Die Vergangenheit

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Selbst mein Vater duckt sich einen Moment, meine Kinder hingegen empfinden die feindselige Atmosphäre nun weniger drückend. „Paul! Onkel Paul!" Sie hüpfen – Kirsten – beziehungsweise laufen – Rasmus – ihm entgegen und lassen sich von seinen Armen auffangen. Während Rasmus seinen Onkel stumm, aber herzlich umhalst, kommt Kirsten sofort auf den Punkt, der ihr am meisten Sorge bereitet: „Paul, wollen Opa und Oma hier auch wohnen?"

„Wollen ja. Werden nein", entscheidet Paul kategorisch. „Einigermaßen nett, euch mal wieder zu sehen. Habt ihr ein besonderes Anliegen? Braucht ihr mal wieder Geld von Katharina?" Schön, wie es mein Bruder schafft, die Verhältnisse mit wenigen deutlichen Worten klarzustellen.

„Was unterstellst du uns?", braust mein Vater auf. „Haben wir es nötig zu betteln?"

„Offenbar schon. Du vergisst, dass ich vollen Einblick in die Firmenkonten habe und genau weiß, was dir Katharina alles hat zukommen lassen." Ich spitze die Ohren. Das ist mir auch neu. Aber jetzt verstehe ich besser, warum Katharina die Villa nicht meinen Eltern übereignet hat.

„Aha. Und ich nehme an, du hast dir jetzt die alleinige Verfügungsgewalt sichern lassen." Der Tonfall soll wohl verächtlich klingen, wirkt auf mich aber eher besorgt und unsicher. Die Mienen unserer beiden Eltern spiegeln eben diese Gefühle auch wieder.

„Allerdings", bestätigt Paul in aller Ruhe und setzt meine Kinder wieder auf den Boden. Beide kommen sofort zu mir, die noch immer umgeben von Kartons und Handtüchern auf dem Parkett hockt und klammern sich an mich. „Und zwar über die Firma, das private Vermögen und sämtliche Liegenschaften. Katharina wollte sichergehen, weil ihr niemand sagen kann, wie es mit ihrer Gesundheit weitergeht. Sie kann noch hundert Jahre alt werden, aber auch morgen tot umfallen."

„Sie hat dir alles überschrieben?" Die Stimme meines Vaters ist nur noch ein Krächzen. Paul nickt. „Nur die Villa hier gehört jetzt zu gleichen Teilen Katja und mir."

„Und du glaubst, du kommst damit durch? Ich werde mein Pflichtteil einklagen!" Die Drohung mit dem Anwalt hat mein Vater drauf. Nur verfängt das nicht bei meinem Bruder, der in der Firma selbst ein halbes Dutzend Anwälte beschäftigt.

„Das kannst du nicht. Katharina lebt noch."

„Das glaubst aber auch nur du."

Kirsten und Rasmus sehen mich erschrocken an. Ich lächle sie beruhigend an und gebe Kirsten zur Ablenkung Anettes Büste in die Hände. „Wickel die mal ein." Rasmus schicke ich los, die noch fehlenden Musiker zu holen.

Paul steht weiterhin gänzlich ungerührt vor unseren Eltern. „Ich bin mir dessen sehr sicher. Ich komme eben von ihr und sie wirkte durchaus fit."

„Ich habe doch nicht unterstellt, dass meine Mutter tot wäre! Ich meinte deine Behauptung, dass ich mein Pflichtteil nicht einklagen könnte, nur weil meine Mutter noch lebt! Sie hat dir sozusagen zu ihren Lebzeiten alles vermacht und das bedeutet, dass mir und Winald auch etwsa zusteht. Sie kann uns nicht völlig enterben, auch nicht, wenn sie vor ihrem Tod alles verschenkt. Ich werde dich im Notfall auf Auszahlung des mir zustehenden Geldes verklagen."

„Nun, das könntest du vielleicht", gibt Paul zu. „Ich würde dir allerdings nicht dazu raten. Katharina hat nämlich penibel aufgeschrieben, was du und Onkel Winald sie alles bereits gekostet habt. Und diese Summen übersteigen dein Pflichtteil beträchtlich. Bei Onkel Winald ist das auch nicht anders."

Mein Vater schnappt nach Luft. „Das hast doch du ausgeheckt!"

„Ich habe dich nie gezwungen, Schulden zu machen." Paul lässt sich nicht beirren. Ich habe ihn zwar oft frostig und distanziert gegenüber meinem Vater erlebt, aber nie zuvor so hart und abweisend. Und ich stelle mir vor, dass Katharina ihn wohl erst in der letzten Woche mit so einigen bisher geheim gehaltenen Vorfällen vertraut gemacht hat.

„Was – was –wie -"

„Was und wie solltest du selbst wissen. Und jetzt, wenn du nichts weiter zu bereden hast, verlasse bitte dieses Haus." Paul macht eine einladende oder vielmehr ausladende Handbewegung zur Tür.

„Das ist doch die Höhe!"

