig Jahre durchgeschlagen, bis Katharina die Zügel und sämtliche Aktien in die Hände genommen hat. Und seitdem hat sie sie nicht mehr losgelassen.

„Ich glaube, das wars fürs erste", schließt Katharina ihr Diktat ab. „Um die Möbel kümmert sich Paul. Und die Bücher kannst du dann nächste Woche holen."

„Nächste Woche haben wir Sommerfest mit Zeltübernachtung im Waldhort", bemerke ich. „Vermutlich werde ich dann keine Zeit haben, Bücher herauszusuchen."

Katharina erhebt keinen Einwand. „Dann die Woche darauf. Dafür bringst du diesmal bitte die Barrings mit. Ich habe Lust, diese schöne Saga noch einmal zu lesen."

Ich kenne die Bücher, von denen sie spricht. Drei dicke Schinken über eine ostpreußische Familie, die vor dem zweiten Weltkrieg ein absoluter Bestseller waren. Als Jugendliche habe mich selbst durch die Sütterlin-Schrift gequält und war von den lebendigen Charakteren und dem feinen Humor der Romane überaus angetan. Aber im Augenblick denke ich nur an das Gewicht, das ich dann zu schleppen habe.

Es wundert mich nicht, dass Katharina mir nicht befiehlt, den Hort ihretwegen im Stich zu lassen. Meine Eltern sowie mein Onkel gehorchen ihr aufs Wort, um ihr Erbe nicht zu gefährden. Paul und ich haben das nie getan und dabei entdeckt, dass die scheinbar so despotische Frau vernünftigen Argumenten gegenüber durchaus aufgeschlossen ist.

Es klopft. Katharinas „Herein!" kommt scharf und heftig, sie runzelt die Brauen. Mit einer Störung hat sie offenbar nicht gerechnet. Ich werfe einen raschen Blick auf die Uhr und weiß bereits, wer da kommt, bevor sich die Tür langsam öffnet und ein heller und ein dunkler Haarschopf sichtbar werden.

„Ach, ihr seid das! Ich habe mich schon gewundert, dass ihr nicht wie üblich eurer Mutter am Rockzipfel hängt." Katharinas Begrüßung ist nicht dazu angetan, meine Kinder zu ermuntern. Trotzdem schieben sie sich langsam ins Zimmer.

„Beeilt euch bitte und schließt die Tür! Es zieht und wir müssen ja nicht den ganzen Flur heizen!"

Daraufhin schubst Kirsten ihren Zwillingsbruder in den Raum, kommt selbst hinterher und schließt die Tür leise, aber fest. „Guten Tag, Katharina", sagt sie artig, woraufhin Rasmus ein gemurmeltes „Tag" hinterherschickt.

„Guten Tag, Kinder. Wo kommt ihr denn um diese Zeit her?"

Rasmus studiert eingehend das Muster des Teppichbodens, während Kirstens Mundwerk sofort in Bewegung kommt: „In der Musikschule. Katja hat gesagt, wir sollen danach zum Heim kommen und wenn sie nicht im Auto ist, würde sie noch bei dir sein. Wir haben dann gefragt, wo deine Wohnung ist. Du hast ja fast noch keine Möbel hier!"

„Die wird Paul bald bringen. Ich ziehe es vor, meinen Lebensabend in einer vertrauten Umgebung zu verbringen."

„Heißt das, du bist nur abends hier und sonst wieder in der Firma?" Geistige Notiz an mich selbst: Ich muss Kirsten und Rasmus auf der Heimfahrt den Begriff des Lebensabends begreiflich  machen, ohne ihnen Angst vor dem Tod ihrer Liebsten einzujagen.

„Nein, ich werde hier bleiben. Die Firma wird jetzt Paul verwalten." Katharina gibt keine weitere Erklärung ab. Das hat Kirsten auch nicht erwartet. Katharina gibt keine Information von sich aus preis und die meisten Menschen trauen sich nicht nachzufragen.

„Was lernt ihr denn in der Musikschule?", fragt Katharina nun. Ich unterdrücke ein Grinsen und denke nicht daran, dämpfend einzugreifen. Katharina ist selbst schuld, wenn sie eine solche Frage stellt.

Wie erwartet legt Kirsten sofort los: „Ich bin im Trommelkurs und lerne da alles, was man schlagen kann. Am liebsten habe ich ja das Schlagzeug, aber es ist noch etwas schwer. Es gibt da mehrere Toms und zwei Becken, aber das eine heißt Hi-Hat und hat zwei Becken, also ein Beckenpaar. Und die Snare rasselt ganz prima, wenn ich draufschlage. Aber die Marimba macht mir auch viel Spaß, da sind wir immer zu dritt dran. Und Mama hat mir schon zwei Bongos gekauft und eine Cajon, da kann ich mich draufsetzen und dranhauen und ich will die später zusammen mit dem Schlagzeug spielen!"

Kirsten holt Luft und Katharina nutzt die kurze Pause: „Vielen Dank, aber ganz so genau wollte ich es nicht unbedingt wissen. Du trommelst also gerne, nun warum auch nicht. Und was spielst du?" Sie blickt Rasmus an, der prompt zur Seite sieht.

„Geige", nuschelt er.

„Schönes Instrument", bemerkt Katharina kühl. „Nun, wenn ihr Hunger habt, dort ist die Küche und auf dem Tisch steht Obst und etwas Kuchen. Limonade habe ich nicht hier, aber ihr könnt euch beim Wasser bedienen."

„Danke", „Hey, danke, ich hab echt Kohldampf!", damit sausen die beiden durch die gezeigte Tür und ich höre es dahinter klappern.

