Harry Potter - 05 - Der Orden Des Phoenix_1

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Inhalt

Dudley umnachtet .............................................................................7

Eulen über Eulen.............................................................................28

Die Vorhut .......................................................................................51

Grimmauldplatz Nummer zwölf .....................................................70

Der Orden des Phönix .....................................................................92

Das fürnehme und gar alte Haus der Blacks .................................112

Das Zaubereiministerium ..............................................................136

Die Anhörung................................................................................153

Mrs. Weasleys Wehklage ..............................................................169

Luna Lovegood .............................................................................199

Das neue Lied des Sprechenden Huts ...........................................221

Professor Umbridge .......................................................................243

Strafarbeit bei Dolores ..................................................................275

Percy und Tatze .............................................................................306

Die Großinquisitorin von Hogwarts ..............................................335

Im Eberkopf...................................................................................361

Ausbildungserlass Nummer vierundzwanzig................................382

Dumbledores Armee .....................................................................407

Der Löwe und die Schlange ..........................................................432

Hagrids Geschichte .......................................................................456

Das Auge der Schlange .................................................................479

St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und

Verletzungen..........................................................................506

Weihnachten auf der geschlossenen Station .................................534

Okklumentik ..................................................................................560

Der Käfer in der Klemme..............................................................589

Gesehen – unvorhergesehen..........................................................617

Der Zentaur und die Petze .............................................................647

Snapes schlimmste Erinnerung .....................................................674

Berufsberatung ..............................................................................703

Grawp ............................................................................................730

ZAGs .............................................................................................759

Aus dem Feuer ..............................................................................787

Kampf und Flucht..........................................................................810

Die Mysteriumsabteilung ..............................................................824

Jenseits des Schleiers ....................................................................842

Der Einzige, den er je fürchtete.....................................................870

Die verlorene Prophezeiung ..........................................................884

Der zweite Krieg beginnt ..............................................................911

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Dudley umnachtet

Der bislang heißeste Tag des Sommers neigte sich dem Ende zu

und eine schläfrige Stille lag über den großen wuchtigen Häusern des

Ligusterwegs. Autos, die normalerweise glänzten, standen staubig in

den Einfahrten, und Rasenflächen, die einst smaragdgrün waren, lagen

verdorrt und gelbstichig da – wegen der Dürre war es verboten

worden, sie mit Gartenschläuchen zu wässern. Die Bewohner des

Ligusterwegs, die sich nun nicht mehr wie üblich mit Autowaschen

und Rasenmähen die Zeit vertreiben konnten, hatten sich in die

Schatten ihrer kühlen Häuser zurückgezogen und die Fenster weit

aufgestoßen in der Hoffnung, eine vermeintliche Brise

hereinzulocken. Der einzige Mensch, der noch draußen war, ein

Teenager, lag in einem Blumenbeet vor Nummer vier flach auf dem

Rücken.

Es war ein schlaksiger, schwarzhaariger Junge mit Brille, der

ausgezehrt und leicht ungesund wirkte wie jemand, der in kurzer Zeit

recht schnell gewachsen war. Seine Jeans war dreckig und zerrissen,

sein T-Shirt ausgeleiert und verblichen, und die Sohlen seiner

Turnschuhe schälten sich vom Oberleder. Harry Potters Äußeres

machte ihn nicht lieb Kind bei den Nachbarn, jener Sorte von

Menschen, die meinten, Schmuddeligkeit gehöre gesetzlich bestraft,

doch da er sich an diesem Abend hinter einem großen

Hortensienbusch versteckt hatte, war er für Passanten gänzlich

unsichtbar. Tatsächlich konnten ihn nur Onkel Vernon und Tante

Petunia sehen, falls sie die Köpfe aus dem Wohnzimmerfenster

streckten und senkrecht nach unten ins Blumenbeet schauten.

Alles in allem, dachte Harry, konnte man ihm zu seiner Idee, sich

hier zu verstecken, nur gratulieren. Vie lleicht war es nicht sonderlich

bequem, wie er da auf der heißen, harten Erde lag, doch immerhin

stierte ihn niemand finster an und knirschte so laut mit den Zähnen,

dass er die Nachrichten nicht hören konnte, oder warf ihm gehässige

Fragen an den Kopf, wie es noch jedes Mal geschehen war, wenn er

versucht hatte, sich ins Wohnzimmer zu setzen und mit Tante und

Onkel fernzusehen.

- 8 -

Als wäre Harrys Gedanke durchs offene Fenster geflattert, fing

Vernon Dursley, sein Onkel, plötzlich an zu reden.

»Bin froh, dass der Bursche nicht mehr versucht, sich hier breit zu

machen. Übrigens, wo steckt er eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tante Petunia beiläufig. »Nicht im Haus

jedenfalls.«

Onkel Vernon grunzte.

»Die Nachrichten gucken …«, höhnte er. »Möchte wissen, was er

wirklich im Schilde führt. Ein normaler Junge pfeift doch drauf, was

in den Nachrichten kommt – Dudley hat keine Ahnung, was in der

Welt passiert. Bin mir nicht mal sicher, ob er weiß, wer der

Premierminister ist! Jedenfalls sieht's nicht so aus, als käme irgendwas

über seine Sippschaft in unseren Nachrichten …«

»Vernon, schhh!«, sagte Tante Petunia. »Das Fenster steht offen!«

»Oh – ja – Verzeihung, Liebling.«

Die Dursleys verstummten. Harry lauschte einem Werbesong für

Obst-und-Kleie -Frühstücksflocken, während er Mrs. Figg, eine

schrullige alte Dame aus dem nahen Glyzinenweg, langsam

vorbeitappen sah. Sie blickte finster drein und murmelte vor sich hin.

Harry war sehr froh, dass er hinter dem Busch versteckt lag, weil Mrs.

Figg ihn seit kurzem jedes Mal wenn sie ihn auf der Straße traf, zu

sich nach Hause zum Tee einlud. Sie war um die Ecke gebogen und

verschwunden, als Onkel Vernons Stimme erneut aus dem Fenster

schwebte.

»Duddy ist zum Tee eingeladen?«

»Bei den Polkissens«, sagte Tante Petunia liebevoll. »Er hat so

viele kleine Freunde, beliebt, wie er ist …«

Mit Mühe verkniff sich Harry ein Schnauben. Die Dursleys waren

wirklich erstaunlich dumm, wenn es um ihren Sohn Dudley ging. All

seine fadenscheinigen Lügen, er wäre jeden Abend der Sommerferien

bei einem anderen Typen aus seiner Gang zum Tee, hatten sie

geschluckt. Harry wusste genau, dass Dudley nirgends zum Tee war;

er und seine Gang verbrachten jeden Abend damit, den Spielplatz im

- 9 -

Park zu demolieren, an Straßenecken zu rauchen und Steine auf

vorbeikommende Autos und Kinder zu werfen. Harry hatte sie

während seiner abendlichen Streifzüge durch Little Whinging dabei

beobachtet; er hatte den größten Teil der Ferien damit verbracht, durch

die Straßen zu ziehen und unterwegs Zeitungen aus den Mülleimern

zu klauben.

Als die ersten Töne der Melodie für die Sieben-Uhr-Nachrichten

an Harrys Ohr drangen, drehte sich ihm der Magen um. Vielleicht

heute Abend – nachdem er einen Monat gewartet hatte –, vielleicht

war es heute so weit.

»Während der Streik der spanischen Gepäckabfertiger in die

zweite Woche geht, sitzen so viele Urlauber wie noch nie auf den

Flughäfen fest …«

»Denen würde ich eine lebenslange Siesta verpassen, wenn du

mich fragst«, knurrte Onkel Vernon, kaum dass der Sprecher den Satz

vollendet hatte, und doch: Draußen im Blumenbeet schien sich Harrys

Magen wieder zu entspannen. Wenn irgendetwas passiert wäre, dann

hätten sie es sicher als Erstes in den Nachrichten gebracht; Tod und

Zerstörung waren wichtiger als gestrandete Urlauber.

Er atmete lange und ruhig aus und blickte in den strahlend blauen

Himmel. Diesen Sommer war es Tag für Tag das Gleiche gewesen:

die Spannung, die Erwartung, die zeitweilige Erleichterung und dann

erneut die wachsende Spannung … und stets drängender die Frage,

warum noch nichts passiert war.

Er lauschte weiter, nur für den Fall, dass es einen kleinen Hinweis

gab, dessen ganze Bedeutung den Muggeln entging – ein rätselhaftes

Verschwinden vielleicht, oder ein merkwürdiger Unfall … aber dem

Streik der Gepäckabfertiger folgte eine Meldung über die Dürre im

Südosten Englands (»Hoffentlich hört der nebenan zu!«, bellte Onkel

Vernon. »Der mit seinen Sprinklern, die er um drei Uhr morgens

anstellt!«), dann über einen Hubschrauber, der beinahe über einem

Feld in Surrey abgestürzt war, schließlich über die Scheidung einer

prominenten Schauspielerin von ihrem prominenten Mann (»Als ob

wir an deren schmutzigen Affären interessiert wären«, naserümpfte

Tante Petunia, die diesen Fall in jeder Illustrierten, die ihr unter die

knochigen Finger kam, gebannt verfolgte).

- 10 -

Harry schloss die Augen vor dem jetzt flammenden Abendhimmel,

während der Sprecher sagte: »— und schließlich hat Wally der

Wellensittich sich etwas Neues einfallen lassen, wie er sich diesen

Sommer abkühlen kann. Wally, der auf den Five Feathers in Barnsley

lebt, hat Wasserski gelernt! Mary Dorkins hat sich dort für Sie

umgeschaut.«

Harry öffnete die Augen. Wenn sie schon bei Wasserski fahrenden

Wellensittichen waren, würde nichts Hörenswertes mehr kommen. Er

drehte sich vorsic htig auf den Bauch und stemmte sich auf Knie und

Ellbogen, um unter dem Fenster wegzukriechen.

Er hatte sich gerade mal fünf Zentimeter bewegt, als mehrere

Dinge in sehr rascher Folge passierten.

Ein lauter, widerhallender Knall zerriss die schläfrige Stille wie ein

Pistolenschuss; eine Katze sauste unter einem geparkten Wagen

hervor und stob davon; ein spitzer Schrei, ein gellender Fluch und das

Geräusch von zerbrechendem Porzellan drangen aus dem

Wohnzimmer der Dursleys. Als sei dies das Signal, auf das Harry

gewartet hatte, schnellte er hoch und zog einen dünnen hölzernen

Zauberstab aus seinem Jeansbund wie ein Schwert aus der Scheide –

doch bevor er sich ganz aufrichten konnte, krachte er mit der

Schädeldecke gegen das offene Fenster der Dursleys. Es rumste und

Tante Petunia kreischte noch lauter.

Harry hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf entzweigespalten.

Schwankend, mit tränenden Augen, versuchte er den Blick auf die

Straße zu richten, um die Quelle des Lärms auszumachen, doch kaum

hatte er sich stolpernd erhoben, langten zwei große, purpurrote Hände

durchs offene Fenster und schlossen sich fest um seine Kehle.

»Tu – das – Ding – weg!«, schnarrte Onkel Vernon in Harrys Ohr.

»Sofort! Bevor – es – jemand – sieht!«

»Lass – mich – los!«, keuchte Harry. Einige Sekunden lang rangen

sie miteinander. Harry, der mit der rechten Hand den erhobenen

Zauberstab fest umklammerte, zog mit der linken an den Wurstfingern

seines Onkels; dann, in dem Moment, als der Schmerz an Harrys

Schädeldecke besonders fies pochte, japste Onkel Vernon plötzlich

und ließ Harry los, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen

- 11 -

hätte. Eine unsichtbare Kraft schien durch seinen Neffen pulsiert zu

sein, so dass er ihn unmöglich weiter festhalten konnte.

Keuchend fiel Harry bäuchlings über den Hortensienbusch, richtete

sich auf und spähte umher. Was den lauten Knall verursacht haben

könnte, war nicht im Entferntesten zu erkennen, aber inzwischen

lugten Gesichter aus einigen Fenstern in der Nachbarschaft. Harry

steckte hastig seinen Zauberstab in die Jeans und versuchte, eine

Unschuldsmiene aufzusetzen.

»Wunderbarer Abend!«, rief Onkel Vernon und winkte Mrs.

Nummer sieben von gegenüber zu, die durch ihre Netzvorhänge böse

herüberfunkelte. »Haben Sie eben diesen Auspuffknall gehört? Hat

Petunia und mir einen schönen Schreck eingejagt!«

Er grinste unentwegt auf schreckliche, besessene Art umher, bis all

die neugierigen Nachbarn von ihren Fenstern verschwunden waren,

dann winkte er Harry zu sich heran, und aus dem Grinsen wurde eine

wutentbrannte Grimasse.

Harry trat ein paar Schritte näher und achtete darauf, kurz vor dem

Punkt Halt zu machen, an dem Onkel Vernons ausgestreckte Hände

ihn wieder würgen konnten.

»Was zum Teufel soll das, Bursche?«, fragte Onkel Vernon mit

heiserer, vor Wut zitternder Stimme.

»Was soll was?«, sagte Harry kühl. Er blickte unablässig links und

rechts die Straße entlang, immer noch in der Hoffnung

herauszufinden, von wem der Knall stammte.

»Einen Lärm machen, als ginge eine Pistole los, und das direkt vor

unserem …«

»Den Lärm hab ich nicht gemacht«, sagte Harry entschieden.

Neben Onkel Vernons breitem, puterrotem Gesicht tauchte jetzt

Tante Petunias schmales Pferdegesicht auf. Sie war aschgrau.

»Warum hast du unter unserem Fenster herumgelungert?«

»Ja – ja, gute Frage, Petunia! Was hast du unter unserem

Fenstergetrieben, Bursche?«

- 12 -

»Die Nachrichten gehört«, sagte Harry mit resignierter Stimme.

Tante und Onkel tauschten empörte Blicke.

»Die Nachrichten gehört! Schon wieder?«

»Na ja, es gibt doch jeden Tag neue, oder?«, sagte Harry.

»Spiel mir hier nicht den Neunmalklugen, Bursche! Ich will

wissen, was du wirklich im Schilde führst – und hör mir bloß auf mit

diesem Quatsch von wegen die Nachrichten hören! Du weißt genau,

dass deine Sippschaft …«

»Vorsicht, Vernon!«, hauchte Tante Petunia, und Onkel Vernon

senkte die Stimme, bis Harry ihn kaum noch hören konnte – »dass

deine Sippschaft nicht in unsere Nachrichten kommt!«

»Das meinst du wohl«, sagte Harry.

Die Dursleys glotzten ihn ein paar Sekunden an, dann schimpfte

Tante Petunia : »Du bist ein gemeiner kleiner Lügner. Was treiben

denn all diese …«, auch sie senkte die Stimme, so dass Harry das

nächste Wort von ihren Lippen ablesen musste, »… Eulen hier, wenn

sie dir keine Nachrichten bringen?«

»Aha!«, flüsterte Onkel Vernon triumphierend. »Jetzt lass dir dazu

mal eine Ausrede einfallen, Bursche! Als ob wir nicht wüssten, dass

du deine ganzen Nachrichten von diesen ekelhaften Vögeln

bekommst!«

Harry zögerte einen Moment. Es kostete ihn einige Überwindung,

diesmal die Wahrheit zu sagen, obwohl Onkel und Tante unmöglich

wissen konnten, wie schlimm es für ihn war, sie einzugestehen.

»Die Eulen … bringen mir keine Nachrichten«, antwortete er

tonlos.

»Das glaub ich nicht«, sagte Tante Petunia sofort.

»Und ich auch nicht«, bestätigte Onkel Vernon.

»Wir wissen, dass du irgendein krummes Ding vorhast«, sagte

Tante Petunia.

- 13 -

»Wir sind schließlich nicht blöde, verstehst du«, sagte Onkel

Vernon.

»Na, das ist ja mal 'ne Neuigkeit«, erwiderte Harry mit

anschwellendem Zorn, und bevor die Dursleys ihn zurückrufen

konnten, wirbelte er herum, lief über den Rasen, sprang über die

niedrige Gartenmauer und ging mit großen Schritten die Straße

entlang davon.

Das gab Ärger, so viel war sicher. Er würde Onkel und Tante

später Rede und Antwort stehen und für seine Frechheit bezahlen

müssen, doch fürs Erste war ihm das ziemlich schnuppe; er hatte viel

dringendere Angelegenheiten im Kopf.

Harry war sich sicher, dass der Knall von jemandem herrührte, der

appariert oder disappariert war. Es war genau das Geräusch, das

Dobby der Hauself machte, wenn er ins Blaue hinein verschwand.

Konnte Dobby denn hier im Ligusterweg sein? Folgte ihm Dobby

vielleicht genau in diesem Moment? Bei diesem Gedanken schnellte

er herum und spähte zurück, doch der Ligusterweg schien

vollkommen ausgestorben, und Harry war sicher, dass Dobby nicht

wusste, wie man sich unsichtbar machte.

Er ging weiter und achtete dabei kaum auf den Weg, den er

einschlug, denn er hatte diese Straßen in letzter Zeit so oft

durchstreift, dass ihn seine Füße wie von allein zu seinen

Lieblingsplätzen trugen. Alle paar Schritte warf er einen Blick über

die Schulter. Ein magisches Wesen hatte sich in seiner Nähe

aufgehalten, als er zwischen Tante Petunias sterbenden Begonien

gelegen hatte, das war sicher. Warum hatte es ihn nicht angesprochen,

warum hatte es keine Verbindung aufgenommen, warum versteckte es

sich jetzt?

Und dann, als seine Enttäuschung ihren Höhepunkt erreicht hatte,

schwand plötzlich diese Gewissheit.

Vielleicht war es doch kein magisches Geräusch gewesen.

Vielleicht wartete er nur so verzweifelt auf das kleinste Zeichen aus

einer Welt, in die er gehörte, dass er bei ganz gewöhnlichen

Geräuschen einfach überreagierte. Konnte er sicher sein, dass der

- 14 -

Lärm nicht daher rührte, dass in einem Nachbarhaus etwas zu Bruch

gegangen war?

Harry hatte ein dumpfes, flaues Gefühl im Magen, und

unversehens überfiel ihn wieder die Hoffnungslosigkeit, die ihn den

ganzen Sommer über geplagt hatte.

Morgen früh um fünf würde der Wecker ihn aus dem Schlaf reißen,

damit er die Eule bezahlen konnte, die ihm den Tagespropheten

brachte – aber hatte es noch einen Zweck, ihn weiter zu beziehen?

Harry schaute dieser Tage nur kurz auf die Titelseite und warf ihn

dann beiseite; wenn diese Trottel von der Zeitung endlich erkannt

hatten, dass Voldemort zurück war, würde das Schlagzeilen machen,

und nur solche Nachrichten scherten Harry.

Zwar kamen, wenn er Glück hatte, auch Eulen mit Briefen von

seinen besten Freunden Ron und Hermine, aber all seine Erwartungen,

dass ihre Briefe Neuigkeiten für ihn enthalten würden, waren schon

lange zunichte.

Wir können nicht viel über Du-weißt-schon-was sagen, verstehst

du … Man hat uns gesagt, dass wir nichts Wichtiges schreiben dürfen,

falls unsere Briefe in die falschen Hände gelangen … Wir sind

ziemlich beschäftigt, aber ich kann dir hier nichts Genaues schreiben

… Es geht einiges ab, wir erzählen dir alles, wenn wir dich treffen …

Aber wann würden sie ihn treffen? Niemand schien sich groß um

einen festen Termin zu kümmern. Ich denke, wir besuchen dich

ziemlich bald, hatte Hermine auf seine Geburtstagskarte geschrieben,

aber wie bald war bald? Soviel Harry aus den vagen Hinweisen in

ihren Briefen schließen konnte, waren Hermine und Ron am selben

Ort, vermutlich im Haus von Rons Eltern. Er konnte es kaum ertragen,

daran zu denken, wie die beiden im Fuchsbau ihren Spaß hatten,

während er im Ligusterweg festsaß. Tatsächlich war er so sauer auf

sie, dass er die beiden Schachteln mit Schokolade aus dem Honigtopf,

die sie ihm zum Geburtstag geschickt hatten, ungeöffnet weggeworfen

hatte. Später hatte er es bereut, nach dem welken Salat, den Tante

Petunia am selben Abend noch zum Essen aufgetischt hatte.

Womit waren Ron und Hermine eigentlich so beschäftigt? Und

warum war er, Harry, nicht beschäftigt? Hatte er nicht bewiesen, dass

- 15 -

er mit viel mehr fertig werden konnte als sie? Hatten sie alle

vergessen, was er getan hatte? War es nicht er gewesen, der diesen

Friedhof betreten und gesehen hatte, wie Cedric ermordet wurde, und

der an diesen Grabstein gefesselt wurde und fast umgebracht worden

wäre?

Denk nicht drüber nach, ermahnte sich Harry streng und zum

hundertsten Mal in diesem Sommer. Schlimm genug, dass er den

Friedhof in seinen Alpträumen immer wieder besuchte, da brauchte er

in seinen wachen Momenten nicht auch noch darüber nachzubrüten.

Er bog um eine Ecke und war nun auf dem Magnolienring; auf

halbem Weg die Straße entlang kam er an der schmalen Gasse vorbei,

die an einer Garage entlangführte und in der er zum ersten Mal seinen

Paten gesehen hatte. Sirius zumindest schien zu verstehen, wie Harry

sich fühlte. Zugegeben, seine Briefe enthielten ebenso wenig

handfeste Neuigkeiten wie die von Ron und Hermine, aber wenigstens

schrieb er ihm zur Vorsicht mahnende und tröstende Worte statt

quälender Andeutungen: Ich weiß, das muss frustrierend für dich sein

… Halt die Ohren steif dann wird schon alles gut gehen … Sei

vorsichtig und tu nichts Unbesonnenes …

Immerhin, dachte Harry, während er den Magnolienring

überquerte, in die Magnolienstraße einbog und auf den nun schon im

Dunkeln liegenden Park mit dem Spielplatz zuging, immerhin hatte er

(im Wesentlichen) befolgt, was Sirius ihm geraten hatte. Zumindest

hatte er der Versuchung widerstanden, den Koffer an seinen Besen zu

binden und sich auf eigene Faust auf die Reise zum Fuchsbau zu

machen. Im Grunde hatte er sich sehr gut verhalten, wenn er

überlegte, wie enttäuscht und zornig er darüber war, so lange im

Ligusterweg festzusitzen, wo er nichts weiter unternehmen konnte, als

sich in Blumenbeeten zu verstecken, in der Hoffnung, einen Hinweis

darauf zu erlauschen, was Lord Voldemort gerade machte. Dennoch

wurmte es ihn, dass ihn ausgerechnet ein Mann vor Unbesonnenheiten

warnte, der zwölf Jahre im Zauberergefängnis von Askaban gesessen

hatte, der entkommen war, daraufhin den Mord begehen wollte, für

den man ihn ursprünglich verurteilt hatte, und schließlich mit einem

gestohlenen Hippogreif geflohen war.

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Harry schwang sich über das geschlossene Parktor und überquerte

den verdorrten Rasen. Der Park war so menschenleer wie die Straßen

in der Nachbarschaft. Er erreichte die Schaukeln und ließ sich auf

einer davon nieder, der letzten, die Dudley und seine Freunde noch

nicht demoliert hatten, schlang einen Arm um die Kette und starrte

trübsinnig auf die Erde. Im Blumenbeet der Dursleys würde er sich

nicht mehr verstecken können. Morgen musste er sich etwas Neues

einfallen lassen, wie er die Nachrichten hören konnte. Bis dahin hatte

er nichts, auf das er sich freuen konnte, nur eine weitere unruhige,

sorgenvoll durchwälzte Nacht, denn selbst wenn er von Alpträumen

um Cedric verschont blieb, plagten ihn schreckliche Träume von

langen schwarzen Korridoren, die alle an Mauern und verschlossenen

Türen endeten, was, wie er vermutete, etwas zu tun hatte mit dem

Gefühl, in der Falle zu sitzen, das ihn am Tage quälte. Seine alte

Stirnnarbe ziepte oft unangenehm, aber Ron oder Hermine oder Sirius,

da machte er sich nichts vor, würden dies nicht mehr sonderlich

spannend finden. Früher hatten ihn die Narbenschmerzen gewarnt,

wenn Voldemort wieder stärker wurde, doch nun, da Voldemort

zurückgekehrt war, würden seine Freunde ihm wohl nur zu verstehen

geben, dass es sie nicht überraschte, wenn die Narbe ständig gereizt

war … kein Grund zur Sorge … Schnee von gestern …

Das Gefühl, wie ungerecht das alles war, staute sich in ihm auf,

und er hätte am liebsten vor Wut geschrien. Wenn er nicht gewesen

wäre, hätte überhaupt niemand erfahren, dass Voldemort zurück war!

Und zur Belohnung saß er vier geschlagene Wochen lang in Little

Whinging, völlig abgeschnitten von der magischen Welt, dazu

verurteilt, zwischen welken Begonien zu kauern, nur um Neuigkeiten

über Wasserski fahrende Wellensittiche zu hören. Wie konnte

Dumbledore ihn nur einfach so vergessen? Wieso hatten Ron und

Hermine sich getroffen, ohne ihn einzuladen? Wie lange noch musste

er sich von Sirius sagen lassen, er solle die Ohren steif halten und ein

braver Junge sein; oder der Versuchung widerstehen, an den blöden

Tagespropheten zu schreiben und denen klar zu machen, dass

Voldemort zurückgekehrt war? Solch wilde Gedanken wirbelten

durch Harrys Kopf, und seine Eingeweide verknoteten sich vor Zorn,

während eine schwüle, samtene Nacht sich über ihn senkte, in der die

Luft schwer war vom Geruch warmen, trockenen Grases und einzig

- 17 -

das leise Rauschen des Verkehrs auf der Straße hinter den Parkgittern

zu hören war.

Er wusste nicht, wie lange er auf der Schaukel gesessen hatte, als

das Geräusch von Stimmen seine Grübeleien unterbrach und er

aufblickte. Die Laternen der angrenzenden Straßen spendeten

dunstiges Licht, stark genug, um die Umrisse einer Gruppe von

Leuten hervortreten zu lassen, die auf dem Weg durch den Park

waren. Einer von ihnen sang ein lautes und wüstes Lied. Die anderen

lachten. Ein leises Ticken kam von mehreren teuren Rennrädern, die

sie mit sich schoben.

Harry wusste, wer diese Leute waren. Die Gestalt vorne war

unverkennbar sein Cousin Dudley Dursley auf dem Weg nach Hause,

begleitet von seiner treuen Gang.

Dudley hatte so gewaltige Maße wie eh und je, doch ein Jahr

strenger Diät und die Entdeckung eines neuen Talents hatten seine

Statur deutlich verändert. Wie Onkel Vernon allen, die es hören

wollten, entzückt erzählte, war Dudley vor kurzem bei den

Schulmeisterschaften im Südwesten der Boxchampion im

Juniorenschwergewicht geworden. »Der edle Sport«, wie Onkel

Vernon ihn nannte, hatte aus Dudley eine noch furchterregendere

Gestalt gemacht, als er es zu Harrys Grundschulzeit gewesen war, wo

er als Dudleys erster Punchingball hatte herhalten müssen. Harry hatte

nicht die geringste Angst mehr vor seinem Cousin, doch wollte er

trotzdem nicht glauben, dass ein Dudley, der lernte, noch härter und

gezielter zuzuschlagen, ein Grund zum Feiern sein sollte. In der

ganzen Nachbarschaft hatten die Kinder fürchterliche Angst vor ihm –

sogar mehr noch als vor »diesem Potter-Jungen«, der, wie man sie

gewarnt hatte, ein abgebrühter Hooligan war und ins St.-Brutus-

Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen ging.

Harry beobachtete, wie die dunklen Gestalten den Rasen

überquerten, und fragte sich, wen sie heute Abend verprügelt hatten.

Schaut euch um, fuhr es Harry unwillkürlich durch den Kopf, während

er ihnen mit den Augen folgte. Kommt schon … schaut euch um … ich

sitze hier ganz allein … kommt und zeigt's mir …

Wenn Dudleys Freunde ihn hier sitzen sähen, würden sie sicher

geradewegs auf ihn losgehen, und was würde Dudley dann tun? Vor

- 18 -

seiner Gang wollte er gewiss nicht das Gesicht verlieren, aber er

würde schreckliche Angst haben, Harry zu provozieren … wie

herrlich es wäre, Dudley so hin- und hergerissen zu sehen, ihn zu

reizen, zu beobachten, wie er die Kraft nicht aufbrachte, ihm etwas

entgegenzusetzen … und falls einer der anderen versuchte, Harry zu

schlagen, war er vorbereitet – er hatte seinen Zauberstab. Sollten sie

doch kommen … liebend gern würde er ein wenig von seinem Frust

an den Jungen auslassen, die sein Leben einst zur Hölle gemacht

hatten.

Aber sie drehten sich nicht um, sie sahen ihn nicht, hatten fast

schon das Gitter erreicht. Harry bezwang den Impuls, ihnen

nachzurufen … eine Schlägerei anzuzetteln, war nicht klug … er

durfte seine magischen Kräfte nicht einsetzen … er würde wieder

einmal den Rauswurf riskieren.

Die Stimmen von Dudleys Gang erstarben; die Jungen waren außer

Sicht, auf dem Weg die Magnolienstraße entlang.

Da siehst du's mal, Sirius, dachte Harry dumpf. Nichts

Unbesonnenes. Hab die Ohren steif gehalten. Genau das Gegenteil

von dem, was du getan hättest.

Er hüpfte von der Schaukel und streckte sich. Tante Petunia und

Onkel Vernon schienen der Meinung, wann auch immer Dudley

auftauchte, sei die richtige Zeit, um nach Hause zu kommen, und alles

danach sei viel zu spät. Onkel Vernon hatte gedroht, Harry im

Schuppen einzusperren, wenn er je wieder nach Dudley heimkam, und

so unterdrückte Harry ein Gähnen und machte sich mit immer noch

finsterer Miene auf den Weg zum Parktor.

Die Magnolienstraße war wie der Ligusterweg gesäumt von

großen, wuchtigen Häusern mit tadellos manikürten Rasenstücken,

alle von dicken, vierschrötigen Eigenheimbesitzern gemäht, die sehr

saubere Autos ähnlich dem von Onkel Vernon fuhren. Harry war

Little Whinging am Abend lieber, wenn die gardinenbewehrten

Fenster juwelenhelle Farbflecke in die Dunkelheit tupften und er nicht

Gefahr lief, missbilligendes Murmeln über seine

»Sträflingserscheinung« zu hören, wenn er an den Hausbesitzern

vorbeikam. Er ging rasch, so dass auf halber Strecke durch die

Magnolienstraße Dudleys Gang wieder in Sicht kam; sie

- 19 -

verabschiedeten sich an der Einmündung zum Magnolienring. Harry

trat in den Schatten eines großen Fliederbusches und wartete.

»… hat gequiekt wie 'ne Sau, was?«, sagte Malcolm unter dem

schallenden Gelächter der anderen.

»Hübscher rechter Haken, Big D«, sagte Piers.

»Morgen selbe Zeit?«, sagte Dudley.

»Dann bei mir, meine Eltern gehen aus«, sagte Gordon.

»Also bis dann«, sagte Dudley.

»Tschüss, Dud!«

»Wir sehn uns, Big D!«

Harry blieb noch stehen, bis der Rest der Gang weitergelaufen war.

Als ihre Stimmen wieder leiser geworden waren, bog er um die Ecke

in den Magnolienring, und da er sehr rasch ging, kam er bald in

Rufweite zu Dudley, der selbstzufrieden einherschlenderte und

melodielos vor sich hin summte.

»Hey, Big D!«

Dudley drehte sich um.

»Oh«, grunzte er. »Du bist's.«

»Seit wann bist du eigentlich ›Big D‹?«, sagte Harry.

»Klappe«, raunzte Dudley und wandte sich ab.

»Cooler Name«, sagte Harry grinsend und holte seinen Cousin ein.

»Aber für mich wirst du immer der ›putzige Duddywutz‹ sein.«

»KLAPPE, hab ich gesagt!«, blaffte Dudley, die schinkengleichen

Hände zu Fäusten geballt.

»Wissen die Jungs nicht, dass deine Mami dich so nennt?«

»Halt die Fresse.«

»Du sagst ihr doch auch nicht, dass sie die Fresse halten soll. Was

ist mit ›Mausebär‹ und ›süßer Duddymatz‹, darf ich dich auch so

nennen?«

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Dudley sagte nichts. Die Anstrengung, sich zu zwingen, Harry

nicht zu schlagen, schien all seine Selbstbeherrschung zu erfordern.

»Und wen hast du heute Abend verprügelt?«, fragte Harry und sein

Grinsen schwand. »Wieder einen Zehnjährigen? Vorgestern hast du's

Mark Evans besorgt, das weiß ich …«

»Er hat's nicht anders gewollt«, schnarrte Dudley.

»Ach ja?«

»Ist frech geworden.«

»Jaah? Hat er gesagt, du siehst aus wie ein Schwein, dem man

beigebracht hat, auf den Hinterbeinen zu laufen? Das ist aber nicht

frech, das ist die Wahrheit.«

An Dudleys Kinnlade zuckte ein Muskel. Er war wütend und Harry

sah es mitenormer Genugtuung; ihm war, als würde er allen Ärger an

seinem Cousin auslassen, dem Einzigen, der dafür herhalten konnte.

