Kapitel 9: Das Mädchen mit der Glatze

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Miss Taylor steigt nicht gerne Treppen hoch.

Das weiß ich aus dem einfachen Grund, dass sie auf dem Weg zum nächsten Absatz leise Schimpfwörter vor sich hin keucht und der obersten Stufe kurz ihren rechten Mittelfinger präsentiert.

„So.", sagt sie dann und stützt die Hände auf den Oberschenkeln ab. „Hier wären wir. Die Schule ist zwar klein, aber trotzdem ein Scheißlabyrinth. Keine Ahnung, was die Bauarbeiter sich damals dabei gedacht haben!"

„Ich mag das Treppenhaus.", entgegne ich.

„Du bist aber auch komisch.", meint Miss Taylor. „Hauptsache, wir sind vorerst halbwegs angekommen. Komm mit."

Sie biegt rechts in einen schmalen Gang ein, der genau so aussieht, wie der, durch den die Direktorin ein Stockwerk tiefer verschwunden ist.

Dieser schmale Gang mündet in zwei weiteren Gängen. Miss Taylor stößt die rechte Holztür mit dem großem Glasfenster auf.

Auf dem Holz sind grob abgeblätterte Buchstaben, gemalt aus weißer Farbe zu erkennen.

G seo Oc l s

„Ist das der Name des Flurs?", frage ich.

„Wie bitte?"

Ich zeige auf die Buchstaben und Miss Taylor kneift die Augen zusammen, um die weiße Farbe besser von dem Holz unterscheiden zu können.

„Hier beginnt auf jeden Fall der Flur. Ja, vielleicht war das der Name. Aber niemand kümmert sich heute mehr um irgendwelche viel zu langen Namen.", meint Miss Taylor abwertend.

„Was, wenn es ein schöner Name gewesen ist? Wäre das nicht ein furchtbarer Verlust?"

„Akzeptiere einfach, dass niemand den Namen mehr benutzt und tu uns allen einen Gefallen damit.", entgegnet Miss Taylor.

Wir erreichen eine weitere Tür, wieder mit einer eingelassenen Glasscheibe und dieses mal ohne weitere Aufschrift. Miss Taylor klopft der Form halber an und drückt dann allerdings sofort die Klinke herunter.

„Willkommen in deinem neuen zuhause.", sagt sie und stößt die Tür theatralisch auf. Sie knarzt laut.

„Ich lebe in ... einem Flur?", frage ich langsam.

Zugegebn, es ist ein schöner Flur. Er sieht fast schon wohnlich an.

Auf dem Boden liegt ein dunkler, weinroter Teppich, an der Steinwänden hängen wieder schlichte Fotografien.

Zwischen den Fotografien sind hin und wieder Türen, keine von ihnen ist geöffnet und insgesamt sind es sieben. Drei links, vier rechts.

An der hintersten Wand hängt ein dunkelroter Wandteppich, also kann ich nicht wirklich erkennen, ob dahinter wirklich eine Wand ist.

„Du lebst in Zimmer 73. Die letzte Tür links. Wir werden dein Gepäck vor der Tür abstellen. Deine Zimmermitbewohnerinnen werden dir alles erklären.

Heute ist Sonntag.

Morgen ist Montag."

„Wie schwierig war es für sie, zu diesem Schluss zu kommen?"

„Hör auf damit, Ciely. Geh und klopf an. Tauch ab ins Internatsleben."

Also kommen wir jetzt wohl zu dem schwierigen Teil. Zu dem Teil, der das "sozial sein" involviert.

Ich muss mich zwei fremden Mädchen vorstellen, die mich möglicherweise von dem ersten Augenblick an hassen werden.

Zögernd mache ich einen Schritt vorwärts, in den Flur hinein.

„Worauf wartest du?", fragt Miss Taylor.

„Ähm ... was, wenn sie nicht da sind?", frage ich ausweichend und presse die Lippen aufeinander.

„Sie sind da.", antwortet Miss Taylor. „Geh schon."

Ich umklammere den Rucksack fester und mache den nächsten Schritt.

Dann den nächsten. Ich passiere die ersten Türen, dann die nächsten.

Nicht lange danach stehe ich vor Zimmer Nummer 73. 

Die Türklinke glänzt metallisch, genau, wie das Türschloss darunter.

Ich atme noch einmal tief durch, dann klopfe ich an. Nichts passiert.

Also, außer natürlich, dass das Klopfen leise von den Wänden widerhallt.

Ich drehe mich zu Miss Taylor um: „Nicht da -"

„Öffne doch einfach die Tür, Ciella!"

Seufzend drücke ich die Klinke also herunter. Die Tür öffnet sich fast lautlos, was mich ehrlich gesagt ziemlich überrascht.

Ich sehe ein letztes Mal zu Miss Taylor – oder zumindest dorthin, wo Miss Taylor bis eben noch gestanden hatte. Sie hat den Flur verlassen.

„Bleib draußen oder komm rein, aber was auch immer du tust, mach die verdammte Tür zu.", ruft jemand aus dem Zimmer heraus. Die Stimme ist zwar eher tief, aber definitiv die eines Mädchens.