„Nun", Katharina setzt sich zurecht, „ich denke, wir beide sind fürs erste fertig. Wenn mir noch etwas einfällt, werde ich es notieren. Wann kannst du mir die Sachen bringen?"

„Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, um alles zu finden", Katharinas Elternhaus ist dreistöckig und angefüllt mit all dem, was einmal für die Bewohner wichtig gewesen ist, angefangen mit Gottwin Gainer, dem Firmengründer und Hauserbauer.

„Ja, ich kann mir denken, dass es eine Weile dauern wird", stimmt mir Katharina zu. „Aber zögere nicht zu lange mit der ersten Lieferung. Es macht nichts, wenn du nicht alles gleich findest. Du hast sehr viel Zeit."

„Willst du denn das Haus nicht schnellstens verkaufen?"

„Ich will überhaupt nicht, dass es verkauft wird!" Katharinas dunkle Augen, die Kirsten von ihr geerbt hat, blitzen vor Empörung. „Das Haus wurde von einem Gainer erbaut und es haben immer Gainers darin gelebt! Ich will, dass es so bleibt!"

„Du heißt doch aber gar nicht Gainer!", tönt es aus der Küche. „Du heißt Avenarius!"

Herrjeh, gibt es denn gar keinen Schlüssel, mit dem man Kirstens vorwitziges Mundwerk wenigstens stundenweise mal absperren kann?

Aber Katharina nimmt ihr die Bemerkung nicht übel. „Danke, dass du mir das sagst. Ich hätte es sonst nicht gewusst."

Kirstens mit Krümeln und Mandarinensaft verschmiertes Gesichtchen lugt aus der Küche. „Ehrlich? Hat dir das nie jemand gesagt?"

„Doch schon. Weißt du, Kirsten, mein Ehemann Paul hieß so und ich habe diesen Namen niemals abgelegt."

„Aber Opa und Onkel Winald heißen doch Gainer. Und Paul ist doch Katjas Bruder und nicht dein Mann."

„Meine Söhne haben den Namen Gainer wieder angenommen", erklärt Katharina mit ungewohnter Geduld. „Und deine Mama sowie ihr Bruder wurden nach mir und meinem Mann benannt."

„Mama heißt Katja!" Jetzt erscheint auch Rasmus in der Tür.

„Ich heiße Katharina, aber jeder nennt mich Katja. Ihr beide ja auch", erläutere ich den beiden rasch.

„Und nach wem heißen wir?"

Ich denke nach. Was war damals meine Motivation, den beiden gerade diese Namen zu geben?

„Eine sehr gute Kindheitsfreundin von mir hieß Kirsten. Sie starb mit fünfzehn bei einem Autounfall. Damals stand bei mir fest, dass meine erste Tochter Kirsten heißen soll."

„Und ich?", fragt Rasmus eifersüchtig.

„Du warst eine Überraschung. Alle Ärzte sprachen von einem Mädchen, dass ihr zu zweit wart, hat keiner erkannt. Als du dann plötzlich da warst, mit so hellem, glattem Haar, dachte ich an den Waisenjungen Rasmus, den keiner adoptieren wollte. Die Leute wollten alle Mädchen haben oder Jungen mit Locken. Bis Rasmus dann ausriss und den Landstreicher fand. Der und seine Frau nahmen Rasmus mit dem glatten Haar in ihre Familie auf. Und ich habe dich nie als Anhängsel oder Beigabe gesehen, sondern ebenfalls als Teil der Familie."

Rasmus kennt das Buch von Astrid Lindgren sehr gut. Er strahlt mich an, kommt zu mir und kuschelt sich innig an mich.

„Das sind schöne Gründe", bemerkt Katharina. „Ich habe mich schon gefragt, wie du gerade auf diese Namen gekommen bist. Aber es geht mich ja eigentlich nichts an."

Stimmt, Katharina ist die einzige, die nicht gefragt hat. Als meine Eltern Jahre nach der Geburt der beiden wieder Kontakt mit mir aufnahmen, war eine der ersten Fragen, warum ich meine Zwillinge nicht nach ihnen benannt hätte. Eine Antwort darauf habe ich mir bis heute gespart.

„Du sagtest, ich hätte viel Zeit." Ich komme zum Thema zurück. „Wieviel? Ich nehme dann an, dass du das Haus vermieten willst?"

„Nein. Ich habe es Paul schon gesagt. Ihr beide bekommt es. Paul will darin wohnen und ist sich sicher, dass du auch einziehen wirst."

„Was?" Das ist das letzte, womit ich gerechnet hätte. Ich, die Schande der Familie, ohne Abitur, mit zwei unehelichen Kindern und lediglich Erzieherin, soll in die hochherrschaftliche Villa der Gainers einziehen?

„Echt? Ehrlich? Wir dürfen da wohnen? Mensch, das wird cool!" Kirsten ist hingerissen.

„Freut ihr euch?", erkundigt sich Katharina in sachlichem Tonfall.

„Und wie! Mann, da sind doch die vielen Kletterbäume im Garten! Und das ist so groß drinnen, bekommen wir dann jeder ein Zimmer? Und schimpfen dann auch keine Nachbarn, wenn ich Schlagzeug übe?"

„Wenn es Paul und seine Freundin nicht stört, könnt ihr so laut sein wie ihr wollt", verspricht Katharina.

Allmählich finde ich auch die Sprache wieder. „Vielen Dank, Katharina! Das hilft mir wirklich sehr – und ich habe mir so gewünscht, den Kindern ein Haus mit Garten bieten zu können. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe."

„Du bist Familie", erwidert Katharina nur. „Du und die Kinder, ihr seid Gainers."

Hm. Das sind Vater und Onkel Winald auch. Aber ihnen hat Katharina niemals etwas geschenkt.

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