Sie bogen nach rechts in die Abkürzung zwischen Magnolienring

und Glyzinenweg ein, in die schmale Gasse, wo Harry Sirius zum

ersten Mal gesehen hatte. Sie war menschenleer und dunkler als die

Straßen, die sie verband, denn es gab keine Laternen. Garagenwände

auf der einen, ein hoher Zaun auf der anderen Seite dämpften das

Geräusch ihrer Schritte.

»Kommst dir wohl mächtig stark vor mit dem Ding, das du

rumträgst, stimmt's?«, sagte Dudley nach einigen Sekunden.

»Welchem Ding?«

»Diesem – diesem Ding, das du versteckt hältst.«

Harry grinste erneut.

»Nicht so doof, wie du aussiehst, was, Dud? Aber wenn du's wärst,

glaub ich, könntest du nicht gleichzeitig gehen und reden.«

Harry zog seinen Zauberstab. Er sah, wie Dudley ihn scheel

beäugte.

»Das darfst du nicht«, sagte Dudley prompt. »Ich weiß es. Die

werfen dich aus dieser Beklopptenschule, auf die du gehst.«

- 21 -

»Woher willst du wissen, dass sie die Vorschriften nicht geändert

haben, Big D?«

»Haben sie nicht«, sagte Dudley, obwohl er dabei nicht

vollkommen überzeugt klang.

Harry lachte leise.

»Du hast doch Schiss, es ohne dieses Ding mit mir aufzunehmen,

oder?«, fauchte Dudley.

»Und du brauchst vier Kumpel hinter dir, bevor du einen

Zehnjährigen verprügeln kannst. Dieser Boxtitel übrigens, mit dem du

dauernd angibst – wie alt war dein Gegner? Sieben? Acht?«

»Er war sechzehn, wenn du's genau wissen willst«, fauchte

Dudley, »und als ich mit dem fertig war, lag er noch zwanzig Minuten

halb tot rum, und der war doppelt so schwer wie du. Wart nur, bis ich

Dad erzähle, dass du dieses Ding rausgezogen hast …«

»Jetzt rennst du zu Daddy, was? Hat sein Putzi-Putzi-

Boxchampion Angst vor Harrys bösem Zauberstab?«

»Nachts bist du nicht so mutig, stimmt's?«, höhnte Dudley.

»Es ist Nacht, Duddymatz. So nennt man es nämlich, wenn es

überall dunkel wird wie jetzt.«

»Ich mein, wenn du im Bett bist!«, fauchte Dudley.

Er war stehen geblieben. Auch Harry blieb stehen und starrte

seinen Cousin an.

Soweit er Dudleys breites Gesicht erkennen konnte, hatte er eine

merkwürdig triumphierende Miene aufgesetzt.

»Was soll das heißen, ich bin nicht mutig, wenn ich im Bett bin?«,

sagte Harry völlig verdutzt. »Wovor soll ich Angst haben, vor Kissen

vielleicht?«

»Ich hab dich gestern Nacht gehört«, sagte Dudley atemlos. »Hast

im Schlaf geredet. Gejammert.«

- 22 -

»Was soll das heißen?«, sagte Harry erneut, doch mit einem kalten,

flauen Gefühl im Magen. Gestern Nacht hatte er in seinen Träumen

wieder den Friedhof besucht.

Dudley lachte harsch und bellend auf und nahm eine spitze,

wimmernde Stimme an.

»›Lass Cedric leben! Lass Cedric leben!‹ Wer ist Cedric – dein

Freund?«

»Ich – du lügst«, sagte Harry unwillkürlich. Doch sein Mund war

trocken geworden. Dudley log nicht, das wusste er – wie sonst konnte

er von Cedric erfahren haben?

»›Dad! Hilf mir, Dad! Er wird mich umbringen, Dad! Uuh huu!‹«

»Hör auf«, sagte Harry leise. »Hör auf, Dudley, ich warne dich!«

»›Komm und hilf mir, Dad! Mum, komm und hilf mir! Er hat

Cedric getötet! Dad, hilf mir! Er wird mich –‹ Nimm das Ding

runter!«

Dudley wich an die Mauer der Gasse zurück. Harry richtete den

Zauberstab direkt auf Dudleys Herz. Er konnte vierzehn Jahre Hass

auf Dudley in seinen Adern hämmern spüren – was würde er nicht

dafür geben, jetzt zuzuschlagen, Dudley so gründlich durchzuhexen,

dass er wie ein Insekt nach Hause krabbeln musste, stumm und blind

geschlagen, mit ausgestreckten Fühlerchen …

»Fang nie wieder davon an«, fauchte Harry. »Hast du mich

verstanden?«

»Halt das Ding woandershin!«

»Ich hab gesagt, hast du mich verstanden?«

»Halt es woandershin!«

»HAST DU MICH VERSTANDEN?«

»TU DAS DING WEG …«

Dudley keuchte, eigenartig schaudernd, als wäre er in Eiswasser

getaucht worden.

- 23 -

Etwas war mit der Nacht geschehen. Der sternübersäte indigoblaue

Nachthimmel war plötzlich pechschwarz und lichtlos – die Sterne, der

Mond, die dunstigen Straßenlichter zu beiden Enden der Gasse waren

verschwunden. Das ferne Rauschen der Autos und das Flüstern der

Bäume waren verstummt. Der milde Abend war plötzlich stechend

und beißend kalt. Sie waren von völliger, undurchdringlicher, stiller

Dunkelheit umgeben, als hätte ein Riese einen dicken, eiskalten

Mantel über die ganze Gasse geworfen, der ihnen jegliche Sicht nahm.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Harry, er hätte

versehentlich gezaubert, obwohl er das Verlangen mit aller Kraft

unterdrückt hatte – dann zog sein Verstand mit seinen Sinnen gleich –

er hatte nicht die Macht, die Sterne zum Erlöschen zu bringen. Er

drehte den Kopf hin und her und versuchte, etwas zu erkennen, doch

die Dunkelheit drückte auf seine Augen wie ein schwereloser Schleier.

Dudleys angsterfüllte Stimme drang in Harrys Ohr.

»W-was machst du d-da? Hö-hör auf d-damit!«

»Ich mach gar nichts! Sei still und beweg dich nicht!«

»Ich k-kann nichts sehen! Ich b-bin blind! Ich …«

»Still, hab ich gesagt!«

Harry stand stocksteif da und wandte seine blinden Augen nach

links und nach rechts. Die Kälte war so heftig, dass er am ganzen Leib

zitterte; eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme, und seine

Nackenhaare sträubten sich – er riss die Augen auf, so weit er konnte,

und starrte leer und blind umher.

Es war unmöglich … sie konnten nicht hier sein … nicht in Little

Whinging … er lauschte angestrengt … er würde sie hören, bevor er

sie sah …

»Ich s-sag's Dad!«, wimmerte Dudley. »W-wo bist du? Was

machst d-du da …?«

»Hältst du endlich die Klappe?«, zischte Harry. »Ich versuch was

zu hö…«

Doch er verstummte. Er hatte genau das gehört, wovor es ihn

gegraust hatte.

- 24 -

Außer ihnen war da noch etwas in dieser Gasse, etwas, das lange,

heisere, rasselnde Atemzüge tat. Harry, der zitternd in der eisigen Luft

stand, spürte, wie ihn eine grauenhafte Angst durchfuhr.

»L-lass das sein! H-hör auf damit! Ich h-hau dich, ich schwör's!«

»Dudley, halt die …«

WUMM.

Eine Faust traf Harry seitlich am Kopf und riss ihn von den Füßen.

Kleine weiße Lichter tauchten vor seinen Augen auf. Zum zweiten

Mal in einer Stunde hatte Harry das Gefühl, sein Kopf wäre

mittendurch gespalten; im nächsten Moment schlug er hart auf dem

Boden auf und der Zauberstab flog ihm aus der Hand.

»Du Schwachkopf, Dudley!«, schrie Harry. Tränen schossen ihm

in die Augen vor Schmerz, während er sich auf Hände und Knie

hochrappelte und hektisch in der schwarzen Dunkelheit umhertastete.

Er hörte Dudley davonstolpern, gegen den Zaun stoßen, taumeln.

»DUDLEY, KOMM ZURÜCK! DU LÄUFST GENAU DRAUF

ZU!«

Ein fürchterlicher, quietschender Schrei war zu hören und Dudleys

Schritte hielten inne. Im selben Moment spürte Harry eine kriechende

Kälte hinter sich, die nur eines bedeuten konnte. Da war mehr als

einer.

»DUDLEY, MACH NICHT DEN MUND AUF! WAS IMMER

DU TUST, MACH NICHT DEN MUND AUF! Zauberstab!«,

murmelte Harry hektisch, seine Hände huschten über den Boden wie

Spinnen. »Wo ist – Zauberstab – komm schon – lumos!«

Er sprach das Zauberwort unwillkürlich aus, so verzweifelt

brauchte er Licht, das ihm bei der Suche half – und zu seiner

ungläubigen Erleichterung flammte nicht weit von seiner rechten

Hand entfernt Licht auf – die Spitze des Zauberstabs leuchtete. Harry

klaubte ihn auf, rappelte sich hoch und blickte hinter sich.

Ihm drehte sich der Magen um.

- 25 -

Eine mächtige Gestalt, in einen Kapuzenumhang gehüllt, unter

dem weder Füße noch Gesicht zu erkennen waren, glitt sanft über den

Boden schwebend auf ihn zu und sog die Nacht in sich ein.

Harry stolperte zurück und hob den Zauberstab.

»Expecto patronum!«

Ein silbriger Dunstfaden schoss aus der Spitze des Zauberstabs und

der Dementor wurde langsamer, doch der Zauber hatte nicht richtig

gewirkt. Der Dementor neigte sich zu Harry hinunter, und Harry wich,

über seine eigenen Füße strauchelnd, weiter zurück, während Panik

ihm das Gehirn vernebelte – konzentrier dich.

Ein graues, schleimiges, schorfiges Paar Hände glitt aus dem

Umhang des Dementors hervor und langte nach ihm. Ein Rauschen

erfüllte Harrys Ohren.

»Expecto patronum!«

Seine Stimme klang matt und fern. Wieder schwebte ein Faden

silbrigen Rauchs, schwächer als der letzte, aus dem Zauberstab – er

konnte es nicht mehr, der Zauber gelang ihm nicht.

In seinem Kopf erklang ein Lachen, ein schrilles, überdrehtes

Lachen … er konnte den widerlichen, todeskalten Atem des

Dementors riechen, der seine Lungen füllte, ihn ertränkte – denken …

an etwas Glückliches …

Doch es war kein Glück in ihm … die eisigen Finger des

Dementors schlossen sich um seine Kehle – das schrille Lachen wurde

immer lauter, eine Stimme sprach in seinem Kopf: »Verneige dich vor

dem Tod, Harry … er mag sogar schmerzlos sein … ich kann es nicht

wissen … ich bin nie gestorben …«

Er würde Ron und Hermine nie mehr sehen.

Und während er nach Atem rang, traten ihre Gesichter jäh und klar

in sein Bewusstsein.

»EXPECTO PATRONUM!«

Ein gewaltiger silberner Hirsch brach aus der Spitze von Harrys

Zauberstab hervor; seine Geweihenden trafen den Dementor dort, wo

- 26 -

das Herz hätte sein sollen; er wurde zurückgestoßen, schwerelos wie

die Dunkelheit, und als der Hirsch zum Angriff ansetzte, huschte der

Dementor, fledermausgleich, geschlagen davon.

»DORTHIN!«, rief Harry dem Hirsch zu. Er wirbelte herum und

rannte, den leuchtenden Stab erhoben, die Gasse entlang. »DUDLEY?

DUDLEY!«

Er hatte kaum ein Dutzend Schritte getan, da war er schon bei ihm:

Dudley lag zusammengerollt auf dem Boden, die Arme aufs Gesicht

gedrückt. Ein zweiter Dementor kauerte dicht über ihm, umklammerte

mit schleimigen Händen Dudleys Handgelenke, zog sie langsam, fast

liebevoll auseinander und senkte seine Kapuze auf Dudleys Gesicht,

als wollte er ihn küssen.

»PACK IHN!«, brüllte Harry, und mit rauschendem, donnerndem

Lärm kam der silberne Hirsch, den er heraufbeschworen hatte, an ihm

vorbeigaloppiert. Das augenlose Gesicht des Dementors war nur noch

Zentimeter von Dudleys Gesicht entfernt, als das silberne Geweih ihn

erfasste; das Wesen wurde in die Luft geschleudert, und wie sein

Gefährte huschte es davon und verschmolz mit der Dunkelheit; der

Hirsch lief in kurzem Galopp zum Ende der Gasse und löste sich in

silbrigen Dunst auf.

Mond, Sterne und Straßenlaternen erwachten wieder zum Leben.

Eine warme Brise strich durch die Gasse. Bäume raschelten in den

benachbarten Gärten und das alltägliche Geräusch von Autos auf dem

Magnolienring erfüllte wieder die Luft.

Harry stand vollkommen reglos da, mit vibrierenden Sinnen, und

gewöhnte sich an die jäh zurückgekehrte Normalität. Nicht lange,

dann wurde ihm bewusst, dass sein T-Shirt an ihm klebte; er war

schweißnass.

Er konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Dementoren

hier, in Little Whinging.

Dudley lag eingerollt auf dem Boden, wimmernd und zitternd.

Harry beugte sich zu ihm hinunter, um zu sehen, ob er die Kraft hatte

aufzustehen, doch dann hörte er laute, rennende Schritte hinter sich.

Instinktiv hob er erneut den Zauberstab und wirbelte auf den Fersen

herum, bereit, wem auch immer entgegenzutreten.

- 27 -

Mrs. Figg, ihre schrullige alte Nachbarin, kam, schwer atmend, in

Sicht. Ihr grau meliertes Haar löste sich aus dem Haarnetz, ein

klackerndes Einkaufsnetz schwang an ihrem Handgelenk und ihre

Füße steckten mehr schlecht als recht in ihren schottengemusterten

Puschen. Harry wollte seinen Zauberstab rasch verschwinden lassen,

aber …

»Nicht wegstecken, du dummer Junge!«, kreischte sie. »Was, wenn

noch mehr von denen in der Gegend sind? Oh, dieser Mundungus

Fletcher, den bring ich um!«

- 28 -

Eulen über Eulen

»Was?«, sagte Harry verblüfft.

»Er ist fort!«, sagte Mrs. Figg händeringend. »Er ist fort, weil er

sich mit jemand treffen wollte wegen ein paar Kesseln, die von einem

Besen hinten runtergefallen sind! Wenn du jetzt gehst, hab ich zu ihm

gesagt, zieh ich dir bei lebendigem Leib die Haut ab, und jetzt haben

wir's! Dementoren! Ein Glück nur, dass ich Mr. Tibbles auf den Fall

angesetzt habe! Aber was stehen wir hier nochrum! Beeilung, du

musst zurück ins Haus! Oh, das wird Ärger geben! Ich bring ihn um!«

»Aber …« Die Tatsache, dass diese schrullige, katzenvernarrte alte

Nachbarin wusste, was Dementoren waren, versetzte Harry einen

kaum minder großen Schock als die zwei leibhaftigen Exemplare,

denen er eben in der Gasse begegnet war. »Sie sind – Sie sind eine

Hexe?«

»Ich bin eine Squib, wie Mundungus sehr genau weiß, und wie um

alles in der Welt sollte ich dir also helfen, die Dementoren zu

vertreiben? Er hat dich vollkommen ohne Bewachung gelassen,

obwohl ich ihn gewarnt hab …«

»Dieser Mundungus ist mir gefolgt? Ach so – der war das! Er ist

vor meinem Haus disappariert!«

»Ja, ja, ja, aber glücklicherweise hab ich Mr. Tibbles unter einem

Auto postiert, nur für alle Fälle, und Mr. Tibbles kam und hat mich

gewarnt, aber bis ich dann bei euch war, warst du verschwunden – und

jetzt – oh, was wird bloß Dumbledore dazu sagen? Du!«, kreischte sie

Dudley an, der immer noch rücklings in der Gasse lag. »Heb deinen

fetten Hintern, aber schnell!«

»Sie kennen Dumbledore?«, sagte Harry und starrte sie an.

»Natürlich kenn ich Dumbledore, wer kennt Dumbledore nicht?

Aber nun komm schon – ich bin dir keine Hilfe, wenn sie

zurückkommen, ich hab in meinem ganzen Leben noch nicht mal

einen Teebeutel verwandelt.«

- 29 -

Sie bückte sich, packte einen von Dudleys massigen Armen mit

ihren schrumpligen Händen und zerrte daran.

»Steh auf, du nutzloser Kloß, steh auf!«

Aber Dudley konnte oder wollte sich nicht rühren. Er blieb am

Boden liegen, zitternd und aschfahl, den Mund fest zugepresst.

»Ich mach das schon.« Harry nahm Dudleys Arm und zog an ihm.

Unter gewaltiger Mühe schaffte er es, ihn auf die Beine zu hieven.

Dudley schien drauf und dran, ohnmächtig zu werden. Seine kleinen

Augen rollten in ihren Höhlen und Schweiß perlte ihm übers Gesicht;

sobald Harry ihn losließ, fing er bedrohlich an zu wanken.

»Beeilt euch!«, drängelte Mrs. Figg aufgeregt.

Harry legte sich einen von Dudleys massigen Armen über die

Schulter und schleifte ihn, unter dem Gewicht leicht einknickend, zur

Straße. Mrs. Figg wackelte vor ihnen her und spähte ängstlich um die

Ecke.

»Behalt den Zauberstab in der Hand«, ermahnte sie Harry, als sie

den Glyzinenweg betraten. »Das Geheimhaltungsstatut kannst du

vergessen, man wird uns sowieso die Hölle heiß machen, jetzt müssen

wir in den bitteren Kürbis beißen. Von wegen Vernunftgemäße

Beschränkung der Zauberei Minderjähriger … das war genau das, was

Dumbledore befürchtet hat – was ist das am Ende der Straße? Oh, es

ist nur Mr. Prentice … nicht den Zauberstab wegstecken, Junge, hab

ich dir nicht gesagt, dass ich zu nichts nütze bin?«

Es war nicht leicht, den Zauberstab gerade zu halten und zugleich

Dudley mitzuschleppen. Harry versetzte seinem Cousin einen

ungeduldigen Stoß in die Rippen, aber Dudley schien alle Lust

verloren zu haben, sich eigenständig zu bewegen. Er hing wie ein

Sack über Harrys Schulter und seine großen Füße schleiften über den

Boden.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie eine Squib sind, Mrs.

Figg?«, fragte Harry und keuchte vor Anstrengung, Schritt um Schritt

weiterzugehen. »Ich hab Sie doch so oft zu Hause besucht – warum

haben Sie nie was gesagt?«

- 30 -

»Anweisung von Dumbledore. Ich sollte ein Auge auf dich haben,

aber nichts sagen, du warst noch zu jung. Tut mir Leid, dass ich dir

das Leben so schwer gemacht hab, Harry, aber die Dursleys hätten

dich nie zu mir gehen lassen, wenn sie geglaubt hätten, es würde dir

Freude machen. Es war nicht leicht, musst du wissen … aber du meine

Güte«, sagte sie mit tragischer Miene und rang erneut die Hände,

»wenn Dumbledore davon erfährt – wie konnte Mundungus denn nur

weggehen, er sollte doch bis Mitternacht im Dienst sein – wo steckt

er? Wie soll ich Dumbledore mitteilen, was passiert ist? Ich kann nicht

apparieren.«

»Ich hab eine Eule, die können Sie sich ausleihen.« Harry stöhnte

und fragte sich, ob sein Rückgrat unter Dudleys Last brechen würde.

»Harry, du verstehst nicht! Dumbledore wird so schnell wie

möglich handeln müssen, das Ministerium hat seine eigenen

Methoden, um Minderjährigenzauberei festzustellen, die werden's

jetzt schon wissen, das kannst du mir glauben.«

»Aber ich hab mir die Dementoren vom Hals geschafft, ohne

Zauberei ging das nicht – die machen sich doch sicher mehr darüber

Sorgen, was diese Dementoren überhaupt im Glyzinenweg

rumzuschweben hatten?«

»Oh, mein Lieber, ich wünschte, das wäre so, aber ich fürchte –

MUNDUNGUS FLETCHER, ICH BRING DICH UM!«

Es gab einen lauten Knall und ein starker Schnapsgestank,

vermischt mit schalem Tabakgeruch, lag plötzlich in der Luft, als ein

untersetzter, unrasierter Mann in zerschlissenem Mantel vor ihnen

Gestalt annahm. Er hatte kurze Säbelbeine, langes, widerspenstiges

rotbraunes Haar und blutunterlaufene Augen mit schlaffen

Tränensäcken, die ihm den traurigen Ausdruck eines Dackels

verliehen. Er hielt ein silbriges Bündel in der Hand, das Harry sofort

als Tarnumhang erkannte.

»Wa'n los, Figgy?«, sagte er und starrte abwechselnd Mrs. Figg,

Harry und Dudley an. »Nix mehr mit Undercover und so?«

»Ich steck dich gleich undercover!«, schrie Mrs. Figg.

»Dementoren, du nichtsnutziger, drückebergerischer Tagedieb!«

- 31 -

»Dementoren?«, wiederholte Mundungus verdattert. »Dementoren,

hier?«

»Ja, hie r, du wertloser Haufen Fledermausmist!«, kreischte Mrs.

Figg. »Dementoren, die den Jungen angreifen, den du bewachen

sollst!«

»Meine Fresse«, sagte Mundungus matt und blickte von Mrs. Figg

zu Harry und wieder zurück. »Meine Fresse, ich …«

»Und du bist unterwegs, geklaute Kessel kaufen! Hab ich dir nicht

gesagt, du sollst hier bleiben? Oder was?«

»Ich – na ja, ich …« Mundungus schien es äußerst unwohl in

seiner Haut zu sein. »Es – es war die Gelegenheit für 'n richtiges

Schnäppchen, weißt du …«

Mrs. Figg hob den Arm mit dem daran baumelnden Einkaufsnetz

und pfefferte es Mundungus um Gesicht und Nacken; nach dem

Klackern zu schließen, war es voller Katzenfutter.

»Autsch – lass mich – lass mich, du verrückte alte Fledermaus!

Jemand muss es Dumbledore sagen!«

»Ja – allerdings!«, schrie Mrs. Figg und schleuderte das Netz mit

dem Katzenfutter gegen alles, was sie von Mundungus erwischen

konnte. »Und – das – machst – am – besten – du – und – du – kannst –

ihm – auch – gleich – sagen – warum – du – nicht – da – warst – und –

ihm – geholfen – hast!«

»Pass auf dein Haarnetz auf!«, rief Mundungus, duckte sich und

hielt die Arme über den Kopf. »Ich geh ja schon, ich geh ja schon!«

Und mit einem zweiten lauten Knall verschwand er.

»Ich hoffe nur, Dumbledore bringt ihn um!«, sagte Mrs. Figg

wütend. »Nun komm schon, Harry, worauf wartest du?«

Harry beschloss, seine verbleibende Puste nicht damit zu

verschwenden, ihr zu erklären, dass er unter Dudleys Last kaum gehen

konnte. Er hievte den halb ohnmächtigen Dudley ein Stück höher und

wankte weiter.

- 32 -

»Ich bring dich bis zur Tür«, sagte Mrs. Figg, als sie in den

Ligusterweg einbogen. »Nur für den Fall, dass noch mehr von denen

in der Gegend sind … o meine Güte, was für eine Katastrophe … und

du hast sie ganz allein abwehren müssen … und Dumbledore hat

gesagt, wir sollen dich um jeden Preis am Zaubern hindern … nun ja,

zu spät zum Jammern, das Kind ist schon in den Kessel gefallen …

aber der Wichtel ist jetzt auf dem Dach.«

»Also«, keuchte Harry, »hat Dumbledore … mich … beschatten

lassen?«

»Natürlich«, sagte Mrs. Figg ungeduldig. »Hast du geglaubt, er

lässt dich alleine rumstromern, nach dem, was im Juni passiert ist?

Mein Gott, Junge, die haben mir gesagt, du hättest Grips … da sind

wir … geh rein und bleib drin«, sagte sie, als sie Nummer vier

erreichten. »Ich denke, jemand wird sich recht bald bei dir melden.«

»Was machen Sie jetzt?«, fragte Harry rasch.

»Ich geh gleich heim«, sagte Mrs. Figg, spähte die dunkle Straße

entlang und schauderte. »Ich muss auf weitere Anweisungen warten.

Bleib ja im Haus. Gute Nacht.«

»Warten Sie, noch einen Moment! Ich will wissen …«

Aber Mrs. Figg war schon mit schlappenden Puschen und

klackerndem Netz davongetrottet.

»Warten Sie!«, rief ihr Harry nach. Er hatte tausend Fragen an

jeden, der in Verbindung mit Dumbledore stand, doch Sekunden

später hatte die Dunkelheit Mrs. Figg verschluckt. Missmutig rückte

Harry Dudley auf seiner Schulter zurecht und machte sich auf den

langwierigen, schmerzhaften Weg durch den Vorgarten von Nummer

vier.

Im Flur brannte Licht. Harry steckte den Zauberstab in den

Hosenbund seiner Jeans, läutete und sah, wie Tante Petunias Umriss

größer und größer wurde, merkwürdig verzerrt durch das geriffelte

Glas der Haustür.

»Diddy! Wird auch langsam Zeit, ich hab mir schon große – große

– Diddy, was ist mit dir?«

- 33 -

Harry beobachtete Dudley aus den Augenwinkeln und tauchte

gerade noch rechtzeitig unter seinem Arm weg. Dudley schwankte

einen Moment lang, das Gesicht blassgrün … dann öffnete er den

Mund und erbrach sich mitten über die Türmatte.

»DIDDY! Diddy, was ist los mit dir? Vernon? VERNON!«

Harrys Onkel kam aus dem Wohnzimmer gestampft, und wie

immer, wenn er aufgeregt war, flatterte sein Walross-Schnurrbart in

alle Richtungen. Er stürmte vor und half Tante Petunia, den

knieweichen Dudley über die Schwelle zu bugsieren, ohne in die

Pfütze aus Erbrochenem zu treten.

»Er ist krank, Vernon!«

»Was ist los mit dir, mein Sohn? Was ist passiert? Hat Mrs. Polkiss

dir was Ausländisches zum Tee serviert?«

»Warum bist du völlig verdreckt, Liebling? Hast du auf dem

Boden gelegen?«

»Hör mal – du bist doch nicht überfallen worden, oder, mein

Sohn?«

Tante Petunia kreischte.

»Ruf die Polizei, Vernon! Ruf die Polizei! Diddy, Schatz, sag's

Mami! Was haben sie dir angetan?«

In dem ganzen Tumult hatte offenbar niemand Notiz von Harry

genommen und ihm war das gerade recht. Er schaffte es, ins Haus zu

schlüpfen, kurz bevor Onkel Vernon die Tür zuschlug, und während

die Dursleys ihre lärmende Prozession durch den Flur zur Küche

unternahmen, stahl sich Harry vorsichtig und leise zur Treppe.

»Wer war das, mein Sohn? Nenn uns die Namen. Keine Sorge, wir

kriegen sie.«

»Schhh! Er will uns was sagen, Vernon! Was ist es, Diddy? Sag's

Mami!«

Harry hatte den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als Dudley seine

Stimme wiederfand.

»Der da.«

- 34 -

Harry erstarrte – den Fuß auf der Treppe, das Gesicht verzerrt –

und machte sich auf eine Explosion gefasst.

»BURSCHE! KOMM HER!«

Zornig und zugleich voller Angst nahm Harry langsam den Fuß

von der Treppe, drehte sich um und folgte den Dursleys.

Die peinlich saubere Küche hatte nach der Dunkelheit draußen

einen seltsam unwirklichen Glanz. Tante Petunia setzte Dudley auf

einen Stuhl; noch immer wirkte er sehr grün und klamm. Onkel

Vernon stand am Abtropfbrett und funkelte Harry mit kleinen, zu

Schlitzen verengten Augen an.

»Was hast du meinem Sohn getan?«, knurrte er drohend.

»Nichts«, sagte Harry und wusste genau, dass Onkel Vernon ihm

nicht glauben würde.

»Was hat er dir getan, Diddy?«, sagte Tante Petunia mit zitternder

Stimme, während sie Dudley Erbrochenes vorn von seiner Lederjacke

wischte. »War es – war es Du-weißt-schon-was, Liebling? Hat er –

sein Ding benutzt?«

Dudley nickte langsam und schlotterte.

»Hab ich nicht!«, sagte Harry scharf, während Tante Petunia eine

Wehklage anstimmte und Onkel Vernon die Fäuste reckte. »Ich hab

ihm nichts getan, ich war's nicht, es war …«

Doch just in diesem Moment segelte eine Kreischeule durch das

Küchenfenster herein. Sie verfehlte Onkel Vernons Haarspitzen

knapp, schwebte durch die Küche, ließ einen großen

Pergamentumschlag, den sie im Schnabel trug, zu Harrys Füßen

fallen, legte eine elegante Kurve hin, wobei sie mit den Flügelspitzen

sacht den Kühlschrank streifte, sauste wieder hinaus und entschwand

über dem Garten.

»EULEN!«, bellte Onkel Vernon, und die schwer mitgenommene

Ader an seiner Schläfe pulsierte zornig, während er das Küchenfenster

zuschlug. »SCHON WIEDER EULEN! ICH DULDE KEINE EULEN

MEHR IN MEINEM HAUS!«

- 35 -

Doch Harry, dem das Herz irgendwo in der Gegend des

Adamsapfels pochte, riss bereits den Umschlag auf und zog den Brief

heraus.

Sehr geehrter Mr. Potter, wir haben Information erhalten, wonach

Sie den Patronus-Zauber heute Abend um dreiundzwanzig Minuten

nach neun in einem Muggelwohngebiet und in Gegenwart eines

Muggels ausgeführt haben.

Die Schwere dieser Verletzung des Erlasses zur Vernunftgemäßen

Beschränkung der Zauberei Minderjähriger hat zu Ihrem Verweis von

der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei geführt. Beauftragte

des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem Wohnort

aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören.

Da Sie bereits eine offizielle Verwarnung aufgrund eines früheren

Vergehens gemäß Abschnitt 13 des Geheimhaltungsabkommens der

Internationalen Zauberervereinigung erhalten haben, bedauern wir

Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Anwesenheit bei einer

disziplinarischen Anhörung im Zaubereiministerium am zwölften

August um neun Uhr verlangt ist.

In der Hoffnung, dass Sie wohlauf sind,

mit freundlichen Grüßen

Mafalda Hopfkirch

Abteilung für unbefugte Zauberei

Zaubereiministerium

Harry las den Brief zweimal durch. Nur verschwommen nahm er

wahr, dass Onkel Vernon und Tante Petunia redeten. In seinem Kopf

war alles eisig und taub. Eine Tatsache hatte sic h in sein Bewusstsein

gebohrt wie ein lähmender Pfeil. Sie hatten ihn von Hogwarts

verwiesen. Alles war zu Ende. Er würde nie zurückkehren.

Er blickte zu den Dursleys hoch. Onkel Vernon, purpurrot im

Gesicht, die Fäuste immer noch gereckt, schrie andauernd; Tante

Petunia hatte die Arme um Dudley gelegt, der von neuem würgte.

Harrys zeitweilig betäubtes Gehirn schien wieder zu erwachen.

Beauftragte des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem

- 36 -

Wohnort aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören. Da gab es nur

eines. Er musste fliehen – und zwar sofort. Wohin, wusste Harry

nicht, doch so viel war sicher: Ob er in Hogwarts war oder nicht,

seinen Zauberstab brauchte er. Fast traumwandlerisch zog er ihn

heraus und wandte sich zum Gehen.

»Wo willst du hin?«, rief Onkel Vernon. Als Harry nicht

antwortete, stampfte er durch die Küche und versperrte die Tür zum

Flur. »Ich bin noch nicht fertig mit dir, Bursche!«

»Geh mir aus dem Weg«, sagte Harry leise.

»Du bleibst hier und erklärst, wie mein Sohn …«

»Wenn du nicht aus dem Weg gehst, verhex ich dich«, sagte Harry

und hob den Zauberstab.

»Darauf fall ich nicht rein!«, schnarrte Onkel Vernon. »Ich weiß,

dass du ihn nicht außerhalb dieser Beklopptenanstalt benutzen darfst,

die ihr Schule nennt!«

»Die Beklopptenanstalt hat mich rausgeschmissen«, sagte Harry.

»Also kann ich tun, was ich will. Du hast drei Sekunden. Eins – zwei

…«

Ein schallender KNALL erfüllte die Küche. Tante Petunia

kreischte, Onkel Vernon schrie und duckte sich, und zum dritten Mal

an diesem Abend suchte Harry nach dem Ursprung eines Lärms, den

er nicht verursacht hatte. Er sah ihn sofort: Eine Schleiereule saß

draußen auf dem Küchenfenstersims, benommen und zerzaust, da sie

eben gegen das geschlossene Fenster gekracht war.

Harry stürmte durch die Küche, ohne auf Onkel Vernons

ängstlichen »EULEN!«-Schrei zu achten, und riss das Fenster auf. Die

Eule streckte ihr Bein vor, an das eine kleine Pergamentrolle

gebunden war, schüttelte die Federn und flog davon, kaum dass Harry

den Brief geborgen hatte. Mit zitternden Händen entrollte er die

zweite Botschaft, die sehr hastig und verkleckst in schwarzer Tinte

geschrieben war.

