Kapitel 5: Französische Namen

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„Tante Aurelia.", sage ich und bemühe mich, möglichst emotionslos zu klingen und so meine Überraschung zu verbergen. Ich weiß nicht, ob mir das wirklich so gut gelingt.

„Die bin ich.", erwidert meine Tante und klopft sich mit den Händen ein bisschen Staub von der Schulter. „Oh, sieh mal! Ein Glassplitter!"
Sie hält die kleine Scherbe vorsichtig zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger und betrachtet sie so fasziniert wie andere Leute ein wertvolles Gemälde.

Ein Sonnenstrahl verfängt sich in dem Glas und blendet mich, weshalb ich schnell wegsehe. Trotzdem tanzen jetzt bunte Punkte in meinem Blickfeld.

„Das ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Wieso bist du hier?", frage ich und betrachtete das Glasstück wieder aus zusammengekniffenen Augen. Ist da sonst irgendetwas besonderes dran?!

Tante Aurelia seufzt, lässt die Scherbe fallen und entfernt weitere Glasscherben von ihrem schwarzen Mantel. Offenbar hat sie versehentlich einige Splitter bei der unnötigen Herz-Rhythmus-Massage von Edgar abgestriffen.

„Ich muss mit dir reden, Genieve.", sagt Aurelia Detroyt. „Weißt du, auf welche Schule deine Eltern dich schicken werden?"

Ich ziehe die Mundwinkel nach unten, und schüttel den Kopf: „Nein."

„Es ist eine gute Schule. Du wirst sie lieben. Wir nennen sie die Tenarc Academy."

Das klingt auf jeden Fall schon einmal besser als "Northern School for Girls".
Der Name war dermaßen nichtssagend - als wäre die Gründerin zu faul gewesen, sich irgendetwas Gutes auszudenken.

„Wieso sollte ich sie lieben?", frage ich meine Tante misstrauisch. „Meine Eltern haben sie ausgesucht!"

Ich erwarte, dass sie versucht, meine Eltern zu verteidigen, schließlich sind sie ja Familie, aber das tut sie nicht.
Ganz im Gegenteil.
„Deine Eltern gehören wahrhaftig in die Hölle.", spottet Tante Aurelia und spuckt wütend auf den Boden. „Das besprechen wir aber zu einem anderen Zeitpunkt.
Es gibt nur weniges, was ich mit dir klären muss, bevor du auf die Tenarc Academy gehst.

Erstens, diese Schule ist gefährlich."

„Das Gebäude, oder die Leute die darin wohnen?", frage ich mit verschränkten Armen. Es war eigentlich lustig gemeint, aber als ich die Frage wirklich höre, kommt sie mir doch absolut ernst vor.

„Beides.", sagt meine Tante seufzend. „Die Akademie ist voller steiler Treppen, auf der schon zwei Schülerinnen und vier Schüler lebensbedrohlich verletzt wurden. Drei von ihnen sind anschließend gestorben.

Das Dach ist leider begehbar, was stupide Nachtausflüge von den Schülern und Schülerinnen zur Folge hat und nicht selten wird die Gefährlichkeit des Dachs dann doch unterschätzt.

Drei Schülerinnen und drei Schüler sind bereits heruntergefallen. Von ihnen ist nur einer gestorben."

„Und diese Schule ist ohne Anklage davon gekommen?! Heutzutage werden doch schon Spielplätze abgerissen, die zu hohe Klettertürme haben, wieso steht diese Schule dann noch?!", unterbreche ich sie fassungslos.

„Damit beschäftigen wir uns später. Wir haben nicht mehr viel Zeit, Genieve.", meint Tante Aurelia und sieht gehetzt von links nach rechts (wo man übrigens nichts anderes als ein kaputtes Auto und viele Bäume sehen kann - ach, und eine Leiche mit Geschenkband am Hals) bevor sie sich wieder mir zuwendet. „Die Schülerschaft selbst ist teilweise nicht gerade besser.

Einige der Kinder dort haben sehr, sehr reiche Eltern und sind deshalb der Meinung, sich alles erlauben zu können.
Absolut alles." Sie macht eine dramatische Pause, bevor sie weiterspricht. "Zweitens, du darfst niemandem wirklich vertrauen."

„Ist das nicht eher ein Unterpunkt? Nach dem Motto: Die Schule ist gefährlich, deshalb darfst du niemandem vertrauen?", frage ich.

„Hör auf, mich zu nerven, Genieve Detroyt!"

„Dann hör auf damit, mir irgendwelche Stichpunkte zu nennen, ohne irgendeinen Kontext!"

„Den Kontext kann ich dir nicht erklären! Du würdest es nicht verstehen – noch nicht.
Du musst es selbst erleben. Und wir wissen außerdem ... ich weiß vieles außerdem selbst noch gar nicht.", gibt meine Tante zähneknirschend zu. „Hören wir also auf mit den Informationen. Kommen wir zur Sache und fangen mit deiner Identität an. Was ist dein voller Name?"

„Genieve Flavia Detroyt."

„Falsch."

Ich ziehe meine Augenbrauen nicht hoch, sie ziehen sich quasi selbstständig hoch: „Entschuldigung, wie bitte?!"

„Auf der Tenarc Academy ist dein Name Genieve Lysander. Du hast keine Geschwister und deine Eltern leben in Schottland."