„Das hoffe ich! Noch mehr Schulden will ich nämlich nicht bezahlen, es wäre also nett von dir, wenn du die jetzige Höhe nicht überschreitest. Du hast vor Jahren einen Betrag überwiesen bekommen, dessen Zinsen es dir ermöglichen sollten, die Schulden zu begleichen. Aber nur, wenn keine weiteren mehr dazukommen."

„Du weißt genau, wie ich das meine!", ereifert sich mein Vater.

Paul blickt verächtlich von der Höhe seiner einen Meter fünfundachtzig auf Vaters einssiebzig herunter. „Ich ziehe es vor, es nicht zu wissen."

„Du bist genauso verkommen und menschenverachtend wie deine Großmutter! Ihr hat die Familie auch noch niemals etwas bedeutet, sie war immer nur hinter dem Geld her und das nur für sich selbst. Warte nur, ich bekomme schon heraus, mit welchen Tricks du sie überredet hast."

„Du glaubst doch selbst nicht, dass irgendjemand Katharina zu etwas überreden kann, was sie nicht will!" Paul kann sich selbst verteidigen, aber wenn mein Vater jetzt auch noch die abwesende Katharina angreift, muss ich sie einfach verteidigen.

„Du hast gerade noch was zu sagen", faucht meine Mutter. „Paul kümmert sich wenigstens um die Firma und er hat einen anständigen Beruf. Aber du hast nie etwas Gescheites gelernt und beziehst jetzt ein jämmerliches Gehalt dafür, dass du mit Kindern im Wald herumtollst. Werde erstmal etwas, dann kannst du auch das - den Mund aufreißen!"

„Katja ist etwas!" Zu meiner Überraschung kommt das von Rasmus. Die Mozartbüste fest in den Händen stellt er sich vor meine Mutter. „Katja ist die stellvertretende Leiterin im Waldhort und sie ist richtige Erzieherin, dafür muss man fünf Jahre lang lernen! Du bist zwar meine Oma, aber so darfst du nicht mit meiner Mama reden, verstanden!" Er zittert vor Wut und ich nehme ihm rasch die Büste aus den Händen, bevor er sie noch meiner Mutter an den Kopf wirft. Ich mache mir zwar nichts aus Mozart, aber Katharina und Rasmus würden um ihn trauern.

„Pah, eine Erzieherin, die nicht einmal ihre eigenen Kinder erziehen kann." Mein Vater schnauft verächtlich. "Rasmus, du solltest wissen, dass man als Kind nicht so mit Erwachsenen redet. Außerdem steht es Kindern nicht an, die Fehler ihrer Eltern zu verteidigen. Und noch was, junger Mann: Lerne erst mal richtig sprechen, bevor du hier groß den Mund aufmachst! Deine Mutter hat da so einiges versäumt; man versteht dich immer noch sehr schlecht."

Damit kommt er schlecht bei uns an. "Ich habe dir x-mal erklärt, dass Rasmus eine angeborene Störung der Mundmotorik hat! Dafür kann er  nichts und gebildete Menschen werfen anderen ihre Beeinträchtigungen auch nicht vor!" Meine Eltern haben Rasmus' Gaumenlähmung, wie es im Volksmund genannt wird, seit jeher als Faulheit seinerseits und mangelnde Erziehung meinerseits bezeichnet und damit meinen Sohn stark verunsichert.

Kirsten baut ihre ganze geringe Größe vor meinem Vater auf. "Pass du lieber selbst auf, was du sagst, Opa! So redest du nicht mit meinem Bruder! Außerdem können wir ihn sehr gut verstehen - vielleicht kannst du ja nicht so gut hören?"

Lisette ist ebenfalls sauer. "Sie bekommen es wohl nicht mit, weil Sie nicht darauf achten! Aber Rasmus spricht schon viel besser und macht mit der Logopädie ganz erstaunliche Fortschritte. Sie sollten stolz auf ihren Enkel sein, der so tapfer seine angeborene Beeinträchtigung bewältigt statt ihm noch etwas vorzuwerfen, wofür er nichts kann!"

Paul als einziger bleibt ruhig. "Du hast dich gerade als Großvater ebenso disqualifiziert wie du es damals als Buchhalter und potentieller Geschäftsführer getan hast. Es gibt sehr gute Gründe, warum Katharina  dich nicht in die Firmenleitung aufgenommen hat und dir auch unsere Buchhaltung nicht mehr anvertraut hat." Er erwähnt besagte Gründe nicht, aber ich kann sie mir schon denken.

Mein Vater wirft Rasmus einen Blick zu, den kein Großvater der Welt für seinen Enkel haben sollte und wendet sich wieder an Paul. „Ich schäme mich dafür, dass wir den gleichen Namen tragen! Du solltest den Namen meiner Mutter annehmen, in die Familie passt du hinein! Mit den Gainers habt ihr beide nichts gemein!"

„Ja, das glaube ich auch", gibt Paul zurück. „„Aber ich sehe das weitaus eher als Kompliment an. Du hältst es wohl füreine Beleidigung, ich nicht."