Harry …

- 37 -

Dumbledore ist eben im Ministerium eingetroffen und versucht,

alles wieder ms Lot zu bringen. VERLASS DAS HAUS VON

TANTE UND ONKEL NICHT. GEBRAUCH KEINEN ZAUBER

MEHR. GIB DEINEN ZAUBERSTAB NICHT AB. Arthur Weasley.

Dumbledore versuchte alles wieder ins Lot zu bringen … was

sollte das heißen? Hatte Dumbledore Macht genug, das

Zaubereiministerium zum Rückzug zu zwingen? Gab es also eine

Chance, dass er doch nach Hogwarts zurück durfte? Ein kleiner

Hoffnungsfunke flammte in Harrys Brust auf, gleich wieder erstickt

von Panik – wie sollte er sich weigern, seinen Zauberstab abzugeben,

ohne einen Zauber zu gebrauchen? Er würde sich mit den

Ministeriumsleuten duellieren müssen, und wenn er das tat, konnte er

von Glück reden, wenn sie ihn nicht nach Askaban steckten, vom

Rauswurf ganz zu schweigen.

Seine Gedanken rasten … er konnte fliehen und dabei Gefahr

laufen, vom Ministerium geschnappt zu werden, oder aber bleiben und

warten, bis sie ihn hier kriegten. Dann lieber fliehen, aber er wusste,

dass Mr. Weasley nur sein Bestes am Herzen lag … und schließlich

hatte Dumbledore schon viel Schlimmeres wieder eingerenkt.

»Na gut«, sagte Harry. »Ich hab's mir anders überlegt. Ich bleibe.«

Schwungvoll setzte er sich auf einen Stuhl am Küchentisch und sah

Dudley und Tante Petunia geradeheraus an. Den Dursleys schien es

angesichts dieses plötzlichen Sinneswandels die Sprache verschlagen

zu haben. Tante Petunia linste verzweifelt zu Onkel Vernon hinüber.

Die Ader an seiner roten Schläfe pochte heftiger denn je.

»Wo kommen all die verdammten Eulen her?«, knurrte er.

»Die erste war aus dem Zaubereiministerium, die kam mit dem

Rauswurf«, sagte Harry gelassen. Er spitzte die Ohren, um etwaige

Geräusche draußen zu hören. Vielleicht waren ja die

Ministeriumsleute im Anmarsch, und es war einfacher und weniger

lärmträchtig, Onkel Vernons Fragen zu beantworten, als ihn erneut in

brüllende Rage zu versetzen. »Die zweite war vom Vater meines

Freundes Ron, der im Ministerium arbeitet.«

- 38 -

»Zaubereiministerium?«, brüllte Onkel Vernon. »Leute wie ihr in

der Regierung? Oh, das erklärt alles, alles, kein Wunder, dass das

Land vor die Hunde geht.«

Da Harry nicht antwortete, starrte ihn Onkel Vernon funkelnd vor

Zorn an, bevor er wieder losspuckte: »Und wieso haben sie dich

rausgeworfen?«

»Weil ich gezaubert hab.«

»AHA!«, röhrte Onkel Vernon und schlug mit der Faust auf den

Kühlschrank. Die Tür sprang auf und einige von Dudleys

fettreduzierten Snacks kullerten heraus und barsten auf dem Boden.

»Also gibst du es zu! Was hast du Dudle}' angetan?«

»Nichts«, sagte Harry, nicht mehr ganz so gelassen. »Das war ich

nicht …«

»Doch«, murmelte Dudley unerwartet. Onkel Vernon und Tante

Petunia wedelten sofort aufgeregt mit den Händen, um Harry zum

Schweigen zu bringen, und beugten sich tief über Dudley.

»Weiter, mein Sohn«, sagte Onkel Vernon, »was hat er getan?«

»Sag's uns, Liebling«, flüsterte Tante Petunia.

»Seinen Zauberstab auf mich geric htet«, murmelte Dudley.

»Jaah, stimmt, aber ich hab ihn nicht benutzt …«, begann Harry

zornig, doch …

»MAUL HALTEN!«, donnerten Onkel Vernon und Tante Petunia

im Chor.

»Weiter, Sohn«, wiederholte Onkel Vernon mit wild flatterndem

Schnurrbart.

»Alles ist dunkel geworden«, sagte Dudley heiser und

erschauderte. »Alles dunkel. Und dann h-hab ich … Dinge gehört. In

m-meinem Kopf.«

Onkel Vernon und Tante Petunia tauschten von äußerstem

Entsetzen erfüllte Blicke. Wenn es etwas gab, das sie am meisten

verabscheuten, dann war es die Magie – direkt gefolgt von den

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Nachbarn, die beim verbotenen Rasensprengen trickreicher waren als

sie. Aber auch Leute, die Stimmen hörten, waren eindeutig unter den

Top Ten der Missliebigkeiten. Offensichtlich glaubten sie, Dudley

würde den Verstand verlieren.

»Was für Dinge hast du gehört, Schätzchen?«, hauchte Tante

Petunia, ganz weiß im Gesicht und mit Tränen in den Augen.

Doch Dudley schien es nicht sagen zu können. Wieder schauderte

er und schüttelte seinen großen Blondkopf. Trotz des Gefühls von

dumpfem Grauen, das sich seit Ankunft der ersten Eule über Harry

gelegt hatte, spürte er eine gewisse Neugier. Dementoren zwangen

einen Menschen, die schlimmsten Momente seines Lebens noch

einmal zu durchleben. Was hatte wohl ein verzogener und

verhätschelter Quälgeist wie Dudley hören müssen? »Weshalb bist du

hingefallen, Sohn?«, fragte Onkel Vernon mit unnatürlich leiser

Stimme, als ob er am Bett eines sehr kranken Menschen sprechen

würde. »Ge-gestolpert«, sagte Dudley zittrig. »Und dann —« Er fuhr

sich mit der Hand an die massige Brust. Harry begriff. Dudley

erinnerte sich an die klamme Kälte, die einem die Lunge durchdrang,

während die Dementoren Hoffnung und Glück aus einem

heraussogen. »Schrecklich«, krächzte Dudley. »Kalt. Total kalt.«

»Okay«, sagte Onkel Vernon mit gezwungen ruhiger Stimme,

während Tante Petunia ängstlich die Hand auf Dudleys Stirn legte, um

zu fühlen, ob er Fieber hatte. »Was ist dann passiert, Duddy?«

»Mir war … mir war … als ob … als ob … als ob …«

»Als ob du nie mehr glücklich sein würdest«, half Harry tonlos

nach.

»Ja«, flüsterte Dudley unentwegt zitternd.

»So!«, sagte Onkel Vernon, die Stimme zu voller und

beträchtlicher Lautstärke erhoben, und richtete sich auf. »Du hast

meinen Sohn mit irgendeinem verrückten Fluch belegt, damit er

Stimmen hörte und glaubte, er sei – zum Elend verdammt oder so was,

stimmt's?«

»Wie oft muss ich es dir noch erklären?«, sagte Harry und mit der

Wut schwoll auch seine Stimme an. »Ich war es nicht! Es war ein Paar

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Dementoren!« »Ein Paar – was für 'n Quatsch?« »De – men – to –

ren«, sagte Harry langsam und deutlich. »Zwei davon.« »Und was

zum Teufel noch mal sind Dementoren?« »Die bewachen Askaban,

das Zauberergefängnis«, sagte Tante Petunia.

Zwei Sekunden dröhnender Stille traten auf diese Worte hin ein,

dann schlug Tante Petunia die Hand vor den Mund, als ob ihr ein

abscheuliches Schimpfwort entfahren wäre. Onkel Vernon glotzte sie

an. Harry drehte sich alles im Kopf. Mrs. Figg, na gut – aber Tante

Petunia?

»Woher weißt du das?«, fragte er verblüfft. Tante Petunia schien

über sich selbst haltlos entsetzt. Sie äugte in ängstlicher Abbitte zu

Onkel Vernon hinüber, dann ließ sie die Hand ein wenig sinken und

entblößte ihre Pferdezähne. »Ich hab – diesen schlimmen Jungen – vor

Jahren gehört – wie er ihr – davon erzählt hat«, sagte sie stoßweise.

»Wenn du meine Mum und meinen Dad meinst, warum nennst du

sie nicht beim Namen?«, sagte Harry laut, doch Tante Petunia achtete

nicht auf ihn. Sie schien fürchterlich durcheinander zu sein.

Harry war entgeistert. Vor Jahren hatte Tante Petunia einmal einen

Gefühlsausbruch gehabt und geschrien, dass Harrys Mutter eine

Missgeburt gewesen sei, doch seither hatte er sie nie wieder ihre

Schwester erwähnen hören. Dass sie diesen Wissensfetzen über die

magische Welt so lange in Erinnerung behalten hatte, verblüffte ihn,

wo sie doch sonst immer nach Kräften so tat, als existierte diese Welt

überhaupt nicht.

Onkel Vernon öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn

erneut, schloss ihn, und dann, indem er sich offenbar mühselig daran

erinnerte, wie man spricht, öffnete er ihn ein drittes Mal und krächzte:

»Also – die – ähm – gibt's – ähm – wirklich, ja, diese – ähm – Demenwie-

war-das?«

Tante Petunia nickte.

Onkel Vernon sah abwechselnd Tante Petunia und Dudley und

Harry an, als hoffte er, jemand würde »April, April!« rufen. Da es

niemand tat, öffnete er wieder den Mund, doch das Ringen um weitere

Worte wurde ihm erspart durch die Ankunft der dritten Eule an

diesem Abend. Sie schoss wie eine gefiederte Kanonenkugel durch

- 41 -

das immer noch offene Fenster, landete klackernd auf dem

Küchentisch und ließ alle Dursleys vor Schreck zusammenfahren.

Harry zog einen zweiten amtlich wirkenden Umschlag aus dem

Schnabel der Eule und riss ihn auf, während die Eule in die Nacht

entschwebte.

»Mir reicht's mit diesen – ekligen – Eulen«, murmelte Onkel

Vernon verstört, stampfte hinüber zum Fenster und schlug es wieder

zu.

Sehr geehrter Mr. Potter,

in Bezug auf unseren Brief vor annähernd zweiundzwanzig

Minuten hat das Zaubereiministerium seine Entscheidung, Ihren

Zauberstab unverzüglich zu zerstören, aufgehoben. Es ist Ihnen

gestattet, den Zauberstab bis zu Ihrer disziplinarischen Anhörung am

zwölften August zu behalten, bei der eine offizielle Entscheidung

getroffen werden wird. Infolge der Konsultationen mit dem Leiter der

Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei hat das Ministerium sich

einverstanden erklärt, über die Frage Ihres Schulverweises ebenfalls

zu besagtem Termin zu entscheiden. Bis zum Abschluss des

schwebenden Untersuchungsverfahrens sollten Sie sich daher als von

der Schule suspendiert betrachten. Mit den besten Wünschen und

freundlichen Grüßen

Mafalda Hopfkirch

Abteilung für unbefugte Zauberei Zaubereiministerium Harry las

diesen Brief dreimal in rascher Folge durch. Dass er noch nicht

endgültig von der Schule verwiesen war, erleichterte ihn, und der

quälende Knoten in seiner Brust löste sich ein wenig, doch seine

Befürchtungen waren keineswegs gebannt. Alles schien von dieser

Anhörung am zwölften August abzuhängen.

»Nun?«, sagte Onkel Vernon und holte Harry wieder in seine

Umgebung zurück. »Was jetzt? Haben sie dich zu irgendwas

verurteilt? Gibt's bei eurer Sippschaft eigentlich die Todesstrafe?«,

fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»Ich muss zu einer Anhörung«, sagte Harry.

»Und da verurteilen sie dich?«

- 42 -

»Ich nehm an.«

»Dann würd ich nicht die Hoffnung aufgeben«, sagte Onkel

Vernon gehässig.

»Tja, wenn das alles ist«, sagte Harry und stand auf. Er wünschte

sich verzweifelt, endlich alleine zu sein, nachzudenken, vielleicht

einen Brief an Ron, Hermine und Sirius zu schicken.

»NEIN, DAS IST VERDAMMT NOCH MAL NICHT ALLES!«,

blökte Onkel Vernon. »SETZ DICH WIEDER HIN!«

»Was noch?«, fragte Harry unwirsch.

»DUDLEY!«, dröhnte Onkel Vernon. »Ich will genau wissen, was

mit meinem Sohn passiert ist!«

»SCHÖN!«, schrie Harry, und in seiner Wut schossen rote und

goldene Funken aus der Spitze des Zauberstabs, den er immer noch

umklammert hielt. Alle drei Dursleys zuckten mit ängstlichem Blick

zurück.

»Dudley und ich waren in der Gasse zwischen Magnolienring und

Glyzinenweg«, sagte Harry schnell, er konnte nur mühsam seine

Gereiztheit zügeln. »Dudley hat geglaubt, er kann frech werden, ich

hab den Zauberstab gezogen, ihn aber nicht benutzt. Dann sind die

zwei Dementoren aufgetaucht …«

»Aber was SIND denn Dementöre?«, fragte Onkel Vernon fuchsig.

»Was MACHEN die?«

»Ich hab's dir doch gesagt – die saugen alles Glück aus dir raus«,

sagte Harry, »und wenn sie es schaffen, dann küssen sie dich …«

»Küssen mich?«, sagte Onkel Vernon mit leicht vorquellenden

Augen. »Küssen mich?«

»Das nennt man so, wenn sie dir die Seele aus dem Mund saugen.«

Tante Petunia stieß einen leisen Schrei aus.

»Seine Seele? Die haben doch nicht seine – er hat doch noch …«

Sie packte Dudley an den Schultern und schüttelte ihn, wie um zu

prüfen, ob sie seine Seele innen drin scheppern hören konnte.

- 43 -

»Natürlich haben sie seine Seele nicht gekriegt, das würdest du

merken«, sagte Harry genervt.

»Du hast sie fortgejagt, ja, mein Sohn?«, sagte Onkel Vernon laut,

mit der Miene eines Mannes, der versucht das Gespräch auf eine

Ebene zurückzuholen, auf der er mitreden kann. »Hast denen hübsch

eingeschenkt, links, rechts, wie immer?«

»Einem Dementor kann man nicht links, rechts einschenken«, sagte

Harry mit zusammengebissenen Zähnen.

»Und warum ist er dann in Ordnung?«, brauste Onkel Vernon auf.

»Warum ist er dann nicht völlig leer?«

»Weil ich den Patronus …«

WUUSCH. Klackernd, mit Flügelgeflatter und einem kleinen

Staubschauer kam eine vierte Eule aus dem Küchenkamin geschossen.

»UM GOTTES WILLEN!«, röhrte Onkel Vernon und zog große

Haarbüschel aus seinem Schnurrbart, wozu er sich seit langem nicht

mehr hatte hinreißen lassen. »ICH WILL HIER KEINE EULEN

HABEN, ICH WERDE DAS NICHT ZULASSEN, SAG ICH DIR!«

Aber Harry zog schon eine Pergamentrolle vom Bein der Eule. Er

war so überzeugt, dass dieser Brief von Dumbledore sein musste und

alles erklärte – die Dementoren, Mrs. Figg, was das Ministerium

vorhatte, wie er, Dumbledore, alles wieder ins Lot bringen wollte –,

dass er zum ersten Mal im Leben enttäuscht war, Sirius' Handschrift

zu sehen. Er hörte nicht auf Onkel Vernons andauerndes Geschimpfe

über Eulen, kniff stattdessen, weil die bislang letzte Eule gerade

wieder den Schornstein hoch entfleuchte, die Augen vor einer

weiteren Staubwolke zu schmalen Schlitzen zusammen und las Sirius'

Nachricht:

Arthur hat mir eben erzählt, was passiert ist. Was immer du tust,

verlass auf keinen Fall mehr das Haus.

Harry hielt das für eine so unpassende Antwort auf alles, was heute

Abend geschehen war, dass er das Pergamentblatt umdrehte und nach

dem Rest des Briefes suchte, doch da stand nichts weiter.

- 44 -

Und jetzt stieg erneut die Wut in ihm hoch. Konnte nicht

irgendjemand »gut gemacht« sagen, wo er doch zwei Dementoren

eigenhändig in die Flucht geschlagen hatte? Mr. Weasley und Sirius

taten gerade so, als ob er sich danebenbenommen hätte und sie nur

noch abwarteten, bis sie klären konnten, wie viel Schaden er

angerichtet hatte, ehe sie ihn zurechtstutzten.

»… Dieser Käfig – ich meine – dieses Haus ist kein Eulenkäfig.

Damit muss Schluss sein, Bursche, endgültig …«

»Ich kann die Eulen nicht aufhalten«, fauchte Harry und zerknüllte

Sirius' Brief in der Faust.

»Ich will die Wahrheit wissen über das, was heute Abend passiert

ist!«, bellte Onkel Vernon. »Wenn das Dementöre waren, die Dudley

wehgetan haben, warum bist du dann rausgeschmissen worden? Du

hast Du-weißt-schon-was gemacht, du hast es selbst zugegeben!«

Harry tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. Sein Kopf begann

wieder zu schmerzen. Er wollte nichts sehnlicher als aus der Küche

verschwinden, weg von den Dursleys.

»Ich hab den Patronus-Zauber eingesetzt, um die Dementoren

loszuwerden«, sagte er und zwang sich ruhig zu bleiben. »Das ist das

Einzige, was gegen die wirkt.«

»Aber was hatten diese Demontöre überhaupt in Little Whinging

zu suchen?«, sagte Onkel Vernon empört.

»Kann ich dir nicht sagen«, sagte Harry matt. »Keine Ahnung.«

Die gleißenden Lichtleisten ließen seinen Kopf dröhnen.

Allmählich ebbte seine Wut ab. Er fühlte sich ausgelaugt und

erschöpft. Die Dursleys starrten ihn an.

»Wegen dir«, sagte Onkel Vernon auftrumpfend. »Das hat was mit

dir zu tun, Bursche, ich weiß es. Weshalb sollten die sonst hier

auftauchen? Weshalb sollten die sonst in diese Gasse kommen? Du

musst der einzige – der einzige …« Offensichtlich brachte er es nicht

über sich, »Zauberer« zu sagen. »Der einzige Du-weißt-schon-was

meilenweit sein.«

»Ich weiß nicht, warum die hier waren.«

- 45 -

Doch bei Onkel Vernons Worten begann Harrys erschöpftes

Gehirn wieder zu arbeiten. Weshalb waren die Dementoren nach

Little Whinging gekommen? Konnte es wirklich Zufall sein, dass sie

in der Gasse aufgetaucht waren, in der Harry unterwegs war? Hatte

jemand sie geschickt? Hatte das Zaubereiministerium die Kontrolle

über die Dementoren verloren? Hatten sie Askaban verlassen und sich

Voldemort angeschlossen, wie es Dumbledore vorausgesagt hatte?

»Diese Demontöre bewachen irgend so ein Spinnergefängnis?«,

fragte Onkel Vernon nachdenklich, als dümpele er in Harrys

Gedankenstrom.

»Ja«, sagte Harry.

Wenn ihm nur der Kopf nicht mehr wehtun würde, wenn er doch

nur aus der Küche und auf sein dunkles Zimmer gehen und

nachdenken könnte …

»Oho! Die sind gekommen, um dich zu verhaften!«, sagte Onkel

Vernon mit der siegessicheren Miene eines Mannes, der zu einem

unanfechtbaren Schluss gelangt ist. »Das ist es, stimmt's, Bursche? Du

bist auf der Flucht vor dem Gesetz!«

»Natürlich nicht«, erwiderte Harry und schüttelte den Kopf, wie

um eine Fliege zu verscheuchen, während sich seine Gedanken

überschlugen.

»Warum dann …?«

»Er muss sie geschickt haben«, sagte Harry leise, mehr zu sich

selbst als zu Onkel Vernon.

»Was soll das heißen? Wer muss sie geschickt haben?«

»Lord Voldemort«, sagte Harry.

Dumpf bemerkte er, wie seltsam es war, dass die Dursleys, die

zuckten, zitterten und zeterten, wenn sie nur Worte wie »Zauberer«,

»Magie« oder »Zauberstab« hörten, den Namen des bösesten

Zauberers aller Zeiten ohne das leiseste Schaudern ertragen konnten.

»Lord – wart mal«, sagte Onkel Vernon mit angespannter Miene

und in seinen Schweinsäuglein begann es zu dämmern. »Den Namen

hab ich schon mal gehört … das war doch derjenige, der …«

- 46 -

»Meine Eltern umgebracht hat, ja«, sagte Harry.

»Aber der ist weg«, entgegnete Onkel Vernon ungeduldig und

ohne das geringste Zeichen, dass der Mord an Harrys Eltern vielleicht

ein schmerzliches Thema sein könnte. »Dieser riesenhafte Kerl hat es

gesagt. Er ist weg.«

»Er ist zurück«, sagte Harry mit schwerer Stimme.

Es kam ihm unwirklich vor, wie er da in Tante Petunias klinisch

sauberer Küche stand, neben dem Premium-Kühlschrank und dem

Breitbildfernseher, und sich mit Onkel Vernon gelassen über Lord

Voldemort unterhielt. Mit der Ankunft der Dementoren in Little

Whinging schien die große, unsichtbare Mauer durchbrochen worden

zu sein, welche die gnadenlos nichtmagische Welt des Ligusterwegs

und die Welt jenseits von ihr getrennt hatte. Harrys zwei Leben hatten

sich gleichsam verschmolzen und alles war auf den Kopf gestellt; die

Dursleys fragten nach Einzelheiten über die magische Welt und Mrs.

Figg kannte Albus Dumbledore; Dementoren schwirrten in Little

Whinging umher und er selbst würde vielleicht nie mehr nach

Hogwarts zurückkehren. In Harrys Kopf pochte es noch

schmerzhafter.

»Zurück?«, flüsterte Tante Petunia.

Sie sah Harry an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte . Und

schlagartig, zum ersten Mal in seinem Leben, wurde Harry voll und

ganz bewusst, dass Tante Petunia die Schwester seiner Mutter war. Er

hätte nicht sagen können, warum ihn das in diesem Augenblick traf

wie ein heftiger Schlag. Er wusste nur, dass er nicht der einzige

Mensch in der Küche war, der eine leise Ahnung davon hatte, was es

bedeuten könnte, dass Lord Voldemort zurück war. Tante Petunia

hatte ihn noch nie im Leben auf diese Weise angesehen. Ihre großen,

blassen Augen (denen der Schwester so unähnlich) waren nicht in

Abneigung oder Zorn verengt, sie waren geweitet und angsterfüllt.

Die Fassade, die Tante Petunia während all der Zeit mit Harry wild

entschlossen aufrechterhalten hatte – wonach es keine Magie und

keine andere Welt als die gab, die sie mit Onkel Vernon bewohnte –,

diese Fassade war offenbar zusammengebrochen.

- 47 -

»Ja«, sagte Harryjetzt direkt an Tante Petunia gewandt. »Er ist vor

einem Monat zurückgekehrt. Ich hab ihn gesehen.«

Ihre Hände suchten Dudleys massige, lederbewehrte Schultern und

klammerten sich daran fest.

»Wart mal«, sagte Onkel Vernon und blickte abwechselnd seine

Frau und Harry an, durch das unerhörte Verständnis, das zwischen den

beiden erwacht war, offenbar völlig verdattert und konfus. »Wart mal.

Dieser Lord Waldimord ist zurück, sagst du.«

»Ja.«

»Der deine Eltern umgebracht hat.«

»Ja.«

»Und jetzt jagt er dir Demontoren auf den Hals?«

»Sieht so aus«, sagte Harry.

»Verstehe«, sagte Onkel Vernon, blickte von seiner bleichen Frau

zu Harry und zog sich die Hosen zurecht. Er schien anzuschwellen,

sein großes, purpurrotes Gesicht schien vor Harrys Augen immer

breiter zu werden. »Nun, damit ist der Fall klar«, sagte er, und sein

Hemd spannte sich, während er sich aufplusterte. »Du kannst aus

diesem Haus verschwinden, Bursche!«

»Was?«, sagte Harry.

»Du hast mich gehört – RAUS!«, bellte Onkel Vernon und selbst

Tante Petunia und Dudley schraken zusammen. »RAUS! RAUS! Das

hätt ich schon vor Jahren tun sollen! Eulen betrachten mein Haus als

Erholungsheim, Nachspeisen explodieren, das halbe Wohnzimmer

wird demoliert, Dudleys Schwanz, Magda hüpft an der Decke rum

und dieser fliegende Ford Anglia – RAUS! RAUS! Das reicht jetzt!

Du kannst verschwinden! Du wirst nicht hier bleiben, wenn irgendein

Irrer hinter dir her ist, du wirst meine Frau und meinen Sohn nicht

gefährden und du wirst uns keine Scherereien machen. Wenn du den

gleichen Weg gehst wie deine nutzlosen Eltern, dann soll's mir recht

sein! RAUS!«

Harry stand da wie angewurzelt. Die Briefe vom Ministerium, von

Mr. Weasley und Sirius steckten zerknüllt in seiner linken Hand. Was

- 48 -

immer du tust, verlass auf keinen Fall mehr das Haus. VERLASS

DAS HAUS VON TANTE UND ONKEL NICHT.

»Du hast mich verstanden!«, sagte Onkel Vernon und beugte sich

vor, bis sein feistes purpurrotes Gesicht dem von Harry so nahe kam,

dass er tatsächlich Spucketröpfchen auf der Haut spürte. »Auf geht's!

Vor 'ner halben Stunde warst du noch ganz wild drauf, abzuhauen!

Nur zu! Raus hier, und setz nie wieder einen Fuß auf unsere

Türschwelle! Keine Ahnung, warum wir dich überhaupt

aufgenommen haben, Magda hatte Recht, du hättest ins Waisenhaus

gehört. Wir waren verflucht noch mal zu nachgiebig, haben nicht an

uns gedacht, meinten, wir könnten's aus dir rausquetschen, meinten,

wir könnten einen normalen Jungen aus dir machen, aber du warst von

Anfang an verdorben, und ich hab die Schnauze voll – Eulen!«

Die fünfte Eule stieß den Kamin herab, so schnell, dass sie erst

einmal auf den Boden krachte, bevor sie mit einem lauten Schrei

wieder in die Luft flatterte. Harry hob die Hand, um den Brief zu

schnappen, der in einem scharlachroten Umschlag steckte, doch er

schwebte direkt über seinen Kopf hinweg und auf Tante Petunia zu,

die aufschrie, die Arme übers Gesicht hielt und sich wegduckte. Die

Eule ließ den roten Umschlag auf ihren Kopf fallen, machte kehrt und

flog geradewegs den Kamin wieder hoch.

Harry stürzte vor, um den Brief aufzuheben, doch Tante Petunia

war schneller.

»Du kannst ihn aufmachen, wenn du willst«, sagte Harry, »aber ich

hör trotzdem, was drinsteht. Das ist ein Heuler.«

»Lass ihn los, Petunia«, donnerte Onkel Vernon. »Rühr ihn nicht

an, er könnte gefährlich sein!«

»Er ist an mich adressiert«, sagte Tante Petunia mit zitternder

Stimme. »Er ist an mich adressiert, Vernon, sieh nur! Mrs. Petunia

Dursley, Die Küche, Ligusterweg Nummer vier …«

Sie hielt den Atem an, starr vor Entsetzen. Der rote Umschlag hatte

zu kokeln begonnen.

»Mach ihn auf!«, drängte Harry. »Bring's hinter dich. Es passiert

sowieso.«

- 49 -

»Nein.«

Tante Petunias Hand zitterte. Sie blickte wild in der Küche umher,

als ob sie nach einem Fluchtweg suchte, doch zu spät – der Umschlag

ging in Flammen auf. Tante Petunia kreischte und ließ ihn fallen.

Eine schreckliche Stimme, die aus dem brennenden Brief auf dem

Tisch drang, erfüllte die Küche und hallte in dem engen Raum wider.

»Denk an meinen letzten, Petunia.«

Tante Petunia schien am Rande der Ohnmacht. Sie sank, das

Gesicht in den Händen, auf den Stuhl neben Dudley. In der Stille

verschmorten die Überreste des Umschlags zu Asche.

»Was ist das?«, sagte Onkel Vernon heiser. »Was – was soll das –

Petunia?« Tante Petunia schwieg. Dudley starrte stumpfsinnig und mit

offenem Mund seine Mutter an. Die Stille schraubte sich ins

Unerträgliche. Völlig entgeistert und mit zum Bersten hämmerndem

Kopf beobachtete Harry seine Tante. »Petunia, Liebling?«, sagte

Onkel Vernon ängstlich. »P-Petunia?« Sie hob den Kopf. Sie zitterte

noch immer. Sie schluckte. »Der Junge – der Junge muss hier bleiben,

Vernon«, sagte sie matt. »W-was?« »Er bleibt«, sagte sie. Sie sah

Harry nicht an. Sie stand auf. »Er … aber Petunia …« »Wenn wir ihn

rauswerfen, reden die Nachbarn«, sagte sie. Rasch gewann sie ihre

übliche forsche, bissige Art zurück, auch wenn sie immer noch sehr

blass war. »Die werden peinliche Fragen stellen und wissen wollen,

wo er hin ist. Wir müssen ihn behalten.«

Onkel Vernon entwich die Luft wie einem alten Reifen.

»Aber Petunia – Liebling …«

Tante Petunia achtete nicht auf ihn. Sie wandte sich an Harry.

»Du bleibst in deinem Zimmer«, sagte sie. »Du verlässt das Haus

nicht. Jetzt geh zu Bett.« Harry rührte sich nicht. »Von wem war

dieser Heuler?« »Stell keine Fragen«, schnappte Tante Petunia. »Hast

du Verbindung zu Zauberern?« »Ich hab dir doch gesagt, du sollst zu

Bett gehen!«

»Was sollte das heißen? Denk an meinen letzten – was?«

»Geh zu Bett!«

- 50 -

»Wieso?«

»DU HAST GEHÖRT, WAS DEINE TANTE GESAGT HAT,

JETZT GEH ZU BETT!«

- 51 -

Die Vorhut

Ich bin gerade von Dementoren angegriffen worden und werde

vielleicht von Hogwarts verwiesen. Ich will wissen, was vor sich geht

und wann ich hier rauskomme.

Harry schrieb diese Worte auf drei verschiedene Pergamentblätter,

sobald er den Schreibtisch in seinem dunklen Zimmer erreicht hatte.

Er adressierte das erste Blatt an Sirius, das zweite an Ron und das

dritte an Hermine. Hedwig, seine Eule, war draußen auf Jagd; ihr

Käfig stand leer auf dem Tisch. Harry ging im Zimmer auf und ab und

wartete auf ihre Rückkehr, mit hämmerndem Kopf, das Gehirn zu

wach zum Schlafen, obwohl ihm die Augen tränten und brannten vor

Müdigkeit. Sein Rücken tat weh von der Anstrengung, Dudley nach

Haus zu schleppen, und die zwei Beulen am Kopf, wo das Fenster und

Dudleys Faust ihn getroffen hatten, pochten schmerzhaft.

Immer wieder ging er im Zimmer auf und ab, zornig und

enttäuscht, knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und warf jedes

Mal, wenn er am Fenster vorbeikam, wütende Blicke hinaus auf den

leeren, sternübersäten Himmel. Dementoren waren hinter ihm her,

Mrs. Figg und Mundungus Fletcher beschatteten ihn heimlich, dann

ein vorläufiges Schulverbot für Hogwarts und eine Anhörung im

Zaubereiministerium – und immer noch sagte ihm keiner, was

eigentlich los war.

Und worum, worum war es bei diesem Heuler gegangen? Wessen

Stimme war so grausig, so bedrohlich durch die Küche gehallt?

Warum saß er immer noch ohne Neuigkeiten hier fest?

Warum behandelten ihn alle wie ein ungezogenes Kind? Gebrauch

keinen Zauber mehr, bleib im Haus …

Im Vorbeigehen trat er gegen seinen Schulkoffer, was jedoch

keineswegs seinen Zorn linderte, es ging ihm nur noch schlechter,

weil ihm neben all den anderen Schmerzen in seinem Körper jetzt

auch noch ein heftiges Stechen im Zeh zu schaffen machte.

- 52 -

Gerade war er am Fenster vorbeigehumpelt, da schwebte Hedwig,

leise mit den Flügeln raschelnd, wie ein kleines Gespenst herein.

»Wird auch Zeit«, fauchte Harry, als sie sanft auf ihrem Käfig

landete. »Leg den weg, ich hab Arbeit für dich!«

Hedwigs große, runde Bernsteinaugen starrten ihn vorwurfsvoll

über den toten Frosch in ihrem Schnabel hinweg an.

»Komm her«, sagte Harry, nahm die drei kleinen Pergamentrollen

und einen Lederriemen und schnürte die Rollen an ihrem schuppigen

Bein fest. »Bring die sofort zu Sirius, Ron und Hermine, und komm

nicht ohne gute, ausführliche Antworten zurück. Hack auf ihnen rum,

wenn nötig, bis sie ordentlich lange Antworten geschrieben haben.

Verstanden?«

Hedwig, immer noch den Frosch im Schnabel, stieß einen

erstickten Schrei aus.

»Na dann los«, sagte Harry.