„Was hat dir die Tür getan?", frage ich und betrete dann das Zimmer. Die Tür ziehe ich wie verlangt hinter mir zu.

Das Zimmer ist ... dunkel. Die roten Vorhänge sind zugezogen, ich kann nur vermuten, dass sich hinter ihnen Fenster verbergen.

Es wäre zumindest sehr unlogisch, würde man Vorhänge vor einer blanken Wand aufhängen.

Eine einzige Schreibtischlampe brennt, der schwache Lichtschein beleuchtet nur grob den Umriss einer Person ohne Haare.

„Hi.", sage ich und die Person dreht sich um.

Es ist ein Mädchen.

Ein Mädchen mit Glatze.

Ihre Augenbrauen sind zusammengezogen, ihre Augen sind passend dazu zusammengekniffen. Ich vermute, dass ihre Augenfarbe braun ist, zumindest ist ihre Iris dunkel.

„Was starrst du so? Du hast übrigens weiße Flecken auf der Haut!", zischt das Mädchen.

„Okay, erstens habe ich dich nicht angestarrt und zweitens habe ich mir das nicht ausgesucht!"

„Du glaubst, ich habe mir die Glatze freiwillig gemacht?! Wieso?!
Vielleicht habe ich Krebs?!"

„Du hast kein Krebs."

„Ach ja? Woher willst du das wissen? Du hast dieses Zimmer vor ein paar Sekunden betreten und stellst jetzt schon Vermutungen zu mir an, obwohl du mich absolut nicht kennst!"

„Du hast kein Krebs."

Das Mädchen schüttelt den Kopf und seufzt: „Wer bist du?"

„Genieve Lysander.", antworte ich, bemüht gleichgültig. „Wie heißt du?"

Das Mädchen steht von ihrem Schreibtischstuhl auf und kommt langsam auf mich zu. Es ist kleiner als ich.

„Christine.", sagt es knapp. „Und du lebst ab jetzt hier?"

„Jepp. Tut mir leid."

Christina lacht kurz auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es eher spöttisch oder doch freundlich klingt. Auf jeden Fall nicht fröhlich.

"Angenommen. Was willst du wissen?"

"Wer von deinen Bekannten hat Krebs?"

Christines Augen weiten sich. Ich würde Überraschung als Grund dafür bekennen, aber ich erkenne auch leichte Verärgerung in ihren Gesichtszügen aufblitzen: "Was soll das?!"
"Was meinst du? Du hast gesagt, ich könnte Fragen stellen."

"Nicht solche Fragen!"
"Das hast du nicht gesagt!", schnaubt Christine. "Wieso hast du weiße Flecken auf der Haut?!"

"Vitiligo.", antworte ich. "Also?"

"Niemand.", antwortet Christine und verschränkt die Arme. "Wieso kommst du erst jetzt hierher?"

"Ich musste noch darauf warten, dass meine Schule schließt."

Christine nickt: "Okay. Das ist mir ehrlich gesagt nicht wirklich wichtig. Wir teilen uns das Zimmer mit einem weiteren Mädchen, wie du bestimmt weißt. Kennst du ihren Namen?"

"Nein."

"Sie heißt Mary und sie ist eigentlich ganz okay. Siehst du das Bett und den Schreibtisch da?" Sie deutet auf eines der drei Betten. Genauer gesagt zeigt sie auf das, was besonders heraussticht. Wieso?

Es sind Einhörner mit regenbogenfarbenen Hörnern auf der Bettwäsche abgebildet und auf dem Kopfkissen liegt eine flauschige Schlafmaske mit Katzengesicht. Ich habe nie verstanden, wieso man sich freiwillig nachts etwas um die Augen schnallen sollte, wo die Sicht doch sowieso schon durch die Dunkelheit beeinträchtigt ist.

Der Schreibtisch neben dem Bett ist nicht weniger auffällig eingerichtet. Auf dem dunklen Holz liegen bunte Kugelschreiber verteilt, ein großer, unordentlicher Papierstapel nimmt über die Hälfte des Platzes ein.

"Das ist Marys Ecke. Wir haben alle eine. Deine ist die da.", Christine deutet auf das unbezogene Bett, das logischerweise das einzige ist, das noch übrig ist.
Daneben steht ein Schreibtisch, der absolut perfekt zu dem Bild passt, das ich von der Tenarc Academy habe, seit ich die Engelsstaue gesehen habe. Düster, gleichzeitig filligran und doch in gewisser Weise massiv.

"Mary mag es also bunt.", stelle ich fest, während ich langsam durch das Zimmer auf das freie Bett zugehe. Es steht an der rechten Wand, gegenüber von dem von Mary.

"Ja. Sie erfüllt das Cliché der fröhlichen Zimmermitbewohnerin perfekt. Du anscheinend nicht.", meint Christine.

"Du auch nicht.", erwidere ich beiläufig und stelle meinen Rucksack auf dem Bett ab.

"Natürlich nicht. Die Rolle ist schließlich schon vergeben."