„Das glaube ich dir! Dir ist doch bewusst, was deine Großmutter für ein Mensch ist? Schade für euch, dass es keinen Hitler mehr gibt, keine Totenkopfverbände und somit keine kostenlosen Arbeiter aus den KZs, nicht wahr? Mit denen hat man ja damals ordentlich Profit gemacht."

„Das war doch nicht Katharina! Sie war damals noch zu jung dafür!"

„Aber es war Katharina, die ihrem Vater und ihren Brüdern die Leitung der Firma aus der Hand nahm, als sie an der Front fürs Heimatland kämpften!
Es war Katharina, die sich weigerte, Denunzianten zu benennen, welche in der Nazizeit Juden oder Hitlerkritiker gemeldet hatten – und erzähle mir nicht, dass sie nicht Bescheid wusste, wer das gewesen ist! Sie war beim BDM und hat sicherlich selbst viele Leute denunziert!
Katharina musste auch gezwungen werden, die Unterlagen über die Zwangsarbeiter aus Dachau und aus Polen herauszugeben und sie hat niemals gestanden, was mit mindestens zwei Babys geschehen ist, die in dieser Zeit geboren worden sein müssen.
Katharina war es auch, welche die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen nach dem Kriegsende weiterhin arbeiten lassen hat.
Und als die Forderung aufkam, die ehemaligen Zwangsarbeiter für ihr erlittenes Leid zu entschädigen, hat sie sich einfach geweigert, etwas zum Entschädigungsfonds beizutragen!" Mein Vater hat sich in Rage und Atemlosigkeit geredet und holt jetzt erst einmal tief Luft. Dann, als er unsere erschrockenen Mienen bemerkt, fährt er triumphierend fort: „Da habt ihr eure ach so tolle Katharina! Wahrscheinlich hat sie dir die Firma überschrieben, weil sie darauf vertraut, dass du weiterhin schön den Deckmantel über ihre Verbrechen breitest! Winald und ich wollten auch darum Anteile an der Firma bekommen, damit wir in den Entschädigungsfonds einzahlen können, was eigentlich Katharina hätte entrichten müssen!"

Hm. Also das nehme ich meinem Vater nun wirklich nicht ab. Was die anderen Anklagen anbetrifft – nun, angedeutet haben er und Onkel Winald immer wieder so etwas, aber so deutlich hat er es noch nie gesagt. Diese Anschuldigungen sind heftiger als alles, was die beiden immer wieder mal angedeutet haben. Ich bin mir immer bewusst gewesen, dass auch bei Gaitex während des Hitlerregimes Dinge geschehen sind, die gelinde gesagt verachtenswert und abscheulich sind. Aber es will mir nicht in den Kopf, dass Katharina mehr getan hat als es einfach geschehen zu lassen. Immerhin ist sie bei Kriegsende erst vierzehn Jahre alt gewesen und hat sicher nicht viel tun können. Aber dass sie die Verbrechen von damals nachträglich noch gedeckt und gebilligt haben soll, kann ich mir nicht vorstellen.

Paul hat jetzt die Nase voll. Er packt meinen Vater an den Schultern und schiebt ihn, ohne ein Wort zu sagen, entschlossen zur Tür hinaus. Entweder ist er ebenfalls sprachlos oder er ist sich für eine Antwort auf diese Auslassungen zu schade.

Meine Mutter blickt wütend um sich, zischt Lisette zu: „Das wirst du noch bereuen!" und teilt Rasmus und Kirsten bedauernd mit: „Tut mir leid, dass ihr das alles mit anhören musstet. Aber gell, nachdem ihr jetzt Bescheid wisst, seid ihr mir nicht böse, wenn eure nächsten Geburtstagsgeschenke ein bisschen weniger groß ausfallen. Ihr habt ja gehört, dass wir kein Geld mehr bekommen."

„Müsst ihr jetzt verhungern?", fragt Rasmus beklommen. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, als wolle meine Mutter das bestätigen, dann aber sagt sie leichthin: „Ach wo, Opa hat ja noch sein Gehalt. Aber es wird halt ein bisschen eng bei uns werden jetzt."

„Das war es bei uns auch immer, bis Katja befördert worden ist." Kirsten macht schon wieder mal auf altklug. „Aber Katja hat uns immer was Schönes geschenkt."

Zu gerne hätte ich die Antwort meiner Mutter darauf gehört, aber Paul führt seine Räumungsaktion weiter und nimmt nun unsere Mutter am Arm. Mit sanfter, aber nachdrücklicher Gewalt geleitet er sie zur Tür, schiebt sie hindurch und bleibt im Rahmen stehen, bis endlich ein Motor anspringt, Kies knirscht und dann das Motorengeräusch allmählich verklingt.

„So, sie sind weg", er schließt die Tür und grinst plötzlich. „Oh Mann, ihr zwei wart einfach köstlich! Ich habe den größten Teil eures Gefechts mit den beiden mithören können. Ihr seid zwei echte Supergirls!"

„Danke", Lisettes Lächeln fällt etwas zittrig aus. „Aber, Paul – was dein Vater da über Katharina alles gesagt hat – ist das wahr?"

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