Sie flog auf der Stelle davon. Kaum war sie verschwunden, ließ

sich Harry ohne sich auszuziehen aufs Bett fallen und starrte hoch an

die dunkle Decke. Elend, wie ihm ohnehin schon zumute war, fühlte

er sich jetzt auch noch schuldig, dass er gemein zu Hedwig gewesen

war; sie war die einzige Freundin, die er im Ligusterweg Nummer vier

hatte. Er wollte es wieder gutmachen, wenn sie mit den Antworten

von Sirius, Ron und Hermine zurückkam.

Sie mussten unbedingt schnellstens antworten; einen

Dementorenangriff konnten sie unmöglich ignorieren. Wahrscheinlich

würde er morgen aufwachen und drei dicke Briefe voller Mitgefühl

und Pläne für einen sofortigen Umzug in den Fuchsbau vorfinden.

Und bei dieser tröstlichen Vorstellung wogte der Schlaf über ihn hin

und ertränkte alle weiteren Gedanken.

Doch Hedwig kehrte am nächsten Morgen nicht zurück. Harry

verbrachte den Tag in seinem Zimmer und verließ es nur, um ins Bad

zu gehen. Dreimal schob Tante Petunia an diesem Tag Essen durch

die Katzenklappe, die Onkel Vernon drei Sommer zuvor angebracht

hatte. Jedes Mal wenn Harry sie kommen hörte, machte er den

Versuch, von ihr etwas über den Heuler zu erfahren, aber er hätte

- 53 -

genauso gut den Türknauf befragen können, so viel Auskunft bekam

er. Ansonsten hielten sich die Dursleys völlig seinem Zimmer fern.

Harry wiederum hielt es für sinnlos, ihnen seine Gesellschaft

aufzuzwingen. Noch ein Streit würde nichts bewirken und ihn

womöglich so in Rage versetzen, dass er schon wieder rechtswidrige

Zauber gebrauchte.

So ging es ganze drei Tage lang. Mal war Harry von einer rastlosen

Energie durchdrungen, die es ihm unmöglich machte, sich mit etwas

zu beschäftigen, die ihn durchs Zimmer trieb, voll Wut auf die ganze

Bagage, die sich nicht um ihn scherte und ihn jetzt in seinem Elend

schmoren ließ; dann wieder erfasste ihn eine so ausweglose Trägheit,

dass er eine geschlagene Stunde auf dem Bett liegen konnte, benebelt

ins Leere starrend und gepeinigt von Angst vor der Anhörung im

Ministerium.

Was, wenn sie ihn verurteilten? Was, wenn sie ihn tatsächlich

rauswarfen und seinen Zauberstab entzweibrachen? Was sollte er dann

machen, wohin sollte er gehen? Jetzt, da er die andere Welt kannte,

die Welt, in die er wirklich gehörte, konnte er nicht einfach so bei den

Dursleys weiterleben. Konnte er vielleicht in Sirius' Haus ziehen, wie

Sirius es ihm vor einem Jahr vorgeschlagen hatte, bevor ihn das

Ministerium zur Flucht gezwungen hatte? Würde man Harry gestatten,

dort allein zu leben, obwohl er doch immer noch minderjährig war?

Oder würde man bald für ihn entscheiden, wohin er zu gehen hätte?

War seine Verletzung des Internationalen Geheimhaltungsabkommens

so schwer gewesen, dass er in einer Zelle in Askaban landen würde?

Immer wenn er daran dachte, glitt Harry unwillkürlich vom Bett und

ging erneut im Zimmer auf und ab.

Es war die vierte Nacht, seit Hedwig fort war, Harry lag wieder

einmal stumpf und teilnahmslos auf dem Bett und starrte erschöpft

und mit vollkommen leerem Kopf an die Decke, als sein Onkel ins

Zimmer trat. Harry drehte sich langsam zu ihm um. Onkel Vernon

trug seinen besten Anzug und eine mächtig blasierte Miene.

»Wir gehen aus«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Wir – das heißt deine Tante, Dudley und ich – wir gehen aus.«

- 54 -

»Schön«, sagte Harry dumpf und sah wieder zur Decke.

»Du bleibst in deinem Zimmer, während wir weg sind.«

»Okay.«

»Du rührst den Fernseher, die Stereoanlage und auch keine anderen

Sachen von uns an.«

»Gut.«

»Du stiehlst kein Essen aus dem Kühlschrank.«

»Okay.«

»Ich schließe deine Tür ab.«

»Tu das.«

Onkel Vernon, offenbar argwöhnisch, weil Harry sich nicht

wehrte, warf ihm einen bösen Blick zu, dann stampfte er aus dem

Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Harry hörte, wie sich der

Schlüssel im Schloss drehte und Onkel Vernon schweren Schrittes die

Treppe hinunterging. Ein paar Minuten später hörte er Autotüren

knallen, einen Motor aufbrummen und das unverwechselbare

Geräusch eines Autos, das aus der Einfahrt brauste.

Dass die Dursleys wegfuhren, kümmerte Harry nicht sonderlich.

Ihm war es gleichgültig, ob sie zu Hause waren oder nicht. Er brachte

nicht einmal die Kraft auf, vom Bett aufzustehen und das Licht

anzumachen. Im Zimmer wurde es allmählich dunkel, und er kg da

und lauschte den nächtlichen Geräuschen, die durchs Fenster wehten,

das er immer offen ließ in der sehnlichen Hoffnung, Hedwig würde

endlich zurückkehren.

Das leere Haus knarzte um ihn her. Die Rohre gurgelten. Harry lag

wie betäubt da, in Trübsal versunken, und dachte an nichts.

Dann, ganz deutlich, hörte er unten in der Küche ein Klirren.

Schlagartig saß er kerzengerade im Bett und lauschte angestrengt.

Die Dursleys konnten noch nicht zurück sein, es war viel zu früh und

außerdem hatte er ihren Wagen nicht gehört.

Für einige Sekunden trat Stille ein, dann vernahm er Stimmen.

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Einbrecher, dachte er und glitt vom Bett – doch eine Sekunde

später schoss ihm durch den Kopf, dass Einbrecher leise reden

würden, und wer immer sich in der Küche herumtrieb, machte sich

offenbar darüber keine Gedanken.

Er griff nach seinem Zauberstab auf dem Nachttisch, fixierte reglos

die Zimmertür und lauschte, so gut er konnte. Im nächsten Moment

zuckte er zusammen, als das Schloss laut klickte und seine Tür

aufschwang.

Harry blieb starr stehen, spähte durch die offene Tür auf den

dunklen oberen Treppenabsatz und horchte angespannt nach weiteren

Geräuschen, doch er hörte nichts. Nach kurzem Zögern huschte er

geräuschlos aus dem Zimmer zur Treppe hinaus.

Das Herz sprang ihm bis an die Kehle. Unten, im düsteren Flur,

standen Leute. Die Straßenbeleuchtung, die durch die Glastür

schimmerte, ließ nur ihre Umrisse erkennen; acht oder neun waren es,

und soweit er sehen konnte, blickten alle zu ihm hoch.

»Den Zauberstab runter, Junge, bevor du jemandem das Auge

ausstichst«, sagte eine dunkle, knurrende Stimme.

Harrys Herz fing wild an zu klopfen. Er kannte diese Stimme, aber

den Zauberstab ließ er nicht sinken.

»Professor Moody?«, sagte er unsicher.

»Den ›Professor‹ lass mal stecken«, knurrte die Stimme, »bin nie

groß zum Unterrichten gekommen, oder? Nun aber runter hier, wir

wollen dich richtig sehen.«

Harry ließ den Zauberstab ein wenig sinken, hielt ihn aber weiter

fest umklammert und rührte sich auch nicht. Er hatte allen Grund,

misstrauisch zu sein. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er neun

Monate in der vermeintlichen Gesellschaft von Mad-Eye Moody

verbracht, um schließlich festzustellen, dass es überhaupt nicht Moody

gewesen war, sondern ein Doppelgänger; ein Doppelgänger überdies,

der Harry hatte töten wollen, bevor er enttarnt wurde. Doch ehe Harry

wusste, was er als Nächstes tun sollte, schwebte eine zweite, ein

wenig heisere Stimme treppauf.

»Schon in Ordnung, Harry. Wir sind hier, um dich abzuholen.«

- 56 -

Harrys Herz machte einen Satz. Auch diese Stimme kannte er,

obwohl er sie seit über einem Jahr nicht mehr gehört hatte.

»P-Professor Lupin?«, sagte er ungläubig. »Sind Sie das?«

»Warum stehen wir alle im Dunkeln rum?«, sagte eine dritte

Stimme, diesmal eine gänzlich unvertraute, die einer Frau. »Lumos.«

Die Spitze eines Zauberstabs flammte auf und tauchte den Flur in

magisches Licht. Harry blinzelte. Die Leute unten standen dicht

beieinander am Fuß der Treppe und spähten gebannt zu ihm hoch,

manche reckten den Kopf, um ihn besser zu sehen.

Remus Lupin stand ihm am nächsten. Er sah immer noch recht

jung aus, wirkte aber müde und angeschlagen; seit Harry sich das

letzte Mal von ihm verabschiedet hatte, hatte er noch mehr graue

Haare bekommen, sein Umhang hatte einige zusätzliche Flicken und

war schäbiger denn je. Dennoch lächelte er Harry breit an, und Harry

versuchte, so erschrocken er auch war, das Lächeln zu erwidern.

»Oooh, er sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hab«,

sagte die Hexe, die den leuchtenden Zauberstab emporhielt. Sie schien

die Jüngste dort unten zu sein und hatte ein blasses, herzförmiges

Gesicht, dunkle, funkelnde Augen und kurzes Stachelhaar in wildem

Violett. »Schön, dich zu sehen, Harry!«

»Ja, jetzt versteh ich, was du meinst, Remus«, sagte ein

kahlköpfiger schwarzer Zauberer, der ganz hinten stand – er hatte eine

tiefe, bedächtige Stimme und trug einen goldenen Ring im Ohr – »er

sieht genau wie James aus.«

»Nur die Augen nicht«, sagte ein silberhaariger Zauberer mit

pfeifender Stimme. »Lilys Augen.«

Mad-Eye Moody hatte langes grau meliertes Haar und an seiner

Nase fehlte ein großes Stück; mit seinen ungleichen Augen schielte er

Harry argwöhnisch an. Das eine Auge war klein, dunkel und

perlschimmernd, das andere groß, rund und strahlend blau – es war

das magische Auge, das durch Wände, Türen und in Moodys eigenen

Kopf hineinsehen konnte.

»Bist du ganz sicher, dass er's ist, Lupin?«, knurrte er. »War doch

'ne schöne Bescherung, wenn wir 'nen Todesser mitbringen würden,

- 57 -

der seine Gestalt angenommen hat. Wir sollten ihn was fragen, das nur

der echte Potter wissen kann. Oder hat jemand zufällig Veritaserum

dabei?«

»Harry, welche Gestalt nimmt dein Patronus an?«, fragte Lupin.

»Die von einem Hirsch«, sagte Harry nervös.

»Er ist es, Mad-Eye«, sagte Lupin.

Während er deutlich spürte, dass er immer noch von allen

angestarrt wurde, stieg Harry die Treppe hinunter und schob

unterwegs den Zauberstab in die hintere Tasche seiner Jeans.

»Steck den Zauberstab nicht da rein, Junge«, donnerte Moody.

»Was, wenn er losgeht? Gab schon bessere Zauberer als dich, die 'ne

Pobacke verloren haben, sag ich dir!«

»Wen kennst du, der 'ne Pobacke verloren hat?«, fragte die Frau

mit den violetten Haaren neugierig.

»Tut jetzt nichts zur Sache, der Zauberstab gehört jedenfalls nicht

in die Hosentasche!«, knurrte Mad-Eye. »Die einfachsten

Sicherheitsregeln, und keinen kümmert's heutzutage mehr.« Er

stampfte zur Küche hinüber. »Und das hab ich auch gesehen«, setzte

er säuerlich hinzu, als die Frau die Augen verdrehte.

Lupin trat vor und schüttelte Harry die Hand.

»Wie geht's dir?«, fragte er und musterte ihn aufmerksam.

»G-gut …«

Harry konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah. Vier

Wochen lang nichts, nicht die kleinste Andeutung eines Plans, ihn aus

dem Ligusterweg zu holen, und plötzlich stand da eine ganze Horde

Zauberer völlig gelassen bei ihm im Haus, als wäre das alles schon

lange so verabredet gewesen. Er musterte die Leute um Lupin

flüchtig; sie starrten ihn immer noch begierig an. Ihm wurde peinlich

bewusst, dass er seit vier Tagen seine Haare nicht mehr gekämmt

hatte.

»Ich – ihr habt wirklich Glück, dass die Dursleys nicht da sind …«,

murmelte er.

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»Glück, ha!«, sagte die Frau mit den violetten Haaren.

»Weggelockt hab ich sie. Hab ihnen per Muggelpost einen Brief

geschickt, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie in der Endauswahl

im Wettbewerb um den bestgepflegten Kleinstadtrasen Englands sind.

Sie sind gerade auf dem Weg zur Preisverleihung … oder glauben das

wenigstens.«

Harry sah undeutlich Onkel Vernons Gesicht vor sich, in dem

Moment, da diesem klar wurde, dass es keinen Wettbewerb um den

bestgepflegten Kleinstadtrasen Englands gab.

»Wir gehen weg von hier, ja?«, fragte er. »Bald?«

»Jeden Moment«, sagte Lupin, »wir warten nur noch auf das

Okay.«

»Wo gehen wir hin? Zum Fuchsbau?«, fragte Harry hoffnungsvoll.

»Nein, nicht zum Fuchsbau«, sagte Lupin und wies Harry in

Richtung Küche; die kleine Schar Zauberer, die Harry noch immer

neugierig beäugte, folgte ihnen. »Zu riskant. Wir haben das

Hauptquartier an einem unaufspürbaren Ort aufgeschlagen. Das hat

uns einige Zeit gekostet …«

Mad-Eye Moody hockte inzwischen am Küchentisch und trank mit

kräftigen Schlucken aus einem Flachmann, rollte sein Auge in alle

Richtungen und begutachtete die vielen arbeitssparenden

Gerätschaften der Dursleys.

»Das ist Alastor Moody, Harry«, sagte Lupin und wies auf Moody.

»Ja, weiß ich«, sagte Harry unangenehm berührt. Es mutete ihn

seltsam an, jemandem vorgestellt zu werden, den er ein Jahr lang zu

kennen geglaubt hatte.

»Und das ist Nymphadora …«

»Nenn mich nicht Nymphadora, Remus«, sagte die junge Hexe

schaudernd, »nur Tonks.«

»Nymphadora Tonks, die lieber nur bei ihrem Nachnamen genannt

sein will«, schloss Lupin.

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»Das war dir auch lieber, wenn deine Närrin von Mutter dich

Nymphadora getauft hätte«, murmelte Tonks.

»Und das ist Kingsley Shacklebolt.« Er deutete auf den großen

schwarzen Zauberer, der sich verbeugte. »Elphias Doge.« Der

Zauberer mit der pfeifenden Stimme nickte. »Dädalus Diggel …«

»Wir kennen uns schon«, quiekte der quirlige Diggel und der

violette Zylinder fiel ihm vom Kopf.

»Emmeline Vance.« Eine stämmig wirkende Hexe mit

smaragdgrünem Schal verneigte sich. »Sturgis Podmore.« Ein

Zauberer mit kantigem Unterkiefer und dichtem strohblondem Haar

zwinkerte. »Und Hestia Jones.« Eine schwarzhaarige Hexe mit rosa

Wangen, die neben dem Toaster stand, winkte herüber.

Harry nickte allen, wie sie der Reihe nach vorgestellt wurden,

verlegen zu. Er wünschte, sie würden jemand anderen ansehen – ihm

war zumute, als wäre er plötzlich auf eine Bühne geschoben worden.

Außerdem fragte er sich, warum so viele von ihnen hier waren.

»Es haben sich überraschend viele freiwillig gemeldet, um dich

abzuholen«, sagte Lupin, als hätte er Harrys Gedanken gelesen; seine

Mundwinkel zuckten leicht.

»Tja, je mehr, desto besser«, sagte Moody finster. »Wir sind deine

Leibgarde, Potter.«

»Wir warten nur noch auf das Signal, dass es sicher ist,

aufzubrechen«, sagte Lupin und warf einen Blick aus dem

Küchenfenster. »Wir haben noch etwa fünfzehn Minuten.«

»Sehr reinlich, nicht wahr, diese Muggel?«, sagte die Hexe namens

Tonks, die sich mit großem Interesse in der Küche umsah. »Mein Dad

ist ein Muggelstämmiger und er ist 'ne richtige alte Pottsau. Ist wohl

ganz unterschiedlich, genau wie bei Zauberern?«

»Ähm – ja«, sagte Harry. »Hören Sie …«, er wandte sich wieder

an Lupin, »was ist eigentlich los, mir hat keiner was gesagt, was

macht Vol…?«

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Ein paar Hexen und Zauberer stießen merkwürdige Zischgeräusche

aus; Dädalus Diggel fiel wieder der Zylinder herunter und Moody

knurrte: »Sei still!«

»Was?«, sagte Harry.

»Hier wird nichts beredet, das ist zu riskant«, sagte Moody und

drehte sein normales Auge Harry zu. Sein magisches Auge war auf die

Decke gerichtet. »Verfluchtes Ding«, fügte er zornig hinzu und fuhr

mit der Hand an das Auge, »bleibt dauernd stecken – seit dieser

Schweinehund es getragen hat.«

Und mit einem widerlichen Glucksgeräusch, ganz ähnlich dem

eines Stöpsels, der aus dem Waschbecken gezogen wird, quetschte er

sein Auge heraus.

»Mad-Eye, du weißt, dass das eklig ist, ja?«, sagte Tonks

nachsichtig.

»Hol mir doch mal ein Glas Wasser, Harry«, verlangte Moody.

Harry ging hinüber zum Geschirrspüler, nahm ein sauberes Glas

heraus und füllte es am Küchenbecken mit Wasser, immer noch

neugierig beobachtet von der Zaubererschar. Ihr dauerndes Starren

ging ihm allmählich auf die Nerven.

»Danke«, sagte Moody, als Harry ihm das Glas reichte. Er ließ den

magischen Augapfel ins Wasser fallen und stupste ihn auf und ab; das

Auge wirbelte umher und starrte sie alle der Reihe nach an. »Auf der

Rückreise will ich dreihundertsechzig Grad Sicht haben.«

»Wie kommen wir hin – wohin auch immer?«, fragte Harry.

»Besen«, sagte Lupin. »Geht nicht anders. Du bist zu jung zum

Apparieren, die werden das Flohnetzwerk überwachen, und wir wären

lebensmüde, wenn wir einen nicht genehmigten Portschlüssel

aufbauen würden.«

»Remus meint, du kannst gut fliegen«, sagte Kingsley Shacklebolt

mit seiner tiefen Stimme.

»Blendend«, warf Lupin ein und sah auf die Uhr. »Jedenfalls gehst

du jetzt besser und packst deine Sachen, Harry, wir wollen startbereit

sein, wenn das Signal kommt.«

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»Ich komm mit und helf dir«, sagte Tonks und strahlte.

Sie folgte Harry hinaus auf den Flur und die Treppe hoch und sah

sich neugierig und interessiert um.

»Komisches Haus«, sagte sie. »Ein bisschen zu sauber, wenn du

mich fragst. Bisschen unnatürlich. Oh, das ist besser«, fügte sie hinzu,

als sie Harrys Zimmer betraten und er das Licht anmachte.

Sein Zimmer war tatsächlich viel unordentlicher als das übrige

Haus. Vier Tage war er schlecht gelaunt eingesperrt gewesen und

hatte sich nicht die Mühe gemacht aufzuräumen. Die meisten Bücher,

die er besaß, lagen auf dem Boden verstreut, überall dort, wo er

versucht hatte, sich mit einem nach dem anderen abzulenken, und sie

dann beiseite geworfen hatte; Hedwigs Käfig fing an zu muffeln und

musste geputzt werden; sein Koffer lag offen da und um ihn herum ein

Sammelsurium von Muggelklamotten und Zaubererumhängen, die er

auf den Boden geschmissen hatte.

Harry fing an, seine Bücher aufzulesen und sie hastig in den Koffer

zu werfen. Tonks hielt am offenen Schrank inne und betrachtete sich

kritisch im Spiegel an der Innenseite der Tür.

»Ehrlich gesagt, ich glaub nicht, dass Violett wirklich zu mir

passt«, sagte sie nachdenklich und zupfte an einem Büschel

Stachelhaar. »Findest du nicht, ich seh damit 'n bisschen ungesund

aus?«

»Ähm …«, sagte Harry und blickte über den Rand von Quidditch-

Mannschaften Britanniens und Irlands zu ihr hoch.

»Ja, eindeutig«, sagte Tonks bestimmt. Sie kniff die Augen mit

angestrengter Miene zusammen, als versuchte sie sich mühsam an

etwas zu erinnern. Eine Sekunde später war ihr Haar bonbonrosa.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Harry und starrte sie mit

offenem Mund an, während sie die Augen wieder öffnete.

»Ich bin ein Metamorphmagus«, sagte sie, warf einen Blick zurück

auf ihr Spiegelbild und drehte den Kopf so, dass sie ihr Haar von allen

Seiten sehen konnte. »Das heißt, ich kann meine Erscheinung allein

mit meinem Willen verändern«, fügte sie hinzu, als sie Harrys

verdutzte Miene im Spiegel hinter sich bemerkte. »Bin schon so

- 62 -

geboren. Bei der Aurorenschulung habe ich Spitzennoten in Tarnung

und Maskierung gekriegt, ohne dass ich überhaupt dafür gelernt hab,

das war toll.«

»Sie sind ein Auror?«, fragte Harry beeindruckt. Ein Jäger

schwarzer Magier zu werden war bisher das Einzige, was er sich für

die Zeit nach Hogwarts vorgestellt hatte.

»Jaah«, sagte Tonks stolz. »Kingsley auch, er ist allerdings ein

wenig ranghöher als ich. Ich hab erst vor einem Jahr den Abschluss

gemacht. Bin in Verheimlichen und Aufspüren fast durchgerasselt. Ich

bin so was von schusselig. Hast du gehört, wie ich den Teller

runtergeschmissen hab, als wir unten ankamen?«

»Metamorphmagus – kann man das lernen?«, fragte Harry und

richtete sic h auf, das Kofferpacken hatte er schon völlig vergessen.

Tonks gluckste.

»Wette, du würdest diese Narbe gelegentlich gern mal verstecken,

was?«

Ihr Blick fiel auf die blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn.

»Nein, das würde ich nicht«, murmelte Harry und wandte sich ab.

Er mochte es nicht, wenn die Leute seine Narbe anstarrten.

»Naja, du wirst es auf die harte Tour lernen müssen, fürchte ich«,

sagte Tonks. »Metamorphmagi sind ziemlich selten, sie werden als

solche geboren und nicht dazu ausgebildet. Die meisten von uns

brauchen ihren Zauberstab oder Zaubertränke, um ihre Erscheinung zu

ändern. Aber wir müssen uns beeilen, Harry, wir sollten eigentlich

packen«, fügte sie mit schuldbewusster Miene hinzu und ließ den

Blick über das Sammelsurium am Boden schweifen.

»Oh – ja«, sagte Harry und griff hastig nach ein paar Büchern.

»Blödsinn, es geht viel schneller, wenn ich – packe!«, rief Tonks

und schwenkte ihren Zauberstab mit einer ausladenden, schwebenden

Bewegung über den Boden.

Bücher, Kleider, Teleskop und Waage schossen in die Luft und

flogen in den Koffer, durcheinander wie Kraut und Rüben.

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»Das ist nicht besonders ordentlich«, sagte Tonks, ging hinüber

und blickte hinab auf das Durcheinander im Koffer. »Meine Mutter

hat den Dreh raus, wie sich die Klamotten tipptopp von alleine ordnen

– die bringt sogar die Socken dazu, sich selbst zu falten – aber ich hab

nie rausgekriegt, wie sie's schafft – muss irgendwie locker aus dem

Handgelenk kommen …« Hoffnungsvoll schnippte sie mit ihrem

Zauberstab.

Einer von Harrys Socken schwänzelte schwächlich und flappte

dann wieder auf den kunterbunten Haufen im Koffer zurück.

»Na gut«, sagte Tonks und schlug den Kofferdeckel zu,

»wenigstens ist alles drin. Der da könnte auch ein wenig Reinemachen

vertragen.« Sie richtete den Zauberstab auf Hedwigs Käfig.

»Ratzeputz.« Ein paar Federn und ein wenig Mist verschwanden. »Na,

immerhin ein bisschen besser – ich hab mich mit diesen

Haushaltszaubern nie richtig anfreunden können. Schön – hast du

alles? Kessel? Besen? Aber hallo – ein Feuerblitz?«

Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick auf den Besen in Harrys

rechter Hand fiel. Er war sein ganzer Stolz, ein Geschenk von Sirius,

ein Besen von internationalem Standard.

»Und ich flieg immer noch einen Komet Zwei-Sechzig«, sagte

Tonks neidisch. »Naja … Zauberstab noch in der Jeans? Beide

Pobacken noch dran? Okay, gehen wir. Locomotor Koffer.«

Harrys Koffer hob sich einige Zentimeter in die Luft. Tonks trug

Hedwigs Käfig in der Linken, in der Rechten hielt sie den Zauberstab

wie einen Taktstock und ließ den Koffer voraus durch das Zimmer

und zur Tür hinaus schweben. Harry trug seinen Besen und folgte ihr

die Treppe hinunter.

In der Küche hatte Moody inzwischen sein Auge wieder eingesetzt,

und nach der Reinigung rotierte es so schnell, dass Harry vom

Zusehen schlecht wurde. Kingsley Shacklebolt und Sturgis Podmore

untersuchten die Mikrowelle, und Hestia Jones lachte über einen

Kartoffelschäler, auf den sie beim Stöbern in den Schubladen

gestoßen war. Lupin versiegelte einen an die Dursleys adressierten

Brief.

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»Bestens«, sagte Lupin und blickte auf, als Tonks und Harry

eintraten. »Wir haben noch ungefähr eine Minute, denke ich.

Vielleicht sollten wir raus in den Garten, damit wir bereit sind. Harry,

ich lass einen Brief an Tante und Onkel hier, damit sie sich keine

Sorgen …«

»Tun die sowieso nicht«, sagte Harry.

»… dass du in Sicherheit bist …«

»Das deprimiert sie nur.«

»… und dass du sie nächsten Sommer wieder besuchst.«

»Muss das sein?«

Lupin lächelte, antwortete aber nicht.

»Komm her, Junge«, sagte Moody ruppig und winkte Harry mit

dem Zauberstab zu sich. »Ich muss dich desillusionieren.«

»Sie müssen was?«, sagte Harry nervös.

»Desillusionierungszauber«, sagte Moody und hob den Zauberstab.

»Lupin meint, du hast einen Tarnumhang, aber der flattert weg,

während wir fliegen; das hier verbirgt dich besser. Los geht's …«

Er klopfte ihm hart auf den Kopf, und Harry hatte das komische

Gefühl, als hätte Moody gerade ein Ei darauf aufgeschlagen; von dort,

wo der Zauberstab ihn getroffen hatte, schienen kalte Tropfen seinen

Körper hinunterzurinnen.

»Der kam gut, Mad-Eye«, sagte Tonks anerkennend und starrte auf

Harrys Brustkorb.

Harry blickte an seinem Körper hinab, oder vielmehr an seinem

ehemaligen Körper, denn er sah nicht mehr aus wie der seine. Er war

nicht unsichtbar; er hatte schlicht und einfach die gleiche Farbe und

Maserung wie der Küchenschrank hinter ihm angenommen. Er schien

ein menschliches Chamäleon geworden zu sein.

»Komm«, sagte Moody und entriegelte die Hintertür mit seinem

Zauberstab.

- 65 -

Sie traten alle nach draußen auf Onkel Vernons wunderschön

gepflegten Rasen.

»Klare Nacht«, brummte Moody und suchte den Himmel mit

seinem magischen Auge ab. »Ein paar mehr Wolken als Deckung

wär'n nicht schlecht gewesen. Jetzt hör mal«, blaffte er Harry an, »wir

fliegen in enger Formation. Tonks fliegt direkt vor dir, bleib dicht an

ihrem Schweif. Lupin deckt dich von unten. Ich bin hinter dir. Die

andern umkreisen uns. Wir bleiben um jeden Preis zusammen,

verstanden? Wenn einer von uns getötet wird …«

»Kann das passieren?«, fragte Harry besorgt, doch Moody

überhörte ihn.

»… fliegen die andern weiter, stoppen nicht, bleiben in Formation.

Wenn sie uns alle ausknipsen und du überlebst, Harry, steht die

Nachhut bereit und übernimmt; flieg weiter Richtung Osten, dort

werden sie dich in Empfang nehmen.«

»Nur nicht so gut gelaunt, Mad-Eye, er wird noch denken, wir

nehmen das nicht ernst«, sagte Tonks, während sie Harrys Koffer und

Hedwigs Käfig in einem Geschirr festzurrte, das an ihrem Besen hing.

»Ich erklär dem Jungen nur den Plan«, grollte Moody. »Unser Job

ist es, ihn sicher im Hauptquartier abzuliefern, und wenn wir bei dem

Unternehmen sterben …«

»Niemand wird sterben«, sagte Kingsley Shacklebolt mit seiner

tiefen, beruhigenden Stimme.

»Rauf auf die Besen, das ist das erste Signal!«, sagte Lupin scharf

und deutete auf den Himmel.

Hoch, hoch über ihnen war ein roter Funkenschauer zwischen den

Sternen aufgeflackert. Harry erkannte sofort, dass es

Zauberstabfunken waren. Er schwang das rechte Bein über den

Feuerblitz, packte ihn entschlossen am Stiel und spürte ihn ganz leicht

vibrieren, als wäre er ebenso wild darauf wie Harry, wieder in der Luft

zu sein.

»Zweites Signal, los geht's!«, sagte Lupin laut, als erneut hoch über

ihnen Funken explodierten, diesmal waren es grüne.

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Harry stieß sich kräftig vom Boden ab. Die kühle Nachtluft

rauschte ihm durchs Haar, die ordentlichen quadratischen Gärten des

Ligusterwegs sanken in die Tiefe und schrumpften rasch zu einem

Flickenteppich aus dunklen Grün- und Schwarztönen, und jeder

Gedanke an die Anhörung im Ministerium war weggewischt, als ob

der Fahrtwind ihn aus seinem Kopf geblasen hätte. Ihm war, als würde

sein Herz vor Freude explodieren; er flog wieder, flog weg vom

Ligusterweg, wie er es sich den ganzen Sommer über erträumt hatte,

er war auf dem Weg nach Hause … für ein paar glückselige Momente

schienen all seine Probleme nichtig geworden, bedeutungslos in

diesem weiten, sternübersäten Himmel.

»Scharf links, scharf links, da schaut ein Muggel hoch!«, rief

Moody hinter ihm. Tonks riss den Besen herum, und Harry folgte ihr,

seinen Koffer im Blick, der unter ihrem Besen heftig hin und her

schaukelte. »Wir müssen höher … noch 'ne Viertelmeile!«

Harrys Augen wurden feucht vor Kälte, als sie nach oben

schnellten; in der Tiefe konnte er nun nichts mehr erkennen außer den

winzigen Stecknadellichtern der Autoscheinwerfer und

Straßenlaternen. Zwei dieser winzigen Lichter gehörten vielleicht zu

Onkel Vernons Wagen … die Dursleys waren jetzt wohl auf der

Rückfahrt zu ihrem leeren Haus, wütend wegen des angeblichen

Rasenwettbewerbs … und Harry lachte laut bei diesem Gedanken,

auch wenn seine Stimme erstickt wurde vom Flattern der Umhänge,

vom Knarren der Gurte, die seinen Koffer und den Käfig hielten, und

vom Pfeifen des Windes in seinen Ohren, während sie durch die Luft

schossen. Seit einem Monat hatte er sich nicht mehr so lebendig

gefühlt und auch nicht so glücklich.

»Südlich halten!«, rief Mad-Eye. »Stadt voraus!«

Sie schwenkten nach rechts, um nicht direkt über das glitzernde

Spinnennetz aus Lichtern in der Tiefe zu fliegen.

»Nach Südosten und höher steigen, da ist eine niedrige Wolke

voraus, in der wir verschwinden können!«, rief Moody.

»Wir fliegen nicht durch Wolken!«, rief Tonks erbost. »Da werden

wir pitschnass, Mad-Eye!«

- 67 -

Harry war erleichtert, das zu hören; seine Hände am Stiel des

Feuerblitzes wurden allmählich taub. Hätte er nur daran gedacht, einen

Mantel anzuziehen; er fing an zu zittern.

Immer wieder änderten sie nach Mad-Eyes Anweisungen ihren

Kurs. Harry kniff im eisigen Windzug, der ihm allmählich auch in den

Ohren schmerzte, die Augen zu. Nur einmal, erinnerte er sich, war

ihm auf dem Besen so kalt gewesen, während des Quidditch-Spiels

gegen Hufflepuff in seinem dritten Jahr, als es gestürmt hatte. Seine

Bewacher um ihn her kreisten unablässig wie riesige Raubvögel.

Harry verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Er fragte sich, wie lange

sie geflogen waren, es musste mindestens eine Stunde gewesen sein.