"Gut. Ich hätte sie sowieso nicht erfüllen können, wie du so treffend bemerkt hast."

Es macht Spaß, mit Christine zu reden. Ich kann nicht genau sagen, ob sie mich nicht mag, oder ob das einfach nur ihr Charakter ist.

Allerdings bin ich mir schon zu gut neunzig Prozent sicher, dass das einfach ihr Charakter ist.

"Mary ist gerade noch in ihrer AG. Sie verbringt gerne ihre Freizeit dort. Anfangs dachte ich, sie tut das für bessere Noten, aber niemand macht so viel nur für Noten."

"Seit wann wird man für eine AG benotet?", frage ich und sehe mich möglichst unauffällig suchend um. Ich habe keine Bettwäsche mitgebracht. Wieso auch?

Erstens hatte ich keine: Auf der NSG haben wir die kratzigen weißen Laken von der Schule bekommen und zweitens habe ich sowieso absolut keine Informationen über irgendetwas bekommen, bevor ich hierher kam.

"Deine Eltern haben die Bettwäsche schon auf das Zimmer bringen lassen.", erzählt Christine. "Sie liegt in deinem Schrank. Der ganz Linke. Die Tür zwischen den drei Schränken führt übrigens ins Badezimmer."

"Dankeschön.", sage ich und gehe auf die Schränke zu. Sie sehen theoretisch absolut identisch aus - würde nicht auf einem von ihnen ein regenbogenfarbener Schlangensticker kleben.

Ich nahm an, mein Schrank würde leer sein, abgesehen von der Bettwäsche. Um es kurz zu sagen: Ich lag falsch.

Mehrere Kleidungsstücke befinden sich, entweder ordentlich gefaltet oder auf der kurzen Stange aufgehangen in dem kleinen Schrank.

"Schuluniform. Du musst immer mindestens ein Teil davon tragen. Es ist ziemlich cool eigentlich. Du hast viel Auswahl. Außerdem hast du noch andere Kleidung da drin. Deine Eltern haben dir irgendwas geschickt.", erklärt Christine, die wohl sehr gerne in eher kürzeren Sätzen kommuniziert. So lang sie nicht zu langsam redet, habe ich damit kein Problem.

Ich nehme eine Jacke aus dem Schrank. In dem dunklen Zimmer ist es eher schwierig Farben zu erkennen, die nicht leuchtend pink sind, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Jacke rot ist. Auf dem Rücken steht groß in vermutlich grünen Buchstaben "Tenarc Academy". Darunter ist ein Wappen abgebildet.

Ich erkenne ein Auge mit einer Träne im Augenwinkel. In dieses Auge sticht ein schmales Messer, also ist es vielleicht auch keine Träne, sondern eher Blut. Vorstellbar finde ich beides.

Hinter mir stößt jemand einen spitzen Schrei aus und ich fahre herum. Im Türrahmen steht ein Mädchen mit dunkelgrüner Brille und einem Pflaster auf der rechten Wange: "Du bist da!"

"Darf ich vorstellen: Mary.", verkündet Christine an mich gewandt und lächelt mich mit dem bekannten "Ich-habe-es-dir-doch-gesagt"- Lächeln an.

"Du musst Genieve Ciel Lysander sein!", quietscht Mary aufgeregt.

Ich presse die Lippen aufeinander: "Du hättest den Zweitnamen wirklich nicht nennen müssen!"

„Ciel?", fragt Christine spöttisch. „Dein Zweitname ist der französische Himmel?!"

Innerlich verfluche ich meine angeblichen Eltern, aka meine Tante, obwohl sie mir Klamotten geschickt hat, was wirklich hilfreich ist, weil ich in den letzten Jahren nämlich gewachsen bin und der Stoff meiner alten Klamotten sich dem leider nicht angepasst hat.

Trotzdem: Wieso Ciel?

„Er passt zu dir! Du hast ja auch Wolken auf der Haut!", meint Mary fröhlich. „Oder zumindest eine Wolke!"

„Wenn du ins Licht kommst siehst du noch mehr. Ihre Haut hat nur einfach die Farbe einer Wasserleiche, also ist das nicht so auffällig!", erzählt Christine.

Mary hört ihr schon gar nicht mehr zu, sondern springt aufgeregt auf mich zu: „Ich habe dir so viel zu erzählen! Es sind gut aussehende Jungs in unserer Stufe! Und leider ein paar Mädchen, die ich am liebsten erwürgen würde -"

Okay. Das kam jetzt überraschend, auch wenn ich erwartet haben könnte, dass das Mädchen mit der fröhlichsten Energie Morde plant.

„- aber das Gebäude ist toll! Kennst du Harry Potter? Es ist so wie Hogwarts -"

„Es ist absolut nicht so wie Hogwarts!", unterbricht Christine sie genervt. „Oder ist das Wappen von Hogwarts ein zerstochenes Auge?!"

„Wir sind deine Freundinnen! Du kannst uns alles erzählen und wir können dir alles erzählen! Deal?"

„Einverstanden.", sage ich.

[-1895 Wörter-]

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