„Das ist dumm. Ich habe nämlich so ziemlich gar keinen schottischen Akzent.", kritisiere ich.

„Deine Eltern sind nach Schottland gezogen, aus geschäftlichen Gründen.", ergänzt Tante Aurelia augenrollend. „Was auch immer du sagst: Du gehörst nicht zu den Detroyts."

„Wow! Meine Eltern wollen mich jetzt offiziell verstoßen?", frage ich und bin wütend auf mich selbst. Also, nicht wegen mir persönlich, sondern wegen der Tränen, die sich in meinen Augen ansammeln.

Ich beiße mir fest auf die Lippe, aber das hält die Tränen nicht gerade gut zurück.

„Deine Eltern denken, du wärst tot. Bei einem Autounfall umgekommen, genau wie Edgar, ihr Chauffeur. Sie werden eine Beerdigung anordnen, aber selbst nicht erscheinen, um nicht mit dir in Verbindung gebracht zu werden.

Deinen Tod werden sie geheim halten, denn schließlich hat die Welt in den letzten fünf Jahren überhaupt nichts von dir mitbekommen und es wäre ganz schlecht für den Ruf der Detroyts, eine Tochter verschwiegen zu haben, nur, weil sie angeblich die falsche Haarfarbe und ein paar weiße Flecken auf der Haut hat.
Dank der schwarzen Schleife am Hals von Edgar und seinem Abschiedsbrief wird es außerdem nach Selbstmord mit versehentlichem, zusätzlichen Opfer aussehen."

„Welcher Abschiedsbrief?"

„Der Abschiedsbrief, den ich ihm eben in die Tasche gesteckt habe.
Aber unsere Zeit läuft ab, Genieve, also lass mich bitte kurz ausreden. Alles andere klären wir wann anders.

Du wirst unter falschem Namen und mit falscher Geschichte an die Tenarc Academy kommen.

Dort bist du dann einfach du selbst: Findest Freundinnen, schreibst ein paar Klassenarbeiten, verliebst dich meinetwegen, das ist mir ehrlich gesagt alles ziemlich egal.

Der Grund dafür, dass deine Eltern denken sollen, du wärst tot, ist, dass sie dich wieder haben wollen. Sie brauchen dich für ihr Team. Aber sie sollen dich nicht bekommen!
Mein Gott, wie soll ich das kurz erklären, ähm -"

In dem Moment höre ich ein leises Klingeln.

„Verdammt.", flucht meine Tante und kramt ihr Handy aus ihrer großen linken Manteltasche. „Hallo?! ... ja, ich habe sie ... wir kommen sofort ... nur noch zwei Minuten ... bitte, dann halt eine ... mein Gott, sie sind ja wirklich furchtbar! ... wir kommen ja schon!"

Zischend wie eine Schlange beendet meine Tante den Anruf und stopft ihr Handy wieder in die Tasche: „Wir holen jetzt dein Gepäck und dann steigst du in den Bus, der dich zur Schule bringt. Ich laufe zur Tenarc Academy - Sprich mich dort nur mit Mrs Nuage an."

„Ach, Französisch?!", bemerke ich belustigt.

„Weißt du was?! Du hast soeben einen Zweitnamen bekommen, Genieve Ciel Lysander.", meint meine Tante und verdreht die Augen.

"Was, wieso?!"

"Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht unterbrechen!"

„Aber das klingt bescheuert!"

„Es ist eine Belohnung für schlaue Leute: So können sie bemerken, dass wir uns eben doch kennen. Ein bisschen nachdenken hat noch keinem geschadet! Eine kleine Geheimbotschaft in unseren Namen, entzückend ... aber wir müssen jetzt wirklich los!"

Also öffnet meine tot geglaubte Tante den Kofferraum, zieht mein Gepäck heraus und drückt mir einen der Koffer in die Hände: „Nimm den hier, und -"

„Wieso sollte ich dir vertrauen?", frage ich herausfordernd. „Ich meine, das ist doch praktisch eine Entführung -"

„Wenn hier jemand dem anderen Misstrauen sollte, dann bin ich es! Das Rattengift hat mich vielleicht nicht umgebracht, aber es hat genug Schaden angerichtet – hör auf so zu lächeln!"

Ich habe meine Tante schon immer gemocht.

Sie trägt zwei meiner Koffer, ich trage den dritten und natürlich meinen Rucksack auf dem Rücken. Tante Aurelia schließt den Kofferraum wieder und läuft dann schnell los.

„Du weißt schon, dass der Plan voller Logikfehler ist, oder?! Zum Beispiel fehlt eine Leiche im Auto!", rufe ich ihr zu und laufe eilig hinter ihr her.

„Glaub mir, das wird alles genau so funktionieren, wie es geplant ist. Du wirst schon sehen.", entgegnet meine Tante. „Und leg bitte einen Schritt zu, wir müssen uns ein wenig beeilen!"

„Ich habe übrigens sehr viele Fragen!"

„Du kannst sie mir alle stellen. Aber nicht jetzt."

„Nur eine?"

„Nein."

„Bitte?"

„Hör auf, oder du bist bald nur noch Ciel Lysander!"

Also halte ich die Klappe.

Vorerst zumindest.

[-1364 Wörter-]

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