»Nach Südwest drehen!«, rief Moody. »Wir wollen die Autobahn

umgehen!«

Harry war jetzt so durchgefroren, dass er sehnsüchtig an die

behaglichen, trockenen Innenräume der Autos dachte, die unten

dahinströmten, und dann, noch sehnsüchtiger, an das Reisen mit

Flohpulver; es war vielleicht unbequem, in Kaminen umherzuwirbeln,

aber in den Flammen war es wenigstens warm … Kingsley

Shacklebolt schwirrte um ihn herum, sein kahler Schädel und der

Ohrring schimmerten schwach im Mondlicht … jetzt war Emmeline

Vance zu seiner Rechten, sie hielt den Zauberstab erhoben und wandte

den Kopf nach rechts und links … dann flog auch sie über ihn hinweg

und Sturgis Podmore nahm ihre Position ein.

»Wir sollten ein Stück zurückfliegen, nur um sicherzugehen, dass

wir nicht verfolgt werden!«, rief Moody.

»BIST DU VERRÜCKT, MAD-EYE?«, schrie Tonks von der

Spitze her. »Wir sind allesamt an den Besen festgefroren! Wenn wir

andauernd vom Kurs abweichen, brauchen wir noch 'ne Woche!

Außerdem sind wir jetzt fast da!«

»Zeit zum Landeanflug!«, ertönte Lupins Stimme. »Halt dich an

Tonks, Harry!«

Harry folgte Tonks in die Tiefe. Sie flogen auf die größte

Ansammlung von Lichtern zu, die er je gesehen hatte, eine riesige,

unter ihm ausgebreitete, kreuz und quer verlaufende Masse aus

glitzernden Gittern und Linien, gesprenkelt mit Flecken aus tiefstem

- 68 -

Schwarz. Tiefer und tiefer sanken sie, bis Harry einzelne Scheinwerfer

und Straßenlaternen, Kamine und Fernsehantennen sehen konnte. Es

verlangte ihn heftig, wieder auf dem Boden zu sein, doch war er sich

sicher, dass jemand ihn vom Besen loseisen musste.

»Na endlich!«, rief Tonks und ein paar Sekunden später war sie

gelandet.

Harry setzte gleich hinter ihr auf einem ungepflegten Flecken Gras

in der Mitte eines kleinen Platzes auf. Tonks schnallte bereits seinen

Koffer los. Zitternd blickte Harry sich um. Die schmutzigen Fassaden

der Häuser rundum wirkten nicht gerade einladend; manche hatten

zerbrochene Fensterscheiben, die im Licht der Straßenlaternen stumpf

schimmerten, von vielen Türen blätterte die Farbe und neben etlichen

Vortreppen lagen Abfallhaufen.

»Wo sind wir?«, fragte Harry, doch Lupin sagte leise: »Moment

noch.«

Moody stöberte in seinem Mantel, seine knorrigen Hände waren

klamm vor Kälte.

»Hab es«, murmelte er, hob etwas empor, das aussah wie ein

silbernes Feuerzeug, und ließ es klicken.

Mit einem Plopp ging die nächstgelegene Straßenlaterne aus.

Wieder klickte er mit dem Entleuchter; eine weitere Laterne erlosch;

er klickte weiter, bis alle Lampen am Platz gelöscht waren und das

einzig verbliebene Licht aus Fenstern mit zugezogenen Vorhängen

und von der Mondsichel am Himmel stammte.

»Hab ich mir von Dumbledore geborgt«, knurrte Moody und

steckte den Ausschalter ein. »Damit wir keine Probleme mit Muggeln

haben, die vielleicht aus dem Fenster gucken, kapiert? Jetzt kommt,

rasch.«

Er nahm Harry am Arm und führte ihn von dem Grasfleck weg,

über die Straße und auf den Gehweg; Lupin und Tonks, die zwischen

sich Harrys Koffer trugen, folgten ihnen, und der Rest der Leibgarde

flankierte sie, die Zauberstäbe im Anschlag.

Das dumpfe Wummern einer Musikanlage drang aus dem oberen

Fenster des nächsten Hauses. Beißender Gestank nach faulendem

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Abfall stieg aus den überquellenden Mülleimern gleich hinter dem

kaputten Tor.

»Hier«, murmelte Moody, hielt Harrys desillusionierter Hand ein

Pergamentblatt entgegen und beleuchtete die Schrift mit der

entflammten Spitze seines Zauberstabs. »Rasch lesen und einprägen.«

Harry blickte auf das Blatt. Die enge Handschrift kam ihm vage

bekannt vor. Die Worte lauteten:

Das Hauptquartier des Phönixordens befindet sich am

Grimmauldplatz Nummer zwölf, London.

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Grimmauldplatz Nummer zwölf

»Was ist der Phönixor …?«, fing Harry an.

»Nicht hier, Junge!«, knurrte Moody. »Warte, bis wir drin sind!«

Er riss Harry das Pergament aus der Hand und setzte es mit der

Spitze seines Zauberstabs in Brand. Während es in Flammen aufging,

kringelte es sich ein und schwebte zu Boden. Harry drehte sich wieder

zur Häuserfront um. Sie standen vor Nummer elf; er blickte nach links

und sah Nummer zehn; zur Rechten allerdings war Nummer dreizehn.

»Aber wo ist …?«

»Denk an das, was du dir gerade eingeprägt hast«, sagte Lupin

leise.

Harry ließ sich Wort für Wort durch den Kopf gehen, und kaum

war er zu Grimmauldplatz Nummer zwölf gelangt, erschien aus dem

Nichts zwischen Nummer elf und Nummer dreizehn eine ramponierte

Tür, rasch gefolgt von dreckigen Mauern und schmierigen Fenstern.

Es war, als hätte sich ein zusätzliches Haus aufgeblasen und die

beiden Häuser an seinen Seiten weggeschoben. Harry starrte es mit

offenem Mund an. Die Musik in Nummer elf wummerte weiter.

Offenbar hatten die Muggel dort drin überhaupt nichts mitbekommen.

»Los, beeil dich«, knurrte Moody und stupste Harry in den

Rücken.

Harry stieg die abgenutzten Steinstufen hinauf und starrte auf die

Tür, die eben Gestalt angenommen hatte. Ihr schwarzer Anstrich war

verblichen und zerkratzt. Der silberne Türklopfer hatte die Form einer

gewundenen Schlange. Ein Schlüsselloch oder einen Briefkasten gab

es nicht.

Lupin zückte seinen Zauberstab und pochte einmal gegen die Tür.

Harry hörte viele laute, metallische Klickgeräusche und etwas, das

wie das Rasseln einer Kette klang. Knarrend öffnete sich die Tür.

»Schnell da rein, Harry«, flüsterte Lupin, »aber geh drinnen nicht

weit und rühr nichts an.«

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Harry trat über die Schwelle in die fast vollkommene Dunkelheit

der Eingangshalle. Er konnte Feuchtigkeit, Staub und einen süßlichen

Modergeruch wahrnehmen; ihm war, als befände er sich in einem

zerfallenen Gebäude. Harry blickte über die Schulter und sah seine

Begleiter nacheinander hereinkommen, Lupin und Tonks trugen

seinen Koffer und Hedwigs Käfig. Moody stand oben auf der

Vortreppe und ließ die Lichtbälle frei, die der Ausschalter den

Straßenlaternen gestohlen hatte; sie flogen zu ihren Glühbirnen zurück

und schon lag wieder das orange Schimmern über dem Platz. Moody

humpelte herein, schloss die Tür und die Dunkelheit in der Halle war

nun vollkommen.

»Hier …«

Er klopfte Harry mit dem Zauberstab fest auf den Kopf; diesmal

hatte Harry das Gefühl, als würde etwas Heißes seinen Rücken

hinabtröpfeln, und er wusste, dass der Desillusionierungszauber nun

aufgehoben war.

»Niemand rührt sich, bis ich uns ein wenig Licht hier drin

verschafft hab«, flüsterte Moody.

Die verhaltenen Stimmen der anderen gaben Harry ein seltsames

Gefühl dunkler Vorahnung; es war, als hätten sie eben das Haus eines

Sterbenden betreten. Er hörte ein leises Zischen, dann entflammten

altmodische Gaslaternen unter spotzenden Geräuschen entlang den

Wänden. Sie warfen ein flackerndes, spärliches Licht über die sich

abschälenden Tapeten und den verschlissenen Teppich einer langen,

düsteren Eingangshalle, an deren Decke ein von Spinnweben

überzogener Kronleuchter glomm und an deren Wänden schiefe,

altersgeschwärzte Porträts hingen. Harry hörte hinter der Fußleiste

etwas davonrascheln. Der Kronleuchter und auch der Kandelaber auf

einem wackligen Tisch in der Nähe hatten die Gestalt von Schlangen.

Hastige Schritte waren zu hören, und Rons Mutter, Mrs. Weasley,

erschien in einer Tür am anderen Ende der Halle. Sie eilte auf sie zu

und hieß sie strahlend willkommen, und doch fiel Harry auf, dass sie

merklich dünner und blasser geworden war, seitdem er sie das letzte

Mal gesehen hatte.

- 72 -

»Oh, Harry, wie schön dich zu sehen!«, flüsterte sie und zog ihn in

eine Umarmung, die ihm fast die Rippen brach, bevor sie ihn auf

Armeslänge von sich hielt und ihn kritisch musterte. »Du siehst

schmal aus; wir müssen dich ein wenig aufpäppeln, aber ich fürchte,

du musst ein bisschen warten, bis es Abendessen gibt.«

An die Zaubererschar hinter ihm gewandt, flüsterte sie

eindringlich: »Er ist gerade angekommen, die Versammlung hat

begonnen.«

Die Zauberer in Harrys Rücken tuschelten neugierig und aufgeregt

und eilten einer nach dem anderen an ihm vorbei auf die Tür zu, durch

die Mrs. Weasley eben gekommen war. Harry wollte gerade Lupin

folgen, als Mrs. Weasley ihn zurückhielt.

»Nein, Harry, die Versammlung ist nur für Mitglieder des Ordens.

Ron und Hermine sind oben, du kannst mit ihnen gemeinsam warten,

bis die Versammlung zu Ende ist, dann gibt es Abendessen. Und sei

leise, wenn du in der Halle bist«, fügte sie eindringlich hinzu.

»Warum?«

»Ich will nicht, dass jemand aufwacht.«

»Was haben Sie …?«

»Erklär ich dir später, ich muss mich beeilen, weil ich auch zur

Versammlung muss – ich zeig dir nur rasch, wo du schläfst.«

Sie legte einen Finger an die Lippen und führte Harry auf

Zehenspitzen an einem Paar langer, mottenzerfressener Vorhänge

vorbei, hinter denen Harry eine weitere Tür vermutete, und nachdem

sie einen großen Schirmständer umrundet hatten, der aussah, als wäre

er aus einem abgetrennten Trollbe in gefertigt, stiegen sie die dunkle

Treppe empor, vorbei an einer Reihe von Schrumpfköpfen, die auf

Tafeln an der Wand befestigt waren. Bei näherem Hinsehen stellte

Harry fest, dass es die Köpfe von Hauselfen waren. Alle hatten die

gleiche, ziemlich schnauzenähnliche Nase.

Mit jeder neuen Stufe wuchs Harrys Verwirrung. Was um alles in

der Welt taten sie in einem Haus, das aussah, als würde es dem

schwärzesten aller Magier gehören?

- 73 -

»Mrs. Weasley, warum …?«

»Ron und Hermine werden dir alles erklären, mein Lieber, ich

muss mich wirklich sputen«, flüsterte Mrs. Weasley zerstreut. »Hier

…«, sie hatten den zweiten Treppenabsatz erreicht, »… die rechte Tür

ist deine. Ich ruf dich, wenn wir fertig sind.«

Und sie eilte die Treppe wieder hinunter.

Harry überquerte den schäbigen Treppenabsatz, drehte den Knauf

an der Schlafzimmertür, der wie ein Schlangenkopf geformt war, und

öffnete die Tür.

Er erhaschte einen kurzen Blick auf ein hohes, düsteres Zimmer

mit zwei Betten; dann hörte er ein lautes Zwitschern, gefolgt von

einem noch lauteren Schrei, und schließlich raubte ihm eine

Riesenmenge sehr buschiger Haare vollkommen die Sicht. Hermine

hatte sich auf ihn gestürzt und ihn so heftig umarmt, dass es ihn fast

zu Boden geworfen hätte, während Rons kleine Eule, Pigwidgeon,

fortwährend aufgeregt um ihre Köpfe flatterte.

»HARRY! Ron, er ist da, Harry ist da! Wir haben dich nicht

kommen hören! Oh, wie geht es dir? Alles in Ordnung mit dir? Warst

du sauer auf uns? Bestimmt, unsere Briefe waren nutzlos – aber wir

konnten dir nichts erzählen. Dumbledore hat uns schwören lassen,

dass wir schweigen, oh, wir haben dir so viel zu erzählen, und du

musst uns auch einiges erzählen – die Dementoren! Als wir das

erfahren haben – und von dieser Anhörung im Ministerium – das ist

einfach empörend, ich hab alles nachgeschlagen, die können dich

nicht rauswerfen, das können sie einfach nicht, es gibt im Erlass zur

Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger nämlich

eine Ausnahmeregelung für den Fall lebensbedrohlicher Situationen

…«

»Lass ihn doch mal zu Puste kommen, Hermine«, sagte Ron

grinsend und schloss die Tür hinter Harry. Er schien in dem Monat, in

dem sie getrennt gewesen waren, um einige Zentimeter gewachsen zu

sein und wirkte noch größer und schlaksiger, aber die lange Nase, das

leuchtend rote Haar und die Sommersprossen waren unverändert.

Hermine strahlte unentwegt und ließ von Harry ab, doch bevor sie

noch ein weiteres Wort sagen konnte, war ein leises Rauschen zu

- 74 -

hören, und etwas Weißes schoss von einem dunklen Schrank herab

und landete sanft auf Harrys Schulter.

»Hedwig!«

Die Schneeeule klackerte mit dem Schnabel und knabberte zärtlich

an seinem Ohr, während Harry ihr das Gefieder streichelte.

»Die war vielleicht seltsam drauf«, sagte Ron. »Hat uns bald

totgepickt, als sie deine letzten Briefe gebracht hat, sieh dir das mal an

…«

Er hielt Harry den Zeigefinger seiner rechten Hand hin, der einen

halb verheilten, aber offenbar tiefen Schnitt aufwies.

»Oh«, sagte Harry. »Das tut mir Leid, aber ich wollte Antworten

haben, versteht ihr …«

»Die wollten wir dir auch geben, Mann«, sagte Ron. »Hermine war

fast ausgetickt, dauernd hat sie gesagt, du würdest 'ne Dummheit

machen, wenn du dort ganz allein festsitzt ohne Neuigkeiten, aber

Dumbledore hat uns …«

»… schwören lassen, dass ihr mir nichts erzählt«, ergänzte Harry.

»Ja, das hat Hermine schon gesagt.«

Die warme Glut, die in ihm aufgeflammt war beim Anblick seiner

beiden besten Freunde, verlosch in etwas Eisigem, das ihm durch den

Magen strömte. Mit einem Mal – nachdem er sich einen geschlagenen

Monat lang danach gesehnt hatte, sie zu treffen – hatte er das Gefühl,

es wäre ihm lieber, Ron und Hermine würden ihn allein lassen.

Eine gespannte Stille trat ein, während deren Harry Hedwig

geistesabwesend streichelte und die beiden anderen nicht ansah.

»Er glaubte wohl, das war das Beste«, sagte Hermine ziemlich

atemlos. »Dumbledore, meine ich.«

»Ach so«, sagte Harry. Ihm fiel auf, dass auch ihre Hände Spuren

von Hedwigs Schnabel trugen, und er merkte, dass es ihm überhaupt

nicht Leid tat.

»Ich glaub, er dachte, du wärst bei den Muggeln am sichersten

aufgehoben …«, fing Ron an.

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»Jaah?«, sagte Harry und hob die Augenbrauen. »Ist einer von

euch diesen Sommer vielleicht von Dementoren angegriffen worden?«

»Na ja, nein – aber darum hat er dic h ja ständig durch Leute vom

Orden des Phönix beschatten lassen …«

Harry spürte, wie seine Eingeweide einen mächtigen Satz machten,

als ob er gerade eine Stufe treppab verpasst hätte. Also hatten alle

gewusst, dass er beschattet wurde, nur er nicht.

»Hat aber nicht besonders gut geklappt, oder?«, erwiderte Harry

und hatte äußerste Mühe, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu

geben. »Hab mir dann doch selbst helfen müssen, was?«

»Er war so wütend«, sagte Hermine mit beinah ehrfürchtiger

Stimme. »Dumbledore. Wir haben ihn gesehen. Als er rausfand, dass

Mundungus vor dem Ende seiner Schicht verschwunden war. Er hat

einem Angst eingejagt.«

»Was soll's, ich bin froh, dass er abgehauen ist«, sagte Harry kühl.

»Wenn nicht, hätte ich nicht gezaubert und Dumbledore hätte mich

vermutlich den ganzen Sommer über im Ligusterweg gelassen.«

»Machst du … machst du dir keine Sorgen wegen der Anhörung

im Zaubereiministerium?«, sagte Hermine leise.

»Nein«, log Harry trotzig. Er entfernte sich ein paar Schritte von

ihnen und sah sich um, während sich Hedwig zufrieden an seine

Schulter schmiegte, aber dieses Zimmer konnte ihn schwerlich

aufheitern. Es war feucht und dunkel. Ein leeres Stück Leinwand, in

einen verschnörkelten Rahmen gespannt, war alles, was die Tristesse

der Wände, von denen die Tapeten herabhingen, ein wenig

auflockerte, und als Harry daran vorbeiging, glaubte er jemanden zu

hören, der sich kichernd davonstahl.

»Also, warum will Dumbledore mich eigentlich unbedingt im

Unklaren lassen?«, fragte Harry, immer noch bemüht, betont lässig zu

sprechen. »Habt ihr – ähm – ihn zufällig mal gefragt?«

Er sah gerade noch rechtzeitig auf, um die beiden einen Blick

tauschen zu sehen, der ihm sagte, dass er sich genau so aufführte, wie

sie befürchtet hatten. Das besserte seine Laune keineswegs.

- 76 -

»Wir haben Dumbledore gesagt, wir wollten dir erzählen, was

abgeht«, sagte Ron. »Ehrlich, Mann. Aber er ist im Moment total

beschäftigt, wir haben ihn nur zweimal gesehen, seit wir hier sind, und

er hat nicht viel Zeit gehabt, er hat uns nur schwören lassen, dir nichts

Wichtiges mitzuteilen, wenn wir dir schreiben, er meinte, die Eulen

würden vielleicht abgefangen.«

»Er hätte mich trotzdem auf dem Laufenden halten können, wenn

er gewollt hätte«, sagte Harry knapp. »Ihr wollt mir doch nicht

weismachen, dass er keine Ahnung hat, wie man Botschaften ohne

Eulen verschickt.«

Hermine warf Ron einen Blick zu und sagte: »Das hab ich mir

auch gedacht. Aber er wollte nicht, dass du irgendwas erfährst.«

»Vielleicht denkt er, ich sei nicht vertrauenswürdig«, meinte Harry

und ließ sie nicht aus den Augen.

»Red keinen Stuss«, sagte Ron. Er wirkte tief beunruhigt.

»Oder dass ich nicht auf mich selbst aufpassen kann.«

»Natürlich denkt er so was nicht!«, entgegnete Hermine besorgt.

»Wie kommt's dann, dass ich bei den Dursleys bleiben muss,

während ihr zwei bei allem mitmachen dürft, was hier passiert?«,

sagte Harry, und mit jedem Wort, das hastig aus seinem Mund

stolperte, wurde seine Stimme lauter. »Wie kommt's, dass ihr beide

alles erfahren dürft, was los ist?«

»Dürfen wir nicht!«, unterbrach ihn Ron. »Mum will uns nicht mal

in die Nähe der Versammlungen lassen, sie sagt, wir wären zu jung

…«

Weiter kam er nicht, denn Harry fing an zu schreien.

»ALSO WART IHR NICHT BEI DEN VERSAMMLUNGEN,

NA UND! ABER IHR WART HIER, STIMMT'S? IHR WART

ZUSAMMEN! UND ICH, ICH STECKE EINEN MONAT LANG

BEI DEN DURSLEYS FEST! UND ICH HAB MEHR

GESCHAFFT, ALS IHR BEIDE JE GESCHAFFT HABT, UND

DUMBLEDORE WEISS DAS – WER HAT DEN STEIN DER

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WEISEN GERETTET? WER HAT RIDDLE ERLEDIGT? WER

HAT EUCH BEIDE VOR DEN DEMENTOREN GERETTET?«

Alle bitteren und trüben Gedanken, die Harry im letzten Monat

durch den Kopf gegangen waren, sprudelten jetzt hervor: seine

Enttäuschung darüber, dass man ihm keine Nachrichten geschickt

hatte, die Verletzung, dass sie alle zusammen gewesen waren ohne

ihn, seine Wut darüber, ohne sein Wissen beschattet worden zu sein –

all die Gefühle, für die er sich halb schämte, brachen endlich aus ihm

heraus. Der Lärm erschreckte Hedwig und sie flatterte wieder nach

oben auf den Schrank; Pigwidgeon zwitscherte aufgebracht und

kreiste noch schneller um ihre Köpfe.

»WER MUSSTE LETZTES JAHR AN DRACHEN UND

SPHINXEN UND ALL DEM ANDERN EKELGETIER VORBEI?

WER HAT IHN ZURÜCKKOMMEN SEHEN? WER MUSSTE

VOR IHM FLIEHEN? ICH!«

Ron stand mit halb offenem Mund da, sichtlich bestürzt und

vollkommen sprachlos, während Hermine den Tränen nahe schien.

»ABER WARUM SOLLTE ICH ERFAHREN, WAS VOR SICH

GEHT? WARUM SOLLTE SICH IRGENDJEMAND DIE MÜHE

MACHEN, MIR ZU SAGEN, WAS LOS IST?«

»Harry, wir wollten es dir sagen, wirklich …«, fing Hermine an.

»SO EILIG HATTET IHR ES WOHL NICHT, ODER IHR

HÄTTET MIR EINE EULE GESCHICKT, ABER DUMBLEDORE

HAT EUCH JA SCHWÖREN LASSEN …«

»Allerdings, hat er …«

»VIER WOCHEN LANG SITZE ICH IM LIGUSTERWEG FEST

UND KLAUBE ZEITUNGEN AUS DEN MÜLLEIMERN, DAMIT

ICH RAUSKRIEG, WAS LOS IST …«

»Wir wollten …«

»HABT EUCH WOHL GLÄNZEND AMÜSIERT, WAS, ALLE

HIER ZUSAMMEN …«

»Nein, ehrlich …«

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»Harry, es tut uns wirklich Leid«, sagte Hermine verzweifelt und

in ihren Augen glitzerten jetzt Tränen. »Du hast vollkommen Recht,

Harry – ich war auch wütend, wenn mir das passiert war!«

Harry funkelte sie an, immer noch heftig atmend, dann wandte er

sich wieder von ihnen ab und schritt im Zimmer umher. Hedwig

schrie beklommen vom Schrank herunter. Eine lange Pause trat ein, in

der einzig das traurige Knarren der Dielen unter Harrys Füßen zu

vernehmen war.

»Was ist das eigentlich für ein Haus?«, blaffte er Ron und Hermine

an.

»Das Hauptquartier des Phönixordens«, sagte Ron sofort.

»Würde mir vielleicht mal jemand erklären, was der Phönixorden

…«

»Das ist eine Geheimgesellschaft«, sagte Hermine eilig.

»Dumbledore leitet sie, er hat sie gegründet. Es sind dieselben Leute,

die das letzte Mal gegen Du-weißt-schon-wen gekämpft haben.«

»Wer gehört dazu?«, fragte Harry und blieb, die Hände in den

Taschen, stehen.

»'ne ganze Menge Leute …«

»Wir haben vielleicht zwanzig von ihnen kennen gelernt«, sagte

Ron, »aber wir glauben, dass es noch mehr sind.«

Harry sah sie wütend an.

»Und?«, fragte er und wandte sich beiden abwechselnd zu.

»Ähm«, sagte Ron. »Und was?«

»Voldemort!«, sagte Harry zornig und Ron und Hermine zuckten

zusammen. »Was ist los? Was hat er vor? Wo ist er? Was tun wir, um

ihn aufzuhalten?«

»Wir haben's dir doch gesagt, der Orden lässt uns nicht zu seinen

Versammlungen«, sagte Hermine nervös. »Also wissen wir nichts

Genaues – aber wir haben eine ungefähre Vorstellung«, ergänzte sie

hastig, als sie Harrys Miene sah.

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»Fred und George haben Langziehohren erfunden, weißt du«, sagte

Ron. »Sind echt nützlich.«

»Langzieh…«

»…ohren, ja. Wir haben sie nur in letzter Zeit nicht mehr benutzen

können, weil Mum es rausgefunden hat und einen Tobsuchtsanfall

kriegte. Fred und George mussten sie verstecken, bevor Mum sie alle

in den Müll werfen konnte. Aber sie waren ganz schön nützlich für

uns, bis Mum merkte, was los war. Wir wissen, dass manche Leute

vom Orden bekannte Todesser verfolgen und sie beobachten …«

»Andere werben noch mehr Leute für den Orden …«, sagte

Hermine.

»Und manche bewachen nur irgendetwas«, sagte Ron. »Sie reden

ständig über Wachdienste.«

»Nicht zufällig bei mir, oder?«, meinte Harry sarkastisch.

»Ja, doch«, sagte Ron und sah aus, als ginge ihm langsam ein Licht

auf.

Harry schnaubte. Er ging wieder im Zimmer auf und ab und

vermied es, Ron und Hermine anzusehen. »Und was habt ihr so

getrieben, wo ihr doch nicht zu den Versammlungen durftet?«, fragte

er. »Ihr habt gesagt, ihr wart beschäftigt.«

»Stimmt auch«, sagte Hermine rasch. »Wir haben dieses Haus

entgiftet, es stand ewig leer und irgendwelches Getier hat hier

gebrütet. Wir haben die Küche und die meisten Schlafzimmer sauber

gekriegt, und ich glaub, morgen nehmen wir uns den Sal… AARGH!«

Mit zwei lauten Knalls hatten Fred und George, Rons ältere

Zwillingsbrüder, aus dem Nichts heraus mitten im Zimmer Gestalt

angenommen. Pigwidgeon zwitscherte noch aufgeregter und flatterte

hoch zu Hedwig auf den Schrank.

»Hört auf damit!«, sagte Hermine mit matter Stimme zu den

Zwillingen, die ebenso leuchtend rotes Haar hatten wie Ron,

allerdings stämmiger und ein wenig kleiner waren.

»Hallo, Harry«, sagte George und strahlte ihn an. »Das können nur

deine wohlklingenden Laute sein, dachten wir uns.«

- 80 -

»Du brauchst deine Wut nicht zurückzuhalten, Harry, nur raus

damit«, sagte Fred, ebenfalls strahlend. »Vielleicht gibt's in fünfzig

Meilen Umkreis noch ein paar Leute, die dich nicht gehört haben.«

»Ihr beide habt also die Prüfung im Apparieren bestanden?«, fragte

Harry mürrisch.

»Mit Auszeichnung«, sagte Fred, der etwas in der Hand hielt, das

wie eine sehr lange, fleischfarbene Schnur aussah.

»Ihr hättet gerade mal 'ne halbe Minute länger gebraucht, wenn ihr

die Treppe runtergegangen wärt«, sagte Ron.

»Zeit ist Galleonen wert, Brüderchen«, sagte Fred. »Jedenfalls

störst du den Empfang, Harry. Langziehohren«, fügte er mit Blick auf

Harrys gehobene Augenbrauen hinzu und hielt die Schnur hoch, die,

wie Harry jetzt sah, bis hinaus vor die Tür reichte. »Wir versuchen zu

hören, was unten los ist.«

»Seid bloß vorsichtig«, sagte Ron und starrte das Ohr an, »wenn

Mum noch eins von denen sieht …«

»Das ist das Risiko wert, die haben gerade ein wichtiges Treffen«,

sagte Fred.

Die Tür öffnete sich und eine lange rote Haarmähne erschien.

»Oh, hallo, Harry!«, sagte Rons jüngere Schwester Ginny fröhlich.

»Mir war, als hätte ich deine Stimme gehört.«

An Fred und George gewandt, sagte sie: »Die Langziehohren könnt

ihr vergessen, sie hat doch die Küchentür tatsächlich mit einem

Imperturbatio-Zauber belegt.«

»Woher weißt du das?«, fragte George und sah geknickt aus.

»Tonks hat mir gesagt, wie ich's rausfinde«, erwiderte Ginny. »Du

wirfst einfach was gegen die Tür, und wenn es sie nicht berührt, ist die

Tür imperturbiert. Ich hab oben vom Treppenabsatz ans Stinkbomben

dagegen geworfen, und die fliegen einfach von der Tür weg, also

können die Langziehohren unmöglich durch den Türschlitz.«

Fred seufzte schwer.

- 81 -

»Schande. Ich war wirklich mal gespannt, was der alte Snape so

vorhat.«

»Snape!«, sagte Harry rasch. »Ist er da?«

»Jaah« sagte George, schloss vorsichtig die Tür und setzte sich auf

eines der Betten; Fred und Ginny taten es ihm nach. »Trägt einen

Bericht vor. Top secret.«

»Mistkerl«, sagte Fred lahm.

»Er ist jetzt auf unserer Seite«, sagte Hermine vorwurfsvoll.

Ron schnaubte. »Deshalb ist er trotzdem 'n Mistkerl. Wie der uns

ansieht, wenn wir ihm über den Weg laufen.«

»Bill mag ihn auch nicht«, sagte Ginny, als ob damit das letzte

Wort gesprochen wäre.

Harry war sich nicht sicher, ob seine Wut schon abgeflaut war;

doch sein Durst nach Neuigkeiten war stärker als sein Verlangen,

wieder loszuschreien. Er ließ sich aufs Bett gegenüber sinken.

»Ist Bill hier?«, fragte er. »Ich dachte, er arbeitet in Ägypten?«

»Er hat sich auf einen Schreibtischjob beworben, damit er nach

Hause kommen und für den Orden arbeiten konnte«, sagte Fred. »Er

sagt, er vermisst die Gräber, aber …« er grinste, »… man kann sich ja

mit was anderem trösten.«

»Was soll das heißen?«

»Erinnerst du dich noch an die gute Fleur Delacour?«, sagte

George. »Sie hat jetzt einen Job bei Gringotts, uum i'r englisch su

verbessern …«

»Und Bill gibt ihr 'ne Menge Privatstunden«, kicherte Fred.

»Charlie ist auch im Orden«, sagte George, »aber er ist immer

noch in Rumänien. Dumbledore will, dass möglichst viele

ausländische Zauberer dazugeholt werden, also versucht Charlie an

seinen freien Tagen Kontakte zu knüpfen.«

»Könnte nicht Percy das tun?«, fragte Harry. Das Letzte, was er

gehört hatte, war, dass der drittälteste Weasley-Bruder in der

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Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit im

Zaubereiministerium arbeitete.

Bei Harrys Worten tauschten alle Weasleys und Hermine düster

bedeutungsvolle Blicke.

»Merk dir eins: Erwähne nie Percy, wenn Mum und Dad dabei

sind«, erklärte ihm Ron und seine Stimme klang angespannt.

»Warum nicht?«

»Weil, immer wenn Percys Name fällt, Dad zerbricht, was er

gerade in der Hand hält, und Mum anfängt zu weinen«, sagte Fred.

»Es ist schrecklich«, sagte Ginny traurig.

»Ich glaub, wir haben alle die Nase voll von ihm«, sagte George

mit einem ungewöhnlich hässlichen Gesichtsausdruck.

»Was ist passiert?«, fragte Harry.

»Percy und Dad hatten einen Streit«, antwortete Fred. »Ich hab

Dad noch nie derart mit jemandem streiten sehen. Normalerweise ist

es Mum, die schreit.«

»Es war in der ersten Woche nach Ende des Schuljahrs«, erklärte

Ron. »Wir waren kurz davor, hierher zu kommen und uns dem Orden

anzuschließen. Da kommt Percy heim und erklärt uns, er sei befördert

worden.«

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Harry.

Obwohl er sehr wohl wusste, dass Percy höchst ehrgeizig war,

hatte Harry den Eindruck, dass er auf seinem ersten Posten im

Zaubereiministerium nicht sonderlich erfolgreich gewesen war. Percy

war es doch tatsächlich gelungen, nicht zu bemerken, dass sein Chef

von Lord Voldemort beherrscht wurde (was das Ministerium

allerdings auch nicht geglaubt hatte – sie hatten alle gedacht, Mr.

Crouch sei verrückt geworden).

»Ja, wir waren alle überrascht«, sagte George, »weil Percy wegen

Crouch eine Menge Scherereien hatte, es gab eine Untersuchung und

so weiter. Es hieß, Percy hätte erkennen müssen, dass Crouch

durchgeknallt war, und einen Vorgesetzten informieren müssen. Aber

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du kennst Percy, Crouch hatte ihm die Verantwortung übertragen, da

wollte Percy sich nicht beschweren.«

»Aber warum haben sie ihn dann befördert?«

»Genau das haben wir uns auch gefragt«, sagte Ron, offenbar ganz

erpicht darauf, diese normale Unterhaltung am Laufen zu halten, jetzt,

da Harry mit dem Schreien aufgehört hatte. »Er kam nach Hause,

furchtbar stolz auf sich – noch stolzer als sonst, wenn du dir das

überhaupt vorstellen kannst –, und hat Dad erzählt, man hätte ihm eine

Position in Fudges persönlichem Büro angeboten. Kein schlechter

Aufstieg für jemanden, der gerade mal ein Jahr aus Hogwarts raus ist:

Juniorassistent des Ministers. Er dachte wohl, Dad wäre total

beeindruckt.«

»War er aber nicht«, sagte Fred grimmig.

»Warum nicht?«, fragte Harry.

»Offenbar stürmt Fudge andauernd durchs Ministerium und sorgt

dafür, dass niemand den Kontakt zu Dumbledore aufrechterhält«,

erklärte George.

»Der Name Dumbledore ist inzwischen ein Schimpfwort im

Ministerium, musst du wissen«, sagte Fred. »Die glauben alle, er will

nur Ärger machen, indem er behauptet, Du-weißt-schon-wer sei

zurück.«

»Dad meinte, Fudge habe klargestellt, dass jeder, der auf

Dumbledores Seite ist, seinen Schreibtisch räumen kann«, sagte

George.

»Das Problem ist, Fudge verdächtigt Dad; er weiß, dass er mit

Dumbledore befreundet ist, und er hat Dad immer für eine Art Spinner

gehalten, weil er so muggelvernarrt ist.«

»Aber was hat das mit Percy zu tun?«, fragte Harry verwirrt.

»Warte, gleich. Dad vermutet, dass Fudge Percy nur deshalb bei

sich im Büro haben will, damit er ihn dazu benutzen kann, unsere

Familie auszuspionieren – und Dumbledore.«

Harry stieß einen leisen Pfiff aus.

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»Ich wette, Percy war begeistert.«

Ron lachte merkwürdig hohl.

»Er ist vollkommen ausgerastet. Er sagte – na ja, er hat eine Menge

fürchterliches Zeug dahergeredet. Er müsse gegen Dads miserablen

Ruf ankämpfen, seit er im Ministerium sei, und dass Dad keinen

Ehrgeiz hätte, und das sei der Grund, warum wir immer – du weißt

schon – nie viel Geld hatten und so …«

»Wie bitte?«, sagte Harry ungläubig. Ginny machte ein Geräusch

wie eine wütende Katze.

»Ich weiß«, sagte Ron mit leiser Stimme. »Und es kam noch

schlimmer. Er sagte, es sei idiotisch von Dad, sich mit Dumbledore

abzugeben, dass Dumbledore Riesenärger kriegen würde und Dad mit

ihm untergehen würde und dass er – Percy – wisse, wem er die Treue

zu halten habe, und zwar dem Ministerium. Und wenn Mum und Dad

Verräter des Ministeriums werden wollten, würde er dafür sorgen,

dass jeder erfährt, dass er nicht mehr zur Familie gehört. Dann hat er

noch in derselben Nacht seine Sachen gepackt und ist verschwunden.

Er lebt jetzt hier in London.«

Harry fluchte halblaut. Er hatte Percy immer am wenigsten von

allen Brüdern Rons gemocht, aber er hätte sich nie träumen lassen,

dass Percy solche Dinge zu Mr. Weasley sagen würde.

»Mum war völlig durch den Wind«, sagte Ron. »Kannst dir ja

vorstellen – sie hat geheult und so. Sie ist nach London gekommen

und hat versucht mit Percy zu reden, aber der hat ihr die Tür vor der

Nase zugeschlagen. Keine Ahnung, was er tut, wenn er Dad bei der

Arbeit trifft – behandelt ihn vermutlich wie Luft.«

»Aber Percy muss doch wissen, dass Voldemort zurück ist«, sagte

Harry langsam. »Er ist doch nicht dumm, er muss wissen, dass eure

Eltern ohne Beweise nicht alles aufs Spiel setzen würden.«

»Jaah, nun, dann ist dein Name in dem Streit gefallen«, sagte Ron

und warf Harry einen flüchtigen Blick zu. »Percy meinte, der einzige

Beweis sei dein Wort und … jedenfalls … er glaube nicht, dass das

ausreichend sei.«

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»Percy nimmt den Tagespropheten ernst«, sagte Hermine säuerlich

und alle anderen nickten.

»Was heißt das jetzt wieder?«, fragte Harry und sah sie der Reihe

nach an. Alle blickten argwöhnisch zurück.

»Hast du – hast du den Tagespropheten nicht gekriegt?«, fragte

Hermine nervös.

»Doch, hab ich!«, sagte Harry.

»Hast du – ähm – hast du ihn gründlich gelesen?«, fragte Hermine

noch beklommener.

»Nicht jedes Wort«, sagte Harry trotzig. »Wenn sie irgendwas über

Voldemort berichtet hätten, dann hätte das doch Schlagzeilen

gemacht, oder?«

Beim Klang des Namens zuckten die anderen zusammen. Hermine

fuhr hastig fort: »Naja, du musst schon alles lesen, um es

mitzukriegen, sie – ähm – sie erwähnen dich jede Woche ein paar

Mal.«

»Aber das hä tte ich doch gesehen …«

»Nicht, wenn du nur die Schlagzeilen gelesen hast, nein«, sagte

Hermine und schüttelte den Kopf. »Ich rede ja gar nicht von großen

Artikeln. Die lassen deinen Namen nur so nebenbei einfließen, als

Dauergag sozusagen.«

»Was soll …?«

»Es ist im Grunde ziemlich fies«, sagte Hermine mit gezwungen

ruhiger Stimme. »Die schlachten nur Ritas Sachen weiter aus.«

»Aber die arbeitet doch nicht mehr für die, oder?«

»O nein, sie hat ihr Versprechen gehalten – blieb ihr auch gar

nichts anderes übrig«, fügte Hermine zufrieden hinzu. »Aber sie hat

die Grundlage für das geschaffen, was sie jetzt versuchen.«

»Und was ist das?«, fragte Harry ungeduldig.

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»Okay, du weißt, dass sie geschrieben hat, du seist völlig

zusammengebrochen und hättest gesagt, deine Narbe schmerze, und

so weiter?«

»Ja«, sagte Harry, der Rita Kimmkorns Storys über ihn nicht so

schnell vergessen würde.

»Naja, jetzt schreiben sie über dich, als ob du so ein Spinner wärst,

der ständig Aufmerksamkeit sucht und glaubt, er sei ein großer

tragischer Held oder so was«, sagte Hermine sehr schnell, als wäre es

weniger unangenehm für Harry, diese Tatsachen rasch zu hören.

»Dauernd lassen sie hämische Kommentare über dich einfließen.

Wenn sie irgendeine aus der Luft gegriffene Story bringen, schreiben

sie beispielsweise, das sei ›Harry Potter, wie wir ihn kennen und

liebem, und wenn jemandem irgendwas Komisches zustößt, heißt es:

›Hoffen wir, dass er keine Narbe auf der Stirn kriegt, sonst verlangt

man demnächst noch von uns, dass wir ihn anbeten‹ …«

»Ich will nicht, dass irgendjemand mich anbetet …«, fuhr Harry

hitzig auf.

»Das weiß ich doch«, erwiderte Hermine rasch und sichtlich

besorgt. »Ich weiß, Harry. Aber verstehst du, was die treiben? Die

wollen dich als jemanden hinstellen, dem keiner gla uben kann. Fudge

steckt dahinter, jede Wette. Die wollen, dass die Zauberer von der

Straße denken, du wärst nichts weiter als ein dummer Junge, eine Art

Witzfigur, der lächerliche, übertriebene Geschichten erzählt, weil es

ihm so gefällt, berühmt zu sein, und er die Sache am Laufen halten

will.«

»Ich hab nicht verlangt – ich hab nicht gewollt – Voldemort hat

meine Eltern umgebracht!«, stammelte Harry. »Ich bin berühmt

geworden, weil er meine Familie ermordet hat, aber mich nicht töten

konnte! Wer will dafür berühmt sein? Können die sich nicht denken,

dass es mir lieber wäre, wenn das nie …«

»Das wissen wir, Harry«, sagte Ginny ernst.

»Und natürlich haben sie kein Wort darüber gebracht, dass dich die

Dementoren angegriffen haben«, sagte Hermine. »Jemand hat ihnen

befohlen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Ansonsten war das

eine richtig große Story geworden – Dementoren außer Kontrolle. Die

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haben nicht mal berichtet, dass du das Internationale

Geheimhaltungsabkommen verletzt hast. Wir dachten, das würden sie

in jedem Fall bringen, es würde ja so gut zu deinem Image als

dummer Angeber passen. Wir vermuten, dass sie erst mal abwarten,

bis sie dich von der Schule geworfen haben, dann kommen sie ganz

groß damit raus – ich meine, falls du rausgeworfen wirst, natürlich«,

ergänzte sie hastig. »Das dürfen die eigentlich nicht, nicht wenn sie

sich an ihre eigenen Gesetze halten, die haben nichts gegen dich in der

Hand.«

Damit waren sie wieder bei der Anhörung und Harry wollte nicht

darüber nachdenken. Er wollte das Thema wechseln und überlegte,

wie, doch das Nachdenken wurde ihm erspart durch das Geräusch von

Schritten, die treppauf kamen.

»Oh – oh.«

Fred zog kräftig am Langziehohr; wieder knallte es laut und er und

George verschwanden. Sekunden später erschien Mrs. Weasley an der

Tür.

»Die Versammlung ist zu Ende, ihr könnt jetzt runterkommen und

zu Abend essen. Harry, die können's alle nicht erwarten, dich zu

sehen. Und wer hat all die Stinkbomben vor der Küchentür liegen

lassen?«

»Krummbein«, sagte Ginny ohne rot zu werden. »Der spielt gern

mit denen.«

»Oh«, sagte Mrs. Weasley. »Ich dachte, es war vielleicht Kreacher,

der stellt ja dauernd dummes Zeug an. Und vergesst nicht, in der Halle

leise zu sein. Ginny, du hast schmutzige Hände, was hast du

getrieben? Geh und wasch sie vor dem Abendessen, bitte.«

Ginny schnitt den anderen zugewandt eine Grimasse und folgte

ihrer Mutter aus dem Zimmer, so dass Harry jetzt mit Ron und

Hermine allein war. Beide beobachteten ihn besorgt, als fürchteten sie,

nun, da die anderen alle fort waren, würde er wieder anfangen zu

schreien. Wie er sie so nervös dastehen sah, schämte er sich fast ein

bisschen.

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»Seht mal …«, murmelte er, aber Ron schüttelte den Kopf, und

Hermine sagte leise: »Wir wussten, dass du wütend sein würdest,

Harry, wir machen dir wirklich keinen Vorwurf, aber du musst

verstehen – wir haben versucht Dumbledore zu überzeugen …«

»Ja, weiß ich«, sagte Harry knapp.

Er suchte nach einem Thema, das nichts mit seinem Schulleiter zu

tun hatte, denn allein schon bei dem Gedanken an Dumbledore spürte

Harry erneut eine brennende Wut im Magen.

»Wer ist Kreacher?«, fragte er.

»Der Hauself, der hier lebt«, sagte Ron. »Knallkopf. So was wie

den hab ich noch nie erlebt.«

Hermine blickte Ron finster an.

»Er ist kein Knallkopf, Ron.«

»Sein größter Wunsch ist, dass man ihm den Kopf abhackt und ihn

auf eine Tafel setzt, genau wie den seiner Mutter«, sagte Ron gereizt.

»Ist das normal, Hermine?«

»Nun ja – wenn er ein bisschen merkwürdig ist, dann ist das nicht

seine Schuld.«

Ron wandte sich Harry zu und verdrehte die Augen.

»Hermine hat diese Belfer-Sache immer noch nicht aufgegeben.«

»Das heißt nicht Belfer!«, brauste Hermine auf. »Sondern Bund für

Elfenrechte. Und nicht nur ich, auch Dumbledore sagt, wir sollten nett

zu Kreacher sein.«

»Ja, ja«, sagte Ron. »Kommt, ich verhungere noch.«

Er ging voran zur Tür hinaus und bis zum Treppenabsatz, doch

bevor sie hinuntersteigen konnten …

»Wartet!«, hauchte Ron und streckte einen Arm aus, damit Harry

und Hermine stehen blieben. »Sie sind immer noch in der Halle,

vielleicht können wir was hören.«

Alle drei lugten vorsichtig über das Geländer. Die düstere Halle

unten war voller Hexen und Zauberer, darunter Harrys gesamte

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Leibgarde. Sie tuschelten aufgeregt miteinander. Genau in der Mitte

der Schar erkannte Harry den dunklen, fetthaarigen Kopf und die

markante Nase seines verhasstesten Lehrers in Hogwarts, Professor

Snape. Harry beugte sich noch weiter über das Geländer. Was Snape

für den Orden des Phönix unternahm, interessierte ihn sehr …

Eine dünne, fleischfarbene Schnur senkte sich vor Harrys Augen

herab. Er blickte auf und sah Fred und George eine Treppe höher, die

vorsichtig das Langziehohr auf den dunklen Menschenknäuel unten

sinken ließen. Doch schon im nächsten Moment gingen alle in

Richtung Tür und waren außer Sicht.

»Verdammt«, hörte Harry Fred flüstern, während er das

Langziehohr wieder einholte.

Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss.

»Snape bleibt nie zum Essen hier«, klärte Ron Harry mit leiser

Stimme auf. »Gott sei Dank. Komm.«

»Und denk dran, in der Halle leise zu sein, Harry«, flüsterte

Hermine.

Als sie an der Reihe von Hauselfenköpfen an der Wand

vorbeikamen, sahen sie, wie Lupin, Mrs. Weasley und Tonks die

vielen Schlösser und Riegel der Haustür hinter den gerade

Hinausgegangenen magisch versiegelten.

»Wir essen unten in der Küche«, flüsterte Mrs. Weasley und nahm

sie am Fuß der Treppe in Empfang. »Harry, mein Lieber, würdest du

bitte auf Zehenspitzen durch die Halle gehen, es ist diese Tür dort …«

KNALL.

»Tonks!«, rief Mrs. Weasley entsetzt und wandte sich um.

Tonks lag der Länge nach auf dem Boden. »Tut mir Leid!«,

jammerte sie.

»Dieser bescheuerte Schirmständer, jetzt stolpere ich schon das

zweite Mal über den …«

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Doch ihre Worte gingen in einem fürchterlichen,

ohrenbetäubenden Schrei unter, der einem das Blut in den Adern

gefrieren ließ.

Die mottenzerfressenen Samtvorhänge, an denen Harry kurz zuvor

vorbeigegangen war, waren auseinander geflogen, aber hinter ihnen

befand sich keine Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde gla ubte Harry,

er würde durch ein Fenster blicken, ein Fenster, hinter dem eine alte

Frau mit schwarzer Haube schrie und schrie, als ob sie gefoltert würde

– dann erkannte er, dass es nichts weiter war als ein lebensgroßes

Porträt, allerdings das wirklichkeitsgetreuste und abstoßendste, das er

je gesehen hatte.

Die Alte sabberte und verdrehte die Augen, beim Schreien spannte

sich ihre gelbliche Haut straff übers Gesicht; und nun erwachten hinter

ihnen, überall in der Halle, die anderen Porträts und fingen ebenfalls

zu schreien an, so dass Harry wegen des Lärms tatsächlich die Augen

zukniff und sich die Hände auf die Ohren drückte.

Lupin und Mrs. Weasley stürzten herbei und versuchten, die

Vorhänge wieder über die Alte zu ziehen, doch sie wollten sich nicht

schließen lassen, und die Frau kreischte nur noch lauter und fuchtelte

mit ihren Klauenhänden, als wollte sie ihre Gesichter erwischen.

»Dreck! Abschaum! Ausgeburten von Schmutz und Niedertracht!

Halbblüter, Mutanten, Missgeburten, hinfort von hier! Wie könnt ihr

es wagen, das Haus meiner Väter zu besudeln …«

Tonks entschuldigte sich immer wieder, während sie das klobige,

schwere Trollbein über den Fußboden schleifte; Mrs. Weasley gab den

Versuch auf, die Vorhänge zu schließen, eilte durch die Halle und

versah alle anderen Porträts per Zauberstab mit einem Schockzauber;

aus einer gegenüberliegenden Tür stürzte ein Mann mit langen

schwarzen Haaren herein.

»Sei still, du elende alte Sabberhexe, sei STILL!«, donnerte er und

packte den Vorhang, den Mrs. Weasley losgelassen hatte.

Das Gesicht der Alten erbleichte.

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»Duuuuu!«, heulte sie und beim Anblick des Mannes quollen ihre

Augen hervor. »Verräter deines Blutes, Scheusal, Schande meines

Fleisches!«

»Ich hab – gesagt – sei STILL!«, donnerte der Mann, und unter

größter Anstrengung gelang es ihm gemeinsam mit Lupin, die

Vorhänge wieder zuzuziehen.

Die Schreie der Alten erstarben und eine dröhnende Stille legte

sich über die Halle.

Leicht keuchend drehte sich Harrys Pate Sirius um, wischte sich

die langen schwarzen Haare aus den Augen und blickte ihn an.

»Hallo, Harry«, sagte er grimmig. »Wie ich sehe, hast du meine

Mutter kennen gelernt.«

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Der Orden des Phönix

»Deine …«

»Tja, meine liebe alte Mum«, sagte Sirius. »Seit einem Monat

versuchen wir sie nun schon abzuhängen, aber ich fürchte, sie hat den

Bildrücken mit einem Dauerklebefluch an die Wand gehext. Lass uns

schnell nach unten gehen, bevor sie alle wieder aufwachen.«

»Aber was hat das Porträt deiner Mutter hier zu suchen?«, fragte

Harry verdutzt, während sie durch die Tür der Eingangshalle gingen

und dicht gefolgt von den anderen eine schmale Steintreppe

hinabstiegen.

»Hat dir das keiner erzählt? Das war das Haus meiner Eltern«,

sagte Sirius. »Aber ich bin der letzte noch lebende Black, deshalb

gehört es jetzt mir. Ich hab es Dumbledore als Hauptquartier

angeboten – so ziemlich das einzig Nützliche, was ich beitragen

konnte.«

Harry, der sich seinen Empfang anders vorgestellt hatte, fiel auf,

wie hart und bitter Sirius' Stimme klang. Er folgte seinem Paten die

Treppe hinab ins Untergeschoss und durch eine Tür, die in die Küche

führte.

Sie war ein Gewölbe mit rauen Steinwänden, kaum weniger düster

als die Eingangshalle. Das meiste Licht stammte von einem großen

Feuer am anderen Ende des Raumes. Pfeifenrauch hing in der Luft

wie Pulverdampf nach einer Schlacht, und durch den Rauchschleier

ragten die bedrohlichen Umrisse schwerer eiserner Töpfe und

Pfannen, die von der dunklen Decke hingen. Für die Versammlung

hatte man den Raum mit Stühlen voll gestellt , und mittendrin stand

ein langer Holztisch, der übersät war mit Pergamentrollen, Kelchen,

leeren Weinflaschen und, wie es den Anschein hatte, einem Haufen

Lumpen. Am Ende des Tisches hatten Mr. Weasley und sein ältester

Sohn Bill die Köpfe zusammengesteckt und redeten leise miteinander.

Mrs. Weasley räusperte sich. Ihr Gatte, ein dünner, zur Glatze

neigender rothaariger Mann mit Hornbrille, wandte den Kopf und

sprang auf.

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»Harry!«, rief Mr. Weasley, eilte herbei, um ihn zu begrüßen, und

schüttelte ihm lebhaft die Hand. »Schön, dich wieder zu sehen!«

Über seine Schulter hinweg sah Harry, wie Bill, der sein langes

Haar immer noch als Pferdeschwanz trug, hastig die Pergamentbahnen

zusammenrollte, die offen auf dem Tisch lagen.

»Gute Reise gehabt, Harry?«, rief Bill und versuchte zwölf Rollen

auf einmal aufzusammeln. »Mad-Eye hat dich also nicht über

Grönland umgeleitet?«

»Er hat's versucht«, sagte Tonks und ging auf Bill zu, um ihm zu

helfen, wobei sie sogleich eine Kerze auf das letzte Pergamentblatt

kippte. »O nein – Verzeihung …«

»Macht doch nichts«, sagte Mrs. Weasley mit leicht ärgerlichem

Unterton und brachte das Pergament mit einem Schwung ihres

Zauberstabs wieder in Ordnung. Im Lichtblitz, den ihr Zauber

verursachte, erhaschte Harry einen flüchtigen Blick auf etwas, das

aussah wie der Plan eines Gebäudes.

Mrs. Weasley hatte seinen Blick gesehen. Sie schnappte den Plan

vom Tisch und stopfte ihn in Bills ohnehin überladene Arme.

»Solche Dinge sollten nach der Versammlung schleunigst

weggeräumt werden«, fauchte sie, dann rauschte sie hinüber zu einer

alten Anrichte und fing an, Teller für das Abendessen herauszuholen.

Bill zückte seinen Zauberstab, murmelte »Evanesco!«, und die

Rollen verschwanden.

»Setz dich, Harry«, sagte Sirius. »Mundungus kennst du schon,

oder?«

Was Harry für einen Lumpenhaufen gehalten hatte, ließ einen

langen grunzenden Schnarcher hören und schreckte dann aus dem

Schlaf.

»Jeman' mein' Namen genannt?«, murmelte Mundungus

benommen. »Bin mit Sirius völlig einer Meinung …« Er schielte mit

blutunterlaufenen, trie fenden Augen ins Leere und hob eine sehr

schmutzige Hand, als wollte er abstimmen.

Ginny kicherte.

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»Die Versammlung ist zu Ende, Dung«, sagte Sirius, während sich

alle um den Tisch setzten. »Harry ist hier.«

»Hä?«, sagte Mundungus und spähte durch sein verfilztes

rotbraunes Haar niedergeschlagen zu Harry hinüber. »Meine Güte, is'

er. Jaah … alles in Or'nung mit dir, 'Arry?«

»Ja«, sagte Harry.

Mundungus, der Harry unentwegt anstarrte, stöberte fahrig in

seinen Taschen und zog eine schmierige schwarze Pfeife hervor. Er

steckte sie in den Mund, entzündete sie mit seinem Zauberstab und

nahm einen tiefen Zug. Augenblicke später verhüllten ihn große

wabernde Wolken grünlichen Rauchs.

»Schuld dir 'ne Enschulligung«, grunzte eine Stimme inmitten der

stinkenden Wolke.

»Zum letzten Mal, Mundungus«, rief Mrs. Weasley, »rauch bitte

dieses Kraut nicht in der Küche, schon gar nicht kurz vor dem Essen!«

»Ah«, machte Mundungus. »Gut. Sorry, Molly.«

Die Rauchwolke verschwand, als Mundungus seine Pfeife wieder

in die Tasche steckte, doch zurück blieb ein beißender Geruch nach

brennenden Socken.

»Und wenn ihr noch vor Mitternacht essen wollt, könnte ich ein

wenig Hilfe gebrauchen«, sagte Mrs. Weasley in die Runde. »Nein, du

bleibst sitzen, Harry, du hast eine lange Reise hinter dir.«

»Du musst mir nur sagen, was ich tun soll, Molly«, sagte Tonks

begeistert und stürmte herbei.

Mrs. Weasley zögerte. Sie sah besorgt aus.

Ȁhm Рnein, schon gut, Tonks, du ruhst dich auch aus, du hast

heute genug getan.«

»Aber nein, ich möchte helfen!«, sagte Tonks eifrig und warf einen

Stuhl um, als sie zur Anrichte stürzte, aus der Ginny gerade Besteck

nahm.

Bald schnitten eine Reihe schwerer Messer ganz von alleine

Fleisch und Gemüse, überwacht von Mr. Weasley, während Mrs.

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Weasley in einem Kessel rührte, der über dem Feuer hing, und die

Helfer Teller, Kelche und Speisen aus der Vorratskammer holten.

Harry war am Tisch sitzen geblieben wie Sirius und Mundungus, der

ihn immer noch traurig anblinzelte.

»Haste seither die alte Figgy wieder gesehn?«, fragte er.

»Nein«, sagte Harry, »ich habe niemanden getroffen.«

»Hör mal, ich war ja nich weggegangen«, sagte Mundungus,

beugte sich vor und schlug einen flehenden Ton an, »aber da war

dieses einmalige Geschäft …«

Harry spürte etwas an seinen Knien entlangstreichen und zuckte

zusammen, doch es war nur Krummbein, Hermines säbelbeiniger

orangeroter Kater, der sich schnurrend einmal um Harrys Beine

schlängelte, dann auf Sirius' Schoß hüpfte und sich dort

zusammenrollte. Sirius kraulte ihn abwesend hinter den Ohren und

wandte sich mit immer noch grimmiger Miene an Harry.

»Schönen Sommer gehabt bisher?«

»Nein, er war miserabel«, sagte Harry.

Zum ersten Mal huschte der Anflug eines Grinsens über Sirius'

Gesicht.

»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, worüber du dich beschwerst.«

»Was?«, sagte Harry verdutzt.

»Mir persönlich war ein Dementorenangriff ganz lieb gewesen. Ein

tödlicher Kampf um meine Seele war eine hübsche Unterbrechung der

Langeweile gewesen. Du glaubst, dir wär's schlecht ergangen, aber

wenigstens bist du aus dem Haus gekommen und hast dir ein wenig

die Beine vertreten, dir ein paar Kämpfe eingehandelt … Ich sitze seit

einem Monat hier fest.«

»Wieso das?«, fragte Harry stirnrunzelnd.

»Weil das Zaubereiministerium immer noch hinter mir her ist, und

Voldemort weiß inzwischen bestimmt genau Bescheid, dass ich ein

Animagus bin, Wurmschwanz wird es ihm gesagt haben, also ist

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meine Maskierung nutzlos. Ich kann nicht viel für den Orden des

Phönix tun … jedenfalls meint das Dumbledore.«

Etwas an dem leicht bedrückten Tonfall, mit dem Sirius

Dumbledores Namen aussprach, sagte Harry, dass auch Sirius nicht

besonders gut auf den Schulleiter zu sprechen war. Harry spürte ein

jähes Gefühl der Zuneigung für seinen Paten.

»Wenigstens weißt du, was passiert ist«, sagte er aufmunternd.

»Oh, ja«, entgegnete Sirius sarkastisch. »Ich hör mir Snapes

Berichte an, lass all die hämischen Andeutungen über mich ergehen,

dass er dort draußen sein Leben riskiert, während ich hier auf dem

Hintern sitze und es mir hübsch gemütlich mache … fragt er mich

doch, wie es mit dem Putzen vorangeht …«

»Putzen?«, fragte Harry.

»Wir versuchen, dieses Haus für menschliche Bewohner

herzurichten«, sagte Sirius und wies mit ausladender Geste auf die

schäbige Küche. »Seit zehn Jahren hat keiner mehr hier gele bt, seit

meine liebe Mutter gestorben ist, außer du zählst ihren alten Hauselfen

dazu, und der ist durchgedreht – er hat hier schon eine Ewigkeit nicht

mehr geputzt.«

»Sirius«, sagte Mundungus, der offenbar überhaupt nicht auf das

Gespräch geachtet, sondern einen leeren Kelch sehr genau in

Augenschein genommen hatte. »Is' das echt Silber, Mann?«

»Ja«, sagte Sirius und betrachtete angewidert den Kelch. »Feinstes

koboldgearbeitetes Silber, fünfzehntes Jahrhundert, geprägt mit dem

Familienwappen der Blacks.«

»Das kommt dann aber weg«, murmelte Mundungus und polierte

es mit dem Ärmelaufschlag.

»Fred – George – NEIN, IHR SOLLT ES TRAGEN!«, kreischte

Mrs. Weasley.

Harry, Sirius und Mundungus drehten sich um und tauchten

blitzschnell vom Tisch weg. Ein großer Kessel voller Eintopf, ein

Eisenkrug mit Butterbier und ein schweres hölzernes

Brotschneidebrett mitsamt Messer, flogen von Fred und George

- 97 -

verzaubert, durch die Luft auf sie zu. Der Eintopf schlitterte über den

Tisch, kam kurz vor der Kante zum Stehen und hinterließ eine lange

schwarze Brandspur auf dem Holz; der Butterbierkrug krachte auf die

Platte und verspritzte seinen Inhalt; das Brotmesser rutschte vom Brett

und landete, die Spitze unheilvoll im Holz zitternd, genau an der

Stelle, wo Sekunden zuvor noch Sirius' Hand gelegen hatte.

»UM HIMMELS WILLEN!«, schrie Mrs. Weasley. »DAS WAR

NICHTNÖTIG – JETZT REICHT'S MIR – NUR WEIL IHR JETZT

MAGIE GEBRAUCHEN DÜRFT, MÜSST IHR EURE

ZAUBERSTÄBE NICHT WEGEN JEDER KLEINIGKEIT

RAUSHOLEN!«

»Wir wollten doch nur ein wenig Zeit sparen!«, sagte Fred und trat

eilends hinzu, um das Brotmesser aus dem Tisch zu ziehen. »Sorry,

Sirius, altes Haus – war keine Absicht …«

Harry und Sirius lachten; Mundungus, der rücklings vom Stuhl

gefallen war, rappelte sich fluchend auf; Krummbein hatte zornig

gefaucht und war unter die Anrichte geflohen, wo seine großen gelben

Augen nun in der Dunkelheit glommen.

»Jungs«, sagte Mr. Weasley und hievte den Eintopf in die Mitte

des Tisches, »eure Mutter hat Recht, ihr solltet jetzt, da ihr volljährig

seid, ein gewisses Verantwortungsgefühl an den Tag legen …«

»Keiner eurer Brüder hat solchen Ärger gemacht!«, schimpfte Mrs.

Weasley mit den Zwillingen und knallte einen frischen Krug

Butterbier auf den Tisch, wobei nicht viel weniger verschüttet wurde

als kurz zuvor. »Bill hatte nicht das Gefühl, er müsse wegen ein paar

Metern gleich apparieren! Charlie hat nicht alles verhext, was ihm vor

die Nase kam! Percy …«

Sie verstummte schlagartig, hielt den Atem an und blickte

ängstlich zu ihrem Mann hinüber, dessen Miene plötzlich hölzern

geworden war.

»Lasst uns essen«, sagte Bill rasch.

»Sieht lecker aus. Molly«, sagte Lupin, schöpfte ihr Eintopf auf

einen Teller und reichte ihn über den Tisch.

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Einige Minuten lang, während alle sich über das Essen

hermachten, herrschte Stille, nur unterbrochen vom Klirren der Teller

und Bestecke und vom Scharren der Stühle. Dann wandte sich Mrs.

Weasley an Sirius.

»Was ich dir noch sagen wollte, Sirius, da steckt was in diesem

Schreibpult im Salon, andauernd klappert und ruckelt das. Könnte

natürlich nur ein Irrwicht sein, aber ich dachte, wir sollten Alastor

fragen, damit er einen Blick drauf wirft, bevor wir ihn rauslassen.«

»Wie du meinst«, antwortete Sirius gleichmütig.

»Und außerdem sind die Vorhänge dort drin voller Doxys«, fuhr

Mrs. Weasley fort. »Ich dachte, wir könnten die vielleicht morgen in

Angriff nehmen.«

»Ich freu mich schon drauf«, sagte Sirius. Harry hörte den

sarkastischen Unterton in seiner Stimme, war sich aber nicht sicher,

ob dies sonst noch jemandem auffiel.

Harry gegenüber saß Tonks, die Hermine und Ginny unterhielt,

indem sie zwischen zwei Bissen ihre Nase veränderte. Wie schon in

Harrys Zimmer kniff sie mit angestrengter Miene die Augen zu und

ihre Nase schwoll zu einem schnabelartigen Höcker an, ähnlich dem

von Snape und schrumpfte dann wieder auf die Größe eines

Champignons, wobei büschelweise Haare aus den Nasenlöchern

sprossen. Offenbar handelte es sich um eine ganz normale

Unterhaltungseinlage zum Abendessen, denn bald verlangten Hermine

und Ginny ihre Lieblingsnasen.

»Machen Sie die Schweineschnauze, Tonks.«

Tonks tat wie geheißen, und Harry hatte, als er aufschaute, den

flüchtigen Eindruck, ein weiblicher Dudley würde ihm von der

anderen Tischseite her zugrinsen.

Mr. Weasley, Bill und Lupin waren in ein Gespräch über Kobolde

vertieft.

»Die verraten jetzt noch nichts«, sagte Bill. »Ich weiß nach wie vor

nicht, ob sie glauben, dass er zurück ist, oder nicht. Natürlich ist es

ihnen möglicherweise lieber, nicht Partei zu ergreifen. Sich aus der

Sache rauszuhalten.«

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»Ich bin sicher, die würden nie zu Du-weißt-schon-wem

überlaufen«, sagte Mr. Weasley kopfschüttelnd. »Auch sie hatten

Verluste; erinnert ihr euch noch an diese Koboldfamilie, die er das

letzte Mal ermordet hat, in der Nähe von Nottingham?«

»Ich glaube, es hängt davon ab, was man ihnen anbietet«, sagte

Lupin. »Und ich rede nicht von Gold. Wenn man ihnen die Freiheiten

bietet, die wir ihnen seit Jahrhunderten verwehren, kommen sie in

Versuchung. Hast du noch immer kein Glück mit Ragnok gehabt,

Bill?«

»Im Moment hat er von Zauberern die Nase voll«, sagte Bill, »er

ist immer noch wütend wegen dieser Bagman-Geschichte und glaubt,

das Ministerium hätte die Sache vertuscht, diese Kobolde haben

nämlich nie ihr Gold von ihm gekriegt …«

Eine Lachsalve von der Mitte der Tafel übertönte den Rest von

Bills Worten. Fred, George, Ron und Mundungus kugelten sich auf

ihren Stühlen.

»… und dann«, japste Mundungus und Tränen liefen ihm übers

Gesicht, »und dann, ihr glaubt's mir nich, sacht er doch zu mir, sacht

er: ›Hö' mal, Dung, wo hast'en all die Kröten her? Weil irgend so 'n

Klatscherbalg hat mir doch tatsächlich alle geklaut!‹ Und ich sach:

›Dir hamse alle Kröten geklaut, Will, was nu? Da brauchst du wieder

'n paar?‹ Und ihr glaubt's mir nich, Leute, dieser grunzdumme Gnom

– kauft seine ganzen Kröten von mir zurück, für viel mehr, als er

damals gezahlt hat …«

»Ich glaube nicht, dass wir noch mehr über deine

Geschäftstätigkeiten erfahren möchten, vielen Dank, Mundungus«,

sagte Mrs. Weasley scharf, während sich Ron, brüllend vor Lachen,

bäuchlings über den Tisch warf.

»Versseihung, Molly«, sagte Mundungus rasch, wischte sich die

Augen und zwinkerte Harry zu. »Aber weiß' du, Will hatte sie ja

schon von Warzen-Harris geklaut, also hab ich eigentlich gar nix

Falsches gemacht.«

»Ich weiß nicht, wo du Richtig und Falsch zu unterscheiden gelernt

hast, Mundungus, aber offensichtlich hast du ein paar entscheidende

Lektionen verpasst«, sagte Mrs. Weasley kühl.

- 100 -

Fred und George senkten die Gesichter in ihre Butterbierkelche;

George hickste. Aus irgendeinem Grund warf Mrs. Weasley Sirius

einen sehr bösen Blick zu, dann stand sie auf, um zum Nachtisch

einen großen Rhabarberauflauf zu holen. Harry drehte sich zu seinem

Paten um.

»Molly hält nichts von Mundungus«, sagte Sirius gedämpft.

»Und wie kommt's, dass er im Orden ist?«, sagte Harry sehr leise.

»Er ist nützlich«, murmelte Sirius. »Kennt alle Gauner – klar, er ist

ja selber einer. Aber er steht auch sehr treu zu Dumbledore, weil der

ihm mal aus der Patsche geholfen hat. Es lohnt sich, jemanden wie

Dung dabeizuhaben, er hört Dinge, von denen wir nichts erfahren.

Aber Molly glaubt, es geht zu weit, wenn man ihn einlädt, zum Essen

zu bleiben. Dass er seine Pflicht hat sausen lassen, als er dich

beschatten sollte, hat sie ihm nicht verziehen.«

Drei Schläge Rhabarberauflauf mit Vanillesoße später fühlte sich

der Bund von Harrys Jeans unbequem eng an (was etwas heißen

wollte, denn die Jeans hatte einst Dudley gehört). Als er seinen Löffel

weglegte, war das Gespräch rundum ruhiger geworden: Mr. Weasley

lehnte sich im Stuhl zurück, er wirkte satt und entspannt; Tonks,

wieder mit ihrer normalen Nase, gähnte herzhaft; und Ginny, die

Krummbein unter der Anrichte hervorgelockt hatte, saß im

Schneidersitz am Boden und warf ihm Butterbierkorken zum Fangen

hin.

»Bald Zeit fürs Bett«, sagte Mrs. Weasley gähnend.

»Noch nicht ganz, Molly«, erwiderte Sirius, schob seinen leeren

Teller weg und wandte sich Harry zu. »Ehrlich gesagt, du überraschst

mich. Ich hätte gedacht, sobald du hier ankommst, stellst du Fragen

über Voldemort.«

Die Atmosphäre im Raum schlug derart schnell um, dass sich

Harry an das Auftauchen von Dementoren erinnert fühlte. Noch vor

Sekunden schläfrig und gelassen, war die Stimmung jetzt wachsam, ja

gespannt. Bei der Erwähnung Voldemorts war ein kalter Schauder um

den Tisch gegangen. Lupin, der gerade an seinem Wein nippen wollte,

ließ den Kelch langsam und mit argwöhnischer Miene sinken.

- 101 -

»Hab ich doch!«, sagte Harry entrüstet. »Ich hab Ron und Hermine

gefragt, aber die sagten, wir seie n im Orden nicht zugelassen, also …«

»Und sie haben vollkommen Recht«, sagte Mrs. Weasley. »Ihr seid

zu jung.«

Sie saß stocksteif auf ihrem Stuhl, die Fäuste auf den Armlehnen

geballt, und jede Spur von Schläfrigkeit war aus ihrem Gesicht

verschwunden.

»Seit wann muss jemand im Orden des Phönix sein, um Fragen zu

stellen?«, sagte Sirius. »Harry saß einen Monat lang in diesem

Muggelhaus fest. Er hat das Recht zu erfahren, was pass…«

»Wart mal!«, warf George laut ein.

»Wieso kriegt eigentlich Harry Antworten auf seine Fragen?«,

sagte Fred wütend.

»Wir versuchen seit einem Monat, dir was aus der Nase zu ziehen,

und du hast uns kein einziges stinkendes Wort gesagt!«, rief George.

»Ihr seid zu jung, ihr seid nicht im Orden«, sagte Fred mit schriller

Stimme, die unverkennbar nach der seiner Mutter klang. »Harry ist

noch nicht mal volljährig!«

»Es ist nicht meine Schuld, dass man euch nicht gesagt hat, was

der Orden unternimmt«, erklärte Sirius ruhig, »das war die

Entscheidung eurer Eltern. Harry jedoch …«

»Es ist nicht deine Sache, zu entscheiden, was für Harry gut ist«,

sagte Mrs. Weasley scharf. Der Ausdruck ihres sonst so freundlichen

Gesichts wirkte gefährlich. »Du hast nicht vergessen, was

Dumbledore gesagt hat, nehm ich an?«

»Was meinst du jetzt speziell?«, fragte Sirius höflich, doch mit der

Miene eines Mannes, der sich bereit zum Kampf macht.

»Dass Harry nicht mehr erfahren darf, als er wissen muss«, sagte

Mrs. Weasley und betonte die letzten beiden Wörter nachdrücklich.

Die Köpfe von Ron, Hermine, Fred und George wandten sich

abwechselnd Sirius und Mrs. Weasley zu, als würden sie einem

Ballwechsel beim Tennis folgen. Ginny kniete inmitten eines Haufens

- 102 -

herumliegender Butterbierkorken und verfolgte die Unterhaltung mit

leicht geöffnetem Mund. Lupins Blick war auf Sirius geheftet.

»Ich habe nicht die Absicht, ihm mehr zu sagen, als er wissen

muss, Molly«, erwiderte Sirius. »Aber als derjenige, der Voldemort

zurückkommen sah« (erneut ging ein Schauder reihum), »hat er eher

ein Recht als die meisten …«

»Er ist kein Mitglied des Phönixordens!«, sagte Mrs. Weasley. »Er

ist erst fünfzehn und …«

»Und er ist mit ebenso viel fertig geworden wie die meisten im

Orden«, sagte Sirius, »und mit mehr, als manche von sich behaupten

können.«

»Keiner bestreitet, was er getan hat!«, sagte Mrs. Weasley mit

erhobener Stimme und ihre Fäuste auf den Armlehnen bebten. »Aber

er ist immer noch …«

»Er ist kein Kind mehr!«, sagte Sirius unwirsch.

»Ein Erwachsener ist er auch nicht!«, erwiderte Mrs. Weasley und

ihre Wangen färbten sich. »Er ist nicht James, Sirius!«

»Mir ist vollkommen klar, wer er ist, danke, Molly«, sagte Sirius

kühl.

»Da bin ich mir nicht so sicher!«, sagte Mrs. Weasley. »Manchmal

redest du über ihn, als würdest du glauben, du hättest deinen besten

Freund wieder!«

»Was soll daran falsch sein?«, fragte Harry.

»Falsch daran ist, Harry, dass du nicht dein Vater bist, wie ähnlich

du ihm auch sein magst!«, sagte Mrs. Weasley und sah Sirius mit

bohrendem Blick an. »Du gehst noch immer zur Schule, und

Erwachsene, die für dich verantwortlich sind, sollten das nicht

vergessen!«

»Soll das heißen, ich bin ein verantwortungsloser Pate?«, fragte

Sirius und fuhr auf.

- 103 -

»Das soll heißen, dass du bekannt dafür bist, unüberlegt zu

handeln, Sirius, weshalb Dumbledore dich dauernd ermahnt, zu Hause

zu bleiben und …«

»Dumbledores Anweisungen für mich tun hier nichts zur Sache,

wenn ich bitten darf!«, sagte Sirius laut.

»Arthur!«, sagte Mrs. Weasley und wandte sich ihrem Mann zu.

»Arthur, sag doch was!«

Mr. Weasley schwieg zunächst. Er nahm die Brille ab und putzte

sie langsam an seinem Umhang, ohne seine Frau anzusehen. Erst als

er sie behutsam wieder auf die Nase gesetzt hatte, antwortete er.

»Dumbledore weiß, dass die Lage sich geändert hat, Molly. Er ist

dafür, dass Harry jetzt, da er sich im Hauptquartier aufhält, bis zu

einem gewissen Punkt unterrichtet wird.«

»Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass man ihn auffordert zu

fragen, was immer er wissen will!«

»Ich persönlich«, sagte Lupin leise und wandte endlich den Blick

von Sirius ab, während Mrs. Weasley sich rasch zu ihm umdrehte, in

der Hoffnung, nun endlich einen Verbündeten zu bekommen, »ich

persönlich halte es für besser, wenn Harry die Tatsachen erfährt –

nicht alle Tatsachen, Molly, aber er sollte einen groben Überblick

bekommen – von uns, und nicht eine entstellte Variante … von

anderen.«

Sein Gesichtsausdruck war freundlich, aber Harry war sich sicher,

dass Lupin wusste, dass einige Langziehohren Mrs. Weasleys

Säuberungsaktion überlebt hatten.

»Nun«, sagte Mrs. Weasley schwer atmend und sah vergeblich

Hilfe suchend in die Runde, »nun … ich seh schon, ich werde

überstimmt. Ich will nur eines sagen: Wenn Dumbledore nicht wollte,

dass Harry zu viel erfährt, dann muss er seine Gründe dafür gehabt

haben, und als jemand, dem Harrys ureigenes Wohl am Herzen liegt

…«

»Er ist nicht dein Sohn«, sagte Sirius leise.

- 104 -

»Aber so gut wie«, sagte Mrs. Weasley heftig. »Wen hat er denn

sonst noch?«

»Er hat mich!«

»Ja«, sagte Mrs. Weasley und ihre Lippen kräuselten sich, »die

Sache ist nur die, dass es für dich recht schwierig war, sich um ihn zu

kümmern, während du in Askaban eingesperrt warst, oder?«

Sirius machte Anstalten, sich zu erheben.

»Molly, du bist nicht der einzige Mensch hier am Tisch, der sich

um Harry sorgt«, sagte Lupin scharf. »Sirius, setz dich hin.«

Mrs. Weasleys Unterlippe bebte. Sirius sank langsam auf seinen

Stuhl zurück. Er war weiß im Gesicht.

»Ich denke, Harry sollte dabei ein Wort mitreden dürfen«, fuhr

Lupin fort, »er ist alt genug, um selbst zu entscheiden.«

»Ich will wissen, was inzwischen alles passiert ist«, sagte Harry

sofort.

Er sah Mrs. Weasley nicht an. Dass er wie ein Sohn für sie war,

wie sie gesagt hatte, rührte ihn, aber von ihr bemuttert zu werden

machte ihn auch ungeduldig. Sirius hatte Recht, er war kein Kind

mehr.

»Also gut«, sagte Mrs. Weasley mit brüchiger Stimme. »Ginny –

Ron – Hermine – Fred – George – ich will, dass ihr aus der Küche

verschwindet, und zwar sofort.«

Augenblicklich kam es zum Tumult.

»Wir sind volljährig!«, brüllten Fred und George im Chor.

»Wenn Harry darf, warum dann nicht ich?«, rief Ron.

»Mum, ich will das hören!«, klagte Ginny.

»NEIN!«, rief Mrs. Weasley und erhob sich. Ihre Augen glänzten.

»Ich verbiete euch abso…«

»Molly, Fred und George kannst du es nicht verbieten«, sagte Mr.

Weasley matt. »Sie sind volljährig.«

- 105 -

»Sie gehen immer noch zur Schule.«

»Aber dem Gesetz nach sind sie jetzt Erwachsene«, sagte Mr.

Weasley mit unverändert müder Stimme.

Mrs. Weasley war nun scharlachrot im Gesicht.

»Ich – oh, von mir aus, Fred und George können bleiben, aber Ron

…«

»Harry erzählt mir und Hermine sowieso alles, was ihr sagt!«, rief

Ron aufgebracht. »Oder – oder nicht?«, fügte er unsicher hinzu und

suchte Harrys Blick.

Einen kurzen Moment lang schoss Harry durch den Kopf, er

könnte Ron sagen, dass er kein einziges Wort von ihm zu hören

kriegen würde, damit er mal spürte, wie es war, nichts zu erfahren,

und sehen konnte, wie ihm das schmeckte. Aber der gemeine Impuls

verschwand, als sie sich anblickten.

»Klar werd ich das«, sagte Harry.

Ron und Hermine strahlten.

»Schön!«, rief Mrs. Weasley. »Schön! Ginny – INS BETT!«

Ginny ging nicht leise. Sie konnten sie die ganze Treppe hinauf

gegen ihre Mutter wüten und toben hören, und als sie die Halle

erreicht hatte, verstärkten Mrs. Blacks markerschütternde Schreie

noch das Getöse. Lupin eilte zum Porträt hoch, um für Ruhe zu

sorgen. Erst als er zurück war, die Küchentür hinter sich geschlossen

und seinen Platz am Tisch wieder eingenommen hatte, begann Sirius

zu sprechen.

»Gut, Harry … was willst du wissen?«

Harry holte tief Luft und stellte die Frage, die ihn seit einem Monat

nicht mehr losließ.

»Wo ist Voldemort?«, sagte er, ohne darauf zu achten, dass bei

dem Namen wieder alle schauderten und zusammenzuckten. »Was hat

er unternommen? Ich hab versucht die Muggelnachrichten zu sehen,

und es gab noch nichts, was nach ihm aussah, keine merkwürdigen

Todesfälle und dergleichen.«

- 106 -

»Weil es bislang noch keine merkwürdigen Todesfälle gegeben

hat«, sagte Sirius, »jedenfalls soweit wir wissen … und wir wissen

eine ganze Menge.«

»Auf jeden Fall mehr, als er glaubt«, sagte Lupin.

»Wie kommt es, dass er aufgehört hat, Menschen zu töten?«, fragte

Harry. Er wusste, dass Voldemort allein im vergangenen Jahr mehr als

einmal gemordet hatte.

»Weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will«, sagte Sirius.

»Das wäre gefährlich für ihn. Seine Rückkehr ist ihm nicht ganz so

gelungen, wie er sich das vorgestellt hat, verstehst du. Er hat sie

vermasselt.«

»Besser gesagt, du hast sie ihm vermasselt«, sagte Lupin und

lächelte zufrieden.

»Wie?«, fragte Harry perplex.

»Du solltest eigentlich nicht überleben!«, sagte Sirius. »Niemand

außer seinen Todessern sollte wissen, dass er zurück ist. Aber du hast

überlebt und kannst es bezeugen.«

»Und der Letzte, der wegen seiner Rückkehr alarmiert werden

sollte, war Dumbledore«, sagte Lupin. »Und du hast dafür gesorgt,

dass es Dumbledore sofort erfahren hat.«

»Und was hat das gebracht?«, fragte Harry.

»Machst du Witze?«, entgegnete Bill ungläubig. »Dumbledore war

der Einzige, vor dem Du-weißt-schon-wer jemals Angst hatte!«

»Dank dir konnte Dumbledore schon eine knappe Stunde nach

Voldemorts Rückkehr den Orden des Phönix wieder einberufen«,

sagte Sirius.

»Und – was hat der Orden unternommen?«, sagte Harry und

blickte in die Runde.

»Wir tun alles, was wir können, um dafür zu sorgen, dass

Voldemort seine Pläne nicht verwirklichen kann«, erwiderte Sirius.

»Woher wisst ihr, was er plant?«, fragte Harry rasch.

- 107 -

»Dumbledore hat eine ungefähre Vorstellung«, sagte Lupin, »und

Dumbledores ungefähre Vorstellungen erweisen sich normalerweise

als zutreffend.«

»Und was vermutet Dumbledore, dass er plant?«

»Nun, zunächst will er seine Armee wieder aufbauen«, sagte

Sirius. »In alten Zeiten standen gewaltige Scharen unter seinem

Befehl: Hexen und Zauberer, die er erpresst oder verhext hatte, ihm zu

folgen, seine getreuen Todesser, viele verschiedene dunkle Kreaturen.

Du hast gehört, dass er vorhat, die Riesen für sich zu gewinnen; nun,

das wird nur eine der Gruppen sein, die er für sich einnehmen will.

Mit Sicherheit wird er nicht versuchen, es nur mit einem Dutzend

Todessern gegen das Zaubereiministerium aufzunehmen.«

»Also versucht ihr, ihn aufzuhalten, bevor er noch mehr Anhänger

bekommt?«

»Wir tun unser Bestes«, erwiderte Lupin.

»Wie?«

»Nun, das Wichtigste ist, dass wir versuchen, möglichst viele

davon zu überzeugen, dass Du-weißt-schon-wer zurückgekehrt ist,

damit sie sich wappnen«, sagte Bill. »Das ist allerdings gar nicht so

einfach.«

»Warum?«

»Wegen der Haltung des Ministeriums«, sagte Tonks. »Du hast

Cornelius Fudge gesehen, nachdem Du-weißt-schon-wer

zurückgekommen war, Harry. Nun, er hat seine Position überhaupt

nicht verändert. Er weigert sich steif und fest zu glauben, dass es so

ist.«

»Aber weshalb?«, fragte Harry aufgebracht. »Weshalb ist er so

dumm? Wenn Dumbledore …«

»Tja, da hast du den Finger auf die Wunde gelegt«, sagte Mr.

Weasley mit einem gequälten Lächeln. »Dumbledore.«

»Fudge hat Angst vor ihm, verstehst du«, sagte Tonks traurig.

»Angst vor Dumbledore?«, fragte Harry ungläubig.

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»Angst vor dem, was er vorhat«, erwiderte Mr. Weasley. »Fudge

glaubt, Dumbledore heckt eine Verschwörung aus, um ihn zu stürzen.

Er glaubt, Dumbledore will Zaubereiminister werden.«

»Aber Dumbledore will doch nicht …«

»Natürlich will er nicht«, sagte Mr. Weasley. »Er wollte nie das

Amt des Ministers, obwohl eine Menge Leute ihn dazu gedrängt

haben, als Millicent Bagnold in den Ruhestand ging. Stattdessen kam

Fudge an die Macht, aber er hat nie vergessen, welch breite

Unterstützung Dumbledore genoss, obwohl er sich nie um den Posten

beworben hatte.«

»Tief in seinem Innern weiß Fudge, dass Dumbledore weit klüger

ist als er, ein viel mächtigerer Zauberer, und in seiner frühen Amtszeit

als Minister hat er Dumbledore ständig um Hilfe und Rat gebeten«,

sagte Lupin. »Aber wie es scheint, hat er sich mit der Macht

angefreundet und ist viel selbstsicherer geworden. Er genießt es,

Zaubereiminister zu sein, und hat es geschafft, sich einzureden, dass

er der Klügste ist und dass Dumbledore nur Scherereien um ihrer

selbst willen heraufbeschwört.«

»Wie kann er so etwas glauben?«, sagte Harry zornig. »Wie kann

er glauben, dass Dumbledore alles nur erfindet – dass ich alles

erfinde?«

»Wenn das Ministerium sich eingestehen würde, dass Voldemort

zurück ist, hieße das, sie hätten es mit den größten Schwierigkeiten

seit fast vierzehn Jahren zu tun«, sagte Sirius bitter. »Fudge bringt es

einfach nicht fertig, sich dem zu stellen. Es ist ja so viel bequemer,

wenn er sich einredet, Dumbledore lüge, um seine Stellung zu

untergraben.«

»Da liegt das Problem«, sagte Lupin. »Wenn das Ministerium

darauf beharrt, dass es von Voldemort nichts zu befürchten gibt, ist es

schwierig, die Leute davon zu überzeugen, dass er zurück ist,

besonders da sie es zunächst im Grunde gar nicht glauben wollen.

Zudem übt das Ministerium starken Druck auf den Tagespropheten

aus, nichts von dem zu berichten, was sie Dumbledores

Gerüchteküche nennen, also hat der größte Teil der

Zauberergemeinschaft überhaupt keine Ahnung, dass irgendetwas

- 109 -

geschehen ist, und das macht sie zu leichter Beute für die Todesser,

wenn die den Imperius-Fluch einsetzen.«

»Aber ihr erzählt es doch den Leuten, oder nicht?«, sagte Harry

und blickte reihum zu Mr. Weasley, Sirius, Bill, Mundungus, Lupin

und Tonks. »Ihr lasst die Leute doch wissen, dass er zurück ist?«

Sie lächelten gezwungen.

»Nun ja, alle glauben, ich sei ein verrückter Massenmörder, und

das Ministerium hat einen Preis von zehntausend Galleonen auf

meinen Kopf ausgesetzt. Ich kann wohl kaum durch die Straßen

ziehen und Flugblätter verteilen, oder?«, sagte Sirius unruhig.

»Und ich bin bei den meisten in der Gemeinschaft kein sonderlich

beliebter Dinnergast«, sagte Lupin. »Das gehört zum Berufsrisiko

eines Werwolfs.«

»Tonks und Arthur würden ihre Stellen im Ministerium verlieren,

wenn sie anfingen, den Mund auf zumachen«, sagte Sirius, »und es ist

sehr wichtig für uns, Spione im Ministerium zu haben, weil du davon

ausgehen kannst, dass Voldemort auch welche hat.«

»Immerhin haben wir es geschafft, ein paar Leute zu überzeugen«,

sagte Mr. Weasley. »Tonks hier, zum Beispiel – das letzte Mal war sie

noch zu jung für den Orden des Phönix, und Auroren auf unserer Seite

zu haben ist ein gewaltiger Vorteil – auch Kingsley Shacklebolt ist ein

echter Trumpf; er ist verantwortlich für die Jagd nach Sirius, also hat

er das Ministerium mit der Information gefüttert, dass Sirius in Tibet

sei.«

»Aber wenn keiner von euch die Nachricht verbreitet, dass

Voldemort zurück ist …«, fing Harry an.

»Wer sagt, dass keiner von uns die Nachricht verbreitet?«, sagte

Sirius. »Warum, glaubst du, hat Dumbledore so viel Ärger?«

»Was soll das heißen?«, fragte Harry.

»Sie versuchen ihn unglaubwürdig zu machen«, sagte Lupin. »Hast

du letzte Woche nicht den Tagespropheten gelesen? Sie haben

berichtet, dass er aus dem Vorstand der Internationalen

Zauberervereinigung rausgewählt wurde, weil er alt werde und nicht

- 110 -

mehr alle Tassen im Schrank habe, aber das stimmt nicht; er wurde

von Ministeriumszauberern rausgewählt, nachdem er in einer Rede

Voldemorts Rückkehr verkündet hatte. Sie haben ihm das Amt des

Großmeisters beim Zaubergamot entzogen – das ist das Oberste

Gericht der Zauberer – und sie reden davon, ihm auch den

Merlinorden erster Klasse abzuerkennen.«

»Aber Dumbledore sagt, ihm ist egal, was sie tun, solange sie ihn

nicht aus den Schokofroschkarten rausnehmen«, sagte Bill grinsend.

»Das ist nicht zum Lachen«, sagte Mr. Weasley scharf. »Wenn er

dem Ministerium weiterhin auf diese Weise die Stirn bietet, könnte er

in Askaban landen, und das Letzte, was wir wollen, ist ein

eingesperrter Dumbledore. Solange Du-weißt-schon-wer weiß, dass

Dumbledore irgendwo da draußen ist und seine Absichten kennt, wird

er mit Bedacht vorgehen. Wenn Dumbledore aus dem Weg ist – dann

hat Du-weißt-schon-wer freie Bahn.«

»Aber wenn Voldemort versucht noch mehr Todesser zu

gewinnen, muss doch rauskommen, dass er zurück ist, oder?«, fragte

Harry verzweifelt.

»Voldemort marschiert nicht zu den Leuten hin und klopft an ihre

Türen, Harry«, sagte Sirius. »Er überlistet, er verhext und erpresst sie.

Er handelt im Geheimen, darin hat er viel Übung. Er ist sowieso nicht

nur daran interessiert, Gefolgsleute zu sammeln. Er hat noch andere

Pläne, Pläne, die er tatsächlich ganz ohne Aufsehen verwirklichen

kann, und im Moment konzentriert er sich auf die.«

»Was sucht er denn, abgesehen von Gefolgsleuten?«, fragte Harry

rasch. Er hatte den Eindruck, Sirius und Lupin einen sehr flüchtigen

Blick austauschen zu sehen, bevor Sirius antwortete.

»Dinge, die er nur absolut heimlich bekommen kann.«

Da Harry weiterhin ratlos dreinsah, sagte Sirius: »Zum Beispiel

eine Waffe. Etwas, das er das letzte Mal nicht hatte.«

»Als er schon einmal Macht hatte?«

»Ja.«

- 111 -

»Was für eine Waffe?«, sagte Harry. »Etwas Schlimmeres als den

Avada Kedavra…?«

»Das reicht jetzt!«

Mrs. Weasley stand im Schatten neben der Tür. Harry hatte nicht

bemerkt, dass sie zurückgekehrt war, nachdem sie Ginny

hochgebracht hatte. Sie hatte die Arme verschränkt und sah wütend

aus.

»Ich möchte, dass ihr zu Bett geht, sofort. Und zwar alle«, fügte sie

hinzu und ließ den Blick über Fred, George, Ron und Hermine

wandern.

»Du kannst uns hier nicht rumkommandieren …«, begann Fred.

»Pass auf«, fauchte Mrs. Weasley. Sie zitterte leicht, als sie Sirius

ansah. »Ihr habt Harry eine Menge Informationen gegeben. Noch ein

wenig mehr, und ihr könnt ihn auch gleich in den Orden aufnehmen.«

»Warum nicht?«, warf Harry rasch ein. »Ich werde beitreten, ich

will beitreten, ich will kämpfen.«

»Nein.«

Jetzt hatte nicht Mrs. Weasley, sondern Lupin gesprochen.

»Der Orden besteht nur aus volljährigen Zauberern«, sagte er.

»Zauberern, die mit der Schule fertig sind«, fügte er hinzu, da Fred

und George die Münder aufsperrten. »Es sind Gefahren damit

verbunden, von denen ihr nichts ahnen könnt, keiner von euch … Ich

glaube, Molly hat Recht, Sirius. Wir haben genug gesagt.«

Sirius hob leicht die Achseln, entgegnete aber nichts. Mrs. Weasley

winkte ihren Söhnen und Hermine gebieterisch zu. Einer nach dem

anderen erhob sich, und Harry, der einsah, dass er verloren hatte,

folgte ihnen.

- 112 -

Das fürnehme und gar alte Haus

der Blacks

Mrs. Weasley ging mit grimmiger Miene hinter ihnen die Treppe

hinauf. »Ihr geht sofort zu Bett, und es wird nicht mehr geredet«,

befahl sie, als sie den ersten Stock erreicht hatten. »Wir haben morgen

viel zu tun. Ich denke, Ginny schläft schon«, fügte sie an Hermine

gewandt hinzu, »also versuch sie bitte nicht aufzuwecken.«

»Schläft schon, ja, sicher«, sagte Fred halblaut, als Hermine ihnen

gute Nacht gewünscht hatte und sie einen Stock höher stiegen. »Wenn

Ginny nicht noch wach ist und auf Hermine wartet, damit sie ihr alles

erzählt, was sie unten gesagt haben, dann bin ich ein Flubberwurm

…«

»Also, Ron, Harry«, sagte Mrs. Weasley auf dem zweiten

Treppenabsatz und deutete auf ihr Schlafzimmer. »Ab ins Bett mit

euch.«

»Nacht«, sagten Harry und Ron zu den Zwillingen.

»Schlaft gut«, sagte Fred augenzwinkernd.

Mrs. Weasley ließ die Tür hinter Harry laut ins Schloss fallen. Das

Schlafzimmer wirkte noch feuchter und düsterer als beim ersten

Anblick. Das leere Bild an der Wand atmete jetzt ganz langsam und

tief, als würde sein unsichtbarer Bewohner schlafen. Harry zog seinen

Schlafanzug an, nahm die Brille ab und stieg in sein klammes Bett,

während Ron Eulenkekse auf den Schrank warf, um Hedwig und

Pigwidgeon ruhig zu stimmen, die herumklackerten und nervös mit

den Flügeln raschelten.

»Wir können sie nicht jede Nacht zum Jagen rauslassen«, erklärte

Ron, während er seinen kastanienbraunen Pyjama anzog.

»Dumbledore will nicht, dass zu viele Eulen über den Platz schwirren,

das würde verdächtig aussehen, meint er. Ach ja … hab ich vergessen

…«

Er ging hinüber zur Tür und verriegelte sie.

- 113 -

»Warum machst du das?«

»Kreacher«, sagte Ron und löschte das Licht. »In meiner ersten

Nacht hier kam er um drei Uhr morgens reinspaziert. Nicht gerade

angenehm, wenn du aufwachst und siehst, dass er in deinem Zimmer

herumschleicht, glaub mir. Jedenfalls …«, er stieg ins Bett, legte sich

unter die Decke und blickte Harry in der Dunkelheit an; Harry sah

seinen Umriss im Mondlicht, das durch die schmutzige Fensterscheibe

sickerte, »was hältst du davon?«

Harry brauchte Ron nicht zu fragen, was er meinte.

»Nun, das bisschen, was sie uns erzählt haben, hätten wir uns auch

selber zusammenreimen können, oder?«, antwortete er und ließ sich

noch einmal durch den Kopf gehen, was in der Küche gesagt worden

war. »Ich meine, im Grunde haben sie nur gesagt, dass der Orden

versucht, die Leute davon abzuhalten, sich Vol…«

Ron atmete zischend ein.

»…demort anzuschließen«, sagte Harry bestimmt. »Wann fängst

du endlich an, seinen Namen zu benutzen? Sirius und Lupin tun's

auch.«

Ron überhörte seine letzte Bemerkung.

»Ja, du hast Recht«, sagte er, »wir haben schon fast alles gewusst,

was sie uns gesagt haben, weil wir die Langziehohren benutzt haben.

Das einzig Neue war …«

Knall.

»AUTSCH!«

»Sei leise, Ron, oder Mum steht gleich wieder auf der Matte.«

»Ihr zwei seid auf meinen Knien appariert!«

»Tja, im Dunkeln ist es eben schwieriger.«

Harry sah die schemenhaften Umrisse von Fred und George von

Rons Bett hüpfen. Sprungfedern ächzten, und Harrys Matratze senkte

sich eine Handbreit, als George sich neben seine Füße setzte.

»Ihr seid also schon beim Thema?«, fragte George neugierig.

- 114 -

»Bei der Waffe, von der Sirius gesprochen hat?«, sagte Harry.

»Die ihm wohl eher rausgerutscht ist«, sagte Fred, der jetzt neben

Ron saß, genüsslich. »Von der haben wir mit den ollen Langziehern

nichts gehört, oder?«

»Was wird das sein?«, meinte Harry.

»Kann alles Mögliche sein«, erwiderte Fred.

»Aber es kann doch nichts Schlimmeres geben als den Avada-

Kedavra-Fluch, oder?«, sagte Ron. »Was ist schlimmer als der Tod?«

»Vielleicht ist es etwas, das viele Menschen auf einmal töten

kann«, überlegte George.

»Vielleicht ist es eine besonders schmerzhafte Art, Leute

umzubringen«, sagte Ron beklommen.

»Wenn er Schmerzen verursachen will, hat er den Cruciatus-

Fluch«, entgegnete Harry, »er braucht nichts Wirksameres als den.«

Eine Pause trat ein, und Harry wusste, dass die anderen sich genau

wie er fragten, welches Grauen diese Waffe verbreiten mochte.

»Und wer, glaubt ihr, besitzt sie im Augenblick?«, fragte George.

»Ich hoffe, unsere Seite«, sagte Ron und klang leicht nervös.

»Wenn ja, dann bewahrt vermutlich Dumbledore sie auf«, sagte

Fred.

»Wo?«, fragte Ron rasch. »In Hogwarts?«

»Mit Sicherheit!«, sagte George. »Da hat er auch den Stein der

Weisen versteckt.«

»Eine Waffe ist aber wahrscheinlich viel größer als der Stein!«,

erwiderte Ron.

»Nicht unbedingt«, sagte Fred.

»Ja, Größe ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit Kraft«, sagte

George.

»Schau dir nur Ginny an.«

- 115 -

»Was meinst du?«, sagte Harry.

»Du bist nie in den Genuss einer ihrer Flederwichtflüche

gekommen, was?«

»Schhh!«, machte Fred und erhob sich halb vom Bett. »Hört mal!«

Sie verstummten. Schritte kamen die Treppe herauf.

»Mum«, sagte George, und mir nichts, dir nichts ertönte ein lauter

Knall, und Harry spürte, wie das Gewicht vom Fußende seines Bettes

verschwand. Ein paar Sekunden später hörten sie draußen vor der Tür

den Boden knarren; offenbar lauschte Mrs. Weasley, ob sie noch

miteinander redeten.

Hedwig und Pigwidgeon schrien klagend. Der Fußboden knarrte

erneut, und sie hörten, wie Mrs. Weasley einen Stock höher ging, um

bei Fred und George zu horchen.

»Sie traut uns kein bisschen, weißt du«, sagte Ron bedauernd.

Harry war sich sicher, dass er keinen Schlaf finden würde; an

diesem Abend war zu viel geschehen, woran er denken musste, und er

erwartete geradezu, dass er noch stundenlang daliegen und immer

wieder über alles nachgrübeln würde. Er wollte sich weiter mit Ron

unterhalten, aber Mrs. Weasley knarrte nun wieder treppab, und als sie

fort war, hörte er deutlich andere Schritte treppauf kommen …

tatsächlich taperten vielbeinige Kreaturen draußen vor der Zimmertür

leise auf und ab, und Hagrid, der Lehrer für die Pflege magischer

Geschöpfe, sagte: »Schönheiten, nicht wahr, Harry? Dieses Sc huljahr

studieren wir Waffen …«, und Harry sah, dass die Geschöpfe

Kanonen als Köpfe hatten und auf ihn zugerollt kamen … er duckte

sich …

Das Nächste, was er wahrnahm, war, dass er zu einer warmen

Kugel zusammengerollt unter seiner Bettdecke lag und Georges

Stimme laut durch den Raum drang.

»Mum sagt, dass ihr aufstehen sollt, euer Frühstück ist in der

Küche, und dann braucht sie euch im Salon, da sind viel mehr Doxys,

als sie dachte, und sie hat ein Nest mit toten Knuddelmuffs unter dem

Sofa gefunden.«

- 116 -

Eine halbe Stunde später traten Harry und Ron, die sich rasch

angezogen und gefrühstückt hatten, in den Salon, einen langen Raum

im ersten Stock mit hoher Decke und olivgrünen Wänden, an denen

schmutzige Tapeten hingen. Der Teppich atmete jedes Mal, wenn man

mit dem Fuß auftrat, kleine Staubwolken aus, und die langen

moosgrünen Samtvorhänge summten, als wären sie voll unsichtbarer

Bienenschwärme. Um diese Vorhänge herum standen Mrs. Weasley,

Hermine, Ginny, Fred und George. Mit dem Tuch, das sie alle über

Nase und Mund gebunden hatten, sahen sie recht eigentümlich aus.

Außerdem hielt jeder eine große Flasche mit schwarzer Flüssigkeit in

der Hand, die oben eine Düse hatte.

»Bedeckt die Gesichter und nehmt euch ein Spray«, sagte Mrs.

Weasley zu Harry und Ron, kaum dass sie die beiden gesehen hatte.

Sie deutete auf zwei weitere Flaschen mit schwarzer Flüssigkeit, die

auf einem storchbeinigen Tisch standen. »Das ist Doxyzid. Eine so

schlimme Verseuchung hab ich noch nie erlebt – was hat dieser

Hauself in den letzten zehn Jahren nur gemacht …«

Hermines Gesicht war halb von einem Geschirrtuch verhüllt, doch

Harry sah deutlich, wie sie Mrs. Weasley einen vorwurfsvollen Blick

zuwarf.

»Kreacher ist steinalt, er hat es wahrscheinlich nicht geschafft …«

»Du wärst überrascht, was Kreacher alles so schafft, wenn er

wirklich will, Hermine«, sagte Sirius, der gerade hereinkam. Er trug

einen blutverschmierten Sack, der offenbar tote Ratten enthielt. »Ich

hab eben Seidenschnabel gefüttert«, erklärte er auf Harrys fragenden

Blick hin. »Ich halte ihn oben im Schlafzimmer meiner Mutter. Also

… dieses Schreibpult …«

Er ließ den Sack mit Ratten auf einen Sessel fallen, dann beugte er

sich vor, um das verschlossene Schreibpult zu inspizieren, das, wie

Harry jetzt erst auffiel, leicht ruckelte.

»Nun, Molly, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Irrwicht ist«,

sagte Sirius und spähte durchs Schlüsselloch, »aber vielleicht sollte

Mad-Eye mal einen kurzen Blick drauf werfen, bevor wir ihn

rauslassen – wie ich meine Mutter kenne, könnte das noch was viel

Schlimmeres sein.«

- 117 -

»Ganz recht, Sirius«, sagte Mrs. Weasley.

Sie sprachen beide in einem bedacht unbekümmerten, höflichen

Ton miteinander, an dem Harry deutlich erkannte, dass sie ihren Streit

vom Vorabend noch nicht vergessen hatten.

Im Erdgeschoss ertönte eine laute, klirrende Glocke, und sofort

hob ein vielstimmiges Schreien und Wehklagen an, wie schon am

Vorabend, als Tonks den Schirmständer umgestoßen hatte.

»Andauernd sag ich ihnen, sie sollen nicht an der Haustür läuten!«,

rief Sirius verärgert und hastete hinaus. Sie hörten ihn die Treppe

hinunterpoltern, während Mrs. Blacks Gekeife erneut durch das Haus

hallte:

»Schandflecke, schmutzige Halbblüter, Blutsverräter,

Gossenkinder …«

»Schließ bitte die Tür, Harry«, sagte Mrs. Weasley.

Harry nahm sich gewagt lange Zeit, um die Salontür zu schließen;

er wollte hören, was unten vor sich ging. Sirius hatte es offenbar

geschafft, die Vorhänge vor dem Porträt seiner Mutter zu schließen,

denn das Geschrei war verstummt. Er hörte Sirius durch die Halle

laufen, dann das Rasseln der Kette an der Haustür, und schließlich

sagte eine tiefe Stimme, die er als die von Kingsley Shacklebolt

erkannte: »Hestia hat mich gerade abgelöst, sie hat also jetzt Moodys

Mantel, ich dachte, ich könnte einen Bericht für Dumbledore abgeben

…«

Harry spürte Mrs. Weasleys Blick im Nacken, machte bedauernd

die Salontür zu und schloss sich wieder der Doxytruppe an.

Mrs. Weasley stand über Gilderoy Lockharts Ratgeber für

Schädlinge in Haus und Hof gebeugt, der aufgeschlagen auf dem Sofa

lag, und studierte die Seite über Doxys.

»Also, hört alle mal zu, ihr müsst aufpassen, weil Doxys beißen

und ihre Zähne giftig sind. Ich habe hier eine Flasche mit Gegengift,

aber mir wär's lieber, wenn es niemand brauchte.«

Sie richtete sich auf, stellte sich breitbeinig vor die Vorhänge und

winkte sie alle nach vorne.

- 118 -

»Auf mein Kommando fangt ihr gleich an zu sprühen«, sagte sie.

»Die werden auf uns zufliegen, denke ich, aber auf den Sprays steht,

ein tüchtiger Spritzer wird sie lähmen. Wenn sie sich nicht mehr

rühren, werft sie einfach in diesen Eimer.«

Umsichtig trat sie den anderen aus der Schusslinie und hob ihr

Spray.

»Alles klar – sprüht!«

Harry hatte gerade mal ein paar Sekunden lang gesprüht, als eine

ausgewachsene Doxy aus einer Falte im Stoff hervorgeschossen kam,

mit surrenden, glänzenden, käferartigen Flügeln, die kleinen

nadelscharfen Zähne gebleckt, den feenartigen Körper mit dichtem

schwarzem Haar bedeckt und die vier winzigen Fäustchen erzürnt

geballt. Harry erwischte sie mit einer Ladung Doxyzid voll im

Gesicht. Sie erstarrte in der Luft und fiel mit einem überraschend

lauten Donk auf den abgetretenen Teppich. Harry hob sie auf und warf

sie in den Eimer.

»Fred, was machst du da?«, sagte Mrs. Weasley scharf. »Sprüh die

sofort ein und wirf sie weg!«

Harry wandte sich um. Fred hielt eine zappelnde Doxy zwischen

Zeigefinger und Daumen.

»Hab ich dich«, sagte er grinsend und sprühte der Doxy rasch ins

Gesicht, so dass sie in Ohnmacht fiel, doch kaum hatte ihm Mrs.

Weasley den Rücken zugekehrt, steckte er sie augenzwinkernd in die

Tasche.

»Wir wollen das Doxygift für unsere Nasch-und-Schwänz-

Leckereien testen«, tuschelte George Harry zu.

Harry sprayte geschickt zwei Doxys auf einmal an, die geradewegs

auf seine Nase zuflirrten, trat dann näher zu George und murmelte,

ohne die Lippen zu bewegen: »Was sind Nasch-und-Schwänz-

Leckereien?«

»Eine Auswahl von Süßigkeiten, die dich krank machen«, flüsterte

George und behielt wachsam Mrs. Weasleys Rücken im Blick. »Nicht

ernstlich krank natürlich, nur krank genug, damit man dich aus dem

Unterricht schickt, wenn dir danach ist. Fred und ich haben sie diesen

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Sommer entwickelt. Das sind zweigeteilte, farblich gekennzeichnete

Süßigkeiten zum Kauen. Wenn du von den Kotzpastillen die orange

Hälfte isst, wird dir schlecht. Sobald sie dich aus dem Unterricht in

den Krankenflügel gescheucht haben, schluckst du die lila Hälfte …«

»… die dich wieder vollkommen fit macht und es dir ermöglicht,

der Freizeitbeschäftigung deiner Wahl nachzugehen, und das in einer

Stunde, die andernfalls nutzloser Langeweile gewidmet wäre.‹ Das

schreiben wir jedenfalls in den Anzeigen«, flüsterte Fred, der sich aus

Mrs. Weasleys Sichtfeld gestohlen hatte und jetzt ein paar verstreute

Doxys vom Boden kehrte und sie zu den anderen in seine Tasche

steckte. »Aber sie sind noch nicht ganz ausgereift. Im Moment haben

unsere Testpersonen weiterhin gewisse Schwierigkeiten damit, lang

genug mit dem Kotzen aufzuhören, um das lila Ende schlucken zu

können.«

»Testpersonen?«

»Wir«, sagte Fred. »Wir nehmen sie abwechselnd. George hat die

Kollapskekse gegessen – das Nasblutnugat haben wir alle beide

ausprobiert …«

»Mum dachte, wir hätten uns duelliert«, sagte George.

»Ihr habt also immer noch vor, diesen Scherzartikelladen

aufzumachen?«, murmelte Harry, wobei er so tat, als würde er die

Düse an seinem Spray neu einrichten.

»Nun, wir haben bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt, uns um

Räumlichkeiten zu kümmern«, sagte Fred und wurde noch leiser, als

Mrs. Weasley sich die Stirn mit ihrem Halstuch abwischte, bevor sie

wieder zum Angriff schritt, »also betreiben wir ihn im Moment noch

als Versandhandel. Letzte Woche haben wir Anzeigen in den

Tagespropheten gesetzt.«

»Alles dank dir, Alter«, sagte George. »Aber mach dir keine

Sorgen … Mum hat keine Ahnung. Sie will den Tagespropheten nicht

mehr lesen, weil er Lügen über dich und Dumbledore verbreitet.«

Harry grinste. Er hatte den Weasley-Zwillingen das Preisgeld von

tausend Galleonen aufgenötigt, das er im Trimagischen Turnier

gewonnen hatte, damit sie ihren Traum verwirklichen konnten, einen

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Laden für Zauberscherze zu eröffnen, und doch war er froh zu hören,

dass Mrs. Weasley nichts von seinem Beitrag zur Förderung ihres

Vorhabens wusste. Einen Scherzartikelladen zu betreiben war in ihren

Augen keine geeignete Berufslaufbahn für zwei ihrer Söhne.

Das Dedoxieren der Vorhänge beanspruchte fast den ganzen

Vormittag. Es war nach zwölf, als Mrs. Weasley endlich ihr

Schutztuch abnahm, sich in einen durchhängenden Sessel sinken ließ

und mit einem angewiderten Schrei wieder aufsprang, weil sie sich

auf den Sack mit den toten Ratten gesetzt hatte. Die Vorhänge

summten nicht mehr; schlaff und feucht vom heftigen Besprühen

hingen sie da. Vor ihnen auf dem Boden stand der mit betäubten

Doxys gefüllte Eimer neben einer Schüssel mit ihren schwarzen Eiern,

an denen Krummbein jetzt schnüffelte und auf die Fred und George

begehrliche Blicke warfen.

»Ich denke, die nehmen wir uns nach dem Mittagessen vor.« Mrs.

Weasley deutete auf die verstaubten Vitrinen zu beiden Seiten des

Kaminsimses. Sie waren voll gestopft mit einem merkwürdigen

Sammelsurium von Dingen: einer Auswahl rostiger Dolche, Klauen,

einer eingerollten Schlangenhaut, einer Reihe angelaufener

Silberkästen mit Inschriften in Sprachen, die Harry nicht verstand,

und, am unangenehmsten von allem, einem reich verzierten

Kristallflakon mit einem großen, in den Stöpsel eingelassenen Opal,

der, da war sich Harry ziemlich sicher, mit Blut gefüllt war.

Die klirrende Türglocke ging erneut. Alle sahen Mrs. Weasley an.

»Bleibt hier«, sagte sie entschieden und schnappte sich den Sack

mit den Ratten, während Mrs. Blacks Schreie erneut von unten

heraufdrangen. »Ich bring euch ein paar Sandwiches hoch.«

Sie ging hinaus und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Sofort

stürzten alle zum Fenster und lugten hinunter zur Vortreppe. Sie

konnten einen zerzausten rotbraunen Haarschopf sehen und einen

bedrohlich windschiefen Stapel Kessel.

»Mundungus!«, sagte Hermine. »Wozu bringt er all die Kessel

mit?«

»Sucht wahrscheinlich nach einem sicheren Platz zum

Aufbewahren«, sagte Harry. »Hat er das nicht an dem Abend

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gemacht, als er mich beschatten sollte? Kessel auf dem Schwarzmarkt

besorgt?«

»Ja, stimmt!«, sagte Fred. Die Haustür ging auf; Mundungus

balancierte seine Kessel durch die Tür und verschwand im Haus.

»Verflucht, Mum wird das gar nicht gern sehen …«

Er und George gingen zur Tür und lauschten mit gespitzten Ohren.

Mrs. Blacks Geschrei hatte aufgehört.

»Mundungus unterhält sich mit Sirius und Kingsley«, murmelte

Fred und ranzelte angestrengt die Stirn. »Kann's nicht richtig hören …

meinst du, wir können es mit den Langziehohren riskieren?«

»Dürfte die Sache wert sein«, sagte George. »Ich kann nach oben

schleichen und ein Paar holen …«

Doch genau in diesem Moment brach unten ein Radau los, der

Langziehohren völlig überflüssig machte. Sie alle konnten klar

vernehmen, was Mrs. Weasley aus vollem Halse schrie.

»WIR SIND HIER KEIN VERSTECK FÜR DIEBESGUT!«

»Ich genieße es, wenn Mum jemand anderen anschreit«, sagte Fred

mit zufriedenem Lächeln und öffnete die Tür einen Spaltbreit, damit

Mrs. Weasleys Stimme besser in den Raum dringen konnte. »Ist doch

mal 'ne nette Abwechslung.«

»… VÖLLIG UNVERANTWORTLICH, ALS HÄTTEN WIR

NICHT GENUG SORGEN, DA BRAUCHST DU NICHT AUCH

NOCH GESTOHLENE KESSEL INS HAUS ZU SCHLEPPEN …«

»Diese Idioten lassen sie so richtig in Fahrt kommen«, sagte

George kopfschüttelnd. »Du musst sie möglichst früh abwürgen, sonst

läuft sie heiß wie eine Dampfwalze und dann geht das stundenlang so

weiter. Und seit Mundungus abgehauen ist statt dir zu folgen, Harry,

ist sie ganz scharf drauf, ihn mal zur Schnecke zu machen – und

Sirius' Mama legt jetzt auch wieder los.«

Mrs. Weasleys Stimme ging im erneuten Keifen und Schreien der

Porträts in der Halle unter.

George wollte gerade die Tür schließen, um den Lärm zu dämpfen,

als sich im letzten Moment ein Hauself hereindrängte.

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Abgesehen von dem schmutzigen Lumpen, den er wie einen

Lendenschurz um seinen Leib gebunden hatte, war er völlig nackt. Er

sah sehr alt aus. Seine Haut schien ein paar Nummern zu groß für ihn,

und obwohl er kahl war wie alle Hauselfen, sprossen Büschel weißen

Haares aus seinen großen, fledermausartigen Ohren. Seine Augen

waren blutunterlaufen und wässrig grau und seine große, fleischige

Nase hatte deutliche Ähnlichkeit mit einer Schnauze.

Der Elf nahm überhaupt keine Notiz von Harry und den anderen.

Er tat so, als könne er sie nicht sehen, und schlurfte mit buckligem

Rücken langsam und verbissen quer durch den Salon, wobei er mit

einer tiefen, heiseren Stimme wie der eines Ochsenfroschs unablässig

vor sich hin murmelte.

»… riecht wie eine Kloake und ist ein Verbrecher noch dazu, aber

sie ist auch nicht besser, gemeine alte Blutsverräterin, deren Bälger

das Haus meiner Herrin beschmutzen, o meine arme Herrin, wenn sie

wüsste, wenn sie wüsste, welchen Abschaum sie in ihr Haus gelassen

haben, was würde sie zum alten Kreacher sagen, o welche Schande,

Schlammblüter und Werwölfe und Verräter und Diebe, der arme alte

Kreacher, was kann er nur tun …«

»Hallo, Kreacher«, sagte Fred mit sehr lauter Stimme und ließ die

Tür zuschnappen.

Der Hauself blieb wie angewurzelt stehen, hörte auf zu murmeln

und gab einen nachdrücklichen und kaum überzeugenden

Überraschungslaut von sich.

»Kreacher hat den jungen Herrn nicht gesehen«, sagte er, drehte

sich um und verbeugte sich vor Fred. Das Gesicht noch zum Teppich

gewandt, fügte er deutlich vernehmbar hinzu: »Niederträchtiger

kleiner Balg von einem Blutsverräter, der er ist.«

»Wie bitte?«, sagte George. »Den letzten Teil hab ich nicht

mitgekriegt.«

»Kreacher hat nichts gesagt«, erwiderte der Elf mit einer zweiten

Verbeugung vor George und fügte halblaut, aber deutlich hinzu: »…

und da ist sein Zwillingsbruder, widernatürliche kleine Biester

allesamt.«

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Harry wusste nicht, ob er lachen sollte. Der Elf richtete sich auf,

beäugte sie alle feindselig und murmelte weiter, offenbar überzeugt,

dass sie ihn nicht hören konnten.

»… und da ist die Schlammblüterin, rotzfrech steht sie da, oh,

wenn meine Herrin wüsste, oh, wie sie weinen würde, und da ist ein

neuer Bursche, Kreacher kennt seinen Namen nicht. Was tut er hier?

Kreacher weiß es nicht …«

»Das ist Harry. Kreacher«, sagte Hermine behutsam. »Harry

Potter.«

Kreachers blasse Augen weiteten sich und sein Murmeln wurde

noch schneller und aufgeregter.

»Das Schlammblut spricht zu Kreacher, als ob sie mit mir

befreundet wäre; wenn Kreachers Herrin ihn in solcher Gesellschaft

sähe, oh, was würde sie sagen …«

»Nenn sie nicht Schlammblut!«, sagten Ron und Ginny

gleichzeitig und sehr zornig.

»Ist ja schon gut«, flüsterte Hermine, »er ist nicht bei Verstand, er

weiß nicht, was er …«

»Lüg dir nicht in die Tasche, Hermine, er weiß genau, was er

redet«, entgegnete Fred und musterte Kreacher mit großer Abneigung.

Die Augen auf Harry geheftet, murmelte Kreacher weiter.

»Ist das wahr? Ist es Harry Potter? Kreacher kann die Narbe sehen,

es muss wahr sein, das ist der Junge, der den Dunklen Lord aufhielt,

Kreacher fragt sich, wie er das geschafft hat …«

»Das fragen wir uns alle. Kreacher«, bemerkte Fred.

»Was willst du eigentlich?«, fragte George.

Kreachers riesige Augen zuckten zu George hinüber.

»Kreacher putzt gerade«, sagte er ausweichend.

»Wer's glaubt«, ertönte eine Stimme hinter Harry.

Sirius war zurück; von der Tür her funkelte er den Elfen an. Der

Lärm in der Halle war abgeflaut; vielleicht hatten Mrs. Weasley und

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Mundungus ihren Streit hinunter in die Küche verlegt. Beim Anblick

von Sirius machte Kreacher eine lächerlich tiefe Verbeugung und

drückte seine Schnauzennase auf dem Boden platt.

»Steh aufrecht«, fuhr ihn Sirius unwirsch an. »Nun, was führst du

im Schilde?«

»Kreacher putzt gerade«, wiederholte der Elf. »Kreacher lebt

einzig, um dem fürnehmen Haus der Blacks zu dienen …«

»Und das wird jeden Tag schwärzer, es ist dreckig«, sagte Sirius.

»Der Herr beliebte immer schon gern zu scherzen«, sagte

Kreacher, verbeugte sich erneut und fuhr halblaut fort: »Der Herr war

ein gemeines, undankbares Schwein, das Herz seiner Mutter hat er

gebrochen …«

»Meine Mutter hatte kein Herz, Kreacher«, fauchte Sirius. »Sie hat

sich aus purer Bosheit am Leben erhalten.«

Kreacher verbeugte sich erneut, während er sprach.

»Was immer der Herr sagt«, murmelte er aufgeregt. »Der Herr ist

nicht würdig, den Schlamm von den Stiefeln seiner Mutter zu

wischen, o meine arme Herrin, was würde sie sagen, wenn sie sähe,

dass Kreacher ihm dient, wie sie ihn hasste, welche Enttäuschung er

war …«

»Ich hab dich gefragt, was du im Schilde führst«, sagte Sirius kühl.

»Jedes Mal wenn du auftauchst und so tust, als würdest du putzen,

schmuggelst du irgendwas in dein Zimmer, damit wir es nicht

wegwerfen können.«

»Kreacher würde niemals etwas von seinem angestammten Platz

im Hause seines Herrn entfernen«, sagte der Elf und fügte hastig

murmelnd hinzu: »Die Herrin würde Kreacher nie vergeben, wenn der

Wandteppich rausgeworfen würde, seit sieben Jahrhunderten ist er im

Besitz der Familie, Kreacher muss ihn retten, Kreacher wird nicht

zulassen, dass der Herr und die Blutsverräter und die Bälger ihn

zerstören …«

»Hab ich's mir doch gedacht«, sagte Sirius und warf einen

verächtlichen Blick auf die Wand gegenüber. »Dem wird sie auch

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einen Dauerklebefluch auf den Rücken gehext haben, da hab ich

keinen Zweifel, aber wenn ich den loswerden kann, wird mich nichts

davon abhalten. Und nun geh, Kreacher.«

Kreacher wagte es anscheinend nicht, einen direkten Befehl zu

verweigern; doch der Blick, mit dem er Sirius bedachte, als er an ihm

vorbei hinausschlurfte, war voll tiefster Verachtung, und den ganzen

Weg hinaus murmelte er vor sich hin.

»… kommt aus Askaban zurück und kommandiert Kreacher

herum, o meine arme Herrin, was würde sie sagen, wenn sie das Haus

jetzt sähe, Abschaum lebt nun hier, ihre Schätze sind hinausgeworfen,

sie hat geschworen, dass er kein Sohn von ihr war, und er ist zurück,

es heißt, er sei auch ein Mörder …«

»Nur weiter so, dann werd ich tatsächlich noch zum Mörder!«,

sagte Sirius gereizt und schlug die Tür hinter dem Elfen zu.

»Sirius, er ist nicht bei Verstand«, flehte Hermine, »ich glaube

nicht, dass ihm klar ist, dass wir ihn hören können.«

»Er war zu lange allein«, sagte Sirius, »hat verrückte Befehle vom

Porträt meiner Mutter bekommen und mit sich selbst geredet, aber er

war immer schon ein mieser kleiner …«

»Du könntest ihm doch einfach die Freiheit geben«, sagte Hermine

hoffnungsvoll, »vielleicht …«

»Wir können ihn nicht in die Freiheit entlassen, er weiß zu viel

über den Orden«, sagte Sirius kurz angebunden. »Und außerdem

würde ihn der Schock umbringen. Schlag ihm doch mal vor, dieses

Haus zu verlassen, und sieh dir an, wie er das aufnimmt.«

Sirius ging auf die andere Seite des Salons, wo der kostbare

Teppich, den Kreacher hatte retten wollen, die ganze Wand bedeckte.

Harry und die anderen folgten ihm.

Der Wandteppich machte einen uralten Eindruck; er war

verblichen und es schien, als hätten ihn an manchen Stellen Doxys

angenagt. Dennoch schimmerte das goldene Garn, mit dem er bestickt

war, immer noch hell genug, dass man einen stark verzweigten

Familienstammbaum erkennen konnte, der (soweit Harry sagen

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konnte) bis ins Mittelalter zurückreichte. Große Buchstaben ganz oben

auf dem Teppich ergaben die Worte:

Das fürnehme und gar alte Haus der Blacks »Toujours pur«

»Du bist hier gar nicht drauf!«, sagte Harry, nachdem er sich die

letzten Verzweigungen des Baums genau angesehen hatte.

»Ich war mal drauf«, sagte Sirius und deutete auf ein kleines

rundes, verkohltes Loch im Wandbehang, das aussah wie das

Brandloch einer Zigarette. »Meine liebe alte Mutter hat mich

weggesprengt, nachdem ich von zu Hause fortgelaufen war –

Kreacher brabbelt die Geschichte immer gern vor sich hin.«

»Du bist von zu Hause weggelaufen?«

»Da war ich ungefähr sechzehn«, sagte Sirius. »Ich hatte genug.«

»Wo bist du hin?«, fragte Harry und starrte ihn an.

»Zu deinem Dad«, sagte Sirius. »Deine Großeltern haben sich

wirklich gut verhalten; sie haben mich gleichsam als zweiten Sohn

adoptiert. Ja, ich kam in den Schulferien bei deinem Dad unter, und

als ich siebzehn war, besorgte ich mir was Eigenes. Mein Onkel

Alphard hatte mir ein tüchtiges Sümmchen Gold hinterlassen – der

wurde hier auch ausradiert, vermutlich aus diesem Grund –, von da an

jedenfalls konnte ich für mich selber sorgen. Doch bei Mr. und Mrs.

Potter war ich zum Sonntagsessen immer willkommen.«

»Aber … warum bist du …«

»Gegangen?« Sirius lächelte bitter und fuhr sich mit den Fingern

durch die langen, zerzausten Haare. »Weil ich diese ganze Bagage

gehasst hab: meine Eltern mit ihrem Wahn vom reinen Blut, sie waren

überzeugt, ein Black zu sein hieße praktisch, königlich zu sein …

meinen idiotischen Bruder, unbedarft genug, ihnen zu glauben … das

ist er.«

Sirius stupste mit dem Finger ganz unten auf den Stammbaum, auf

den Namen »Regulus Black«. Ein Todesdatum (etwa fünfzehn Jahre

zurückliegend) folgte dem Geburtsdatum.

»Er war jünger als ich«, sagte Sirius, »und ein viel besserer Sohn,

woran ich ständig erinnert wurde.«

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»Aber er ist tot«, sagte Harry.

»Ja«, sagte Sirius. »Blöder Idiot … er hat sich den Todessern

angeschlossen.«

»Das meinst du nicht im Ernst!«

»Ach, Harry, hast du noch nicht genug von diesem Haus gesehen,

um zu wissen, zu welcher Art von Zauberern meine Familie

gehörte?«, sagte Sirius gereizt.

»Waren – waren deine Eltern auch Todesser?«

»Nein, nein, aber glaub mir, sie dachten, Voldemort hätte die

richtigen Vorstellungen, sie waren alle für die Säuberung der

Zaubererrasse, die Muggelstämmigen sollte man loswerden und die

Reinblütigen sollten das Sagen haben. Damit standen sie nicht allein;

bevor Voldemort sein wahres Gesicht zeigte, gab es eine ganze Menge

Leute, die glaubten, er hätte die richtigen Vorstellungen, wo es

langgehen sollte … sie kriegten allerdings kalte Füße, als sie sahen,

was er zu tun bereit war, um Macht zu gewinnen. Aber ich wette,

meine Eltern dachten anfangs, als Regulus sich denen anschloss, er sei

ein richtiger kleiner Held.«

»Hat ein Auror ihn getötet?«, fragte Harry vorsichtig.

»O nein«, sagte Sirius. »Nein, er wurde von Voldemort ermordet.

Oder eher auf Voldemorts Befehl hin: ich bezweifle, dass Regulus

jemals wichtig genug war, um von Voldemort persönlich umgebracht

zu werden. Soviel ich nach seinem Tod herausgefunden habe, hat er

bis zu einem gewissen Punkt mitgemacht, dann bekam er Panik

angesichts dessen, was von ihm verlangt wurde, und versuchte wieder

rauszukommen. Aber man reicht bei Voldemort nicht einfach seinen

Rücktritt ein. Dienen, ein Lehen lang, oder Tod.«

»Mittagessen«, ertönte Mrs. Weasleys Stimme.

Sie hielt den Zauberstab vor sich in die Höhe und balancierte auf

der Spitze eine riesige, mit Sandwiches und Kuchen beladene Platte.

Sie war ganz rot im Gesicht und sah immer noch wütend ans.

Hungrig, wie sie waren, gingen die anderen zu ihr hinüber, doch Harry

blieb bei Sirius, der sich näher zu dem Wandteppich beugte.

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»Ich hab mir das seit Jahren nicht mehr angesehen. Das ist Phineas

Nigellus … mein Ururgroßvater, siehst du? … Der unbeliebteste

Schulleiter, den Hogwarts je hatte … und Araminta Meliflua …

Cousine meiner Mutter … hat einen Ministeriumserlass durchzusetzen

versucht, der die Muggeljagd legalisieren sollte … und die liebe Tante

Elladora … sie hat die Familientradition begründet, Hauselfen zu

köpfen, wenn sie zu alt wurden, um Teetabletts zu tragen … natürlich,

jedes Mal wenn die Familie jemand halbwegs Anständigen

hervorbrachte, wurde er oder sie verstoßen. Wie ich sehe, ist Tonks

nicht hier drauf. Vielleicht nimmt Kreacher deshalb keine Befehle von

ihr entgegen – er sollte eigentlich alles tun, was ein Mitglied der

Familie von ihm verlangt …«

»Du und Tonks, ihr seid verwandt?«, fragte Harry überrascht.

»Oh, ja, ihre Mutter Andromeda war meine Lieblingscousine«,

sagte Sirius und musterte den Wandbehang mit prüfendem Blick.

»Nein, Andromeda ist auch nicht drauf, sieh …«

Er deutete auf ein weiteres kleines rundes Brandloch zwischen

zwei Namen, Bellatrix und Narzissa.

»Andromedas Schwestern sind noch da, weil sie wunderbare,

respektable Reinblutehen eingegangen sind, aber Andromeda hat

einen Muggelstämmigen geheiratet, Ted Tonks, also …«

Sirius machte eine Geste, als würde er den Teppich mit dem

Zauberstab in die Luft jagen, und lachte säuerlich. Harry allerdings

lachte nicht; er starrte gebannt auf die Namen rechts von Andromedas

Brandloch. Eine gestickte goldene Doppellinie verband Narzissa

Black mit Lucius Malfoy und eine einfache senkrechte Linie führte

von ihren Namen zu dem Namen Draco.

»Du bist mit den Malfoys verwandt!«

»Die reinblü tigen Familien sind alle miteinander verwandt!«, sagte

Sirius. »Wenn du deine Söhne und Töchter nur Reinblüter heiraten

lässt, ist die Auswahl sehr beschränkt; es gibt kaum noch welche von

uns. Molly ist eine angeheiratete Cousine von mir und Arthur ist so

was wie mein Onkel zweiten Grades. Aber es hat keinen Sinn, hier

nach ihnen zu suchen – wenn es je eine Bande von Blutsverrätern gab,

dann waren es die Weasleys.«

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Doch Harry blickte jetzt auf den Namen links von Andromedas

Brandloch: Bellatrix Black, durch eine Doppellinie verbunden mit

Rodolphus Lestrange.

»Lestrange …«, sagte Harry laut. Der Name rührte an etwas in

seinem Gedächtnis; er kannte ihn von irgendwoher, doch momentan

konnte er nicht sagen, woher, obwohl ihn bei dem Namen ein

eigenartiges, kribbelndes Gefühl in seiner Magengrube beschlich.

»Sie sitzen in Askaban«, sagte Sirius schroff.

Harry blickte ihn neugierig an.

»Bellatrix und ihr Mann Rodolphus kamen zusammen mit Barty

Crouch junior rein«, sagte Sirius mit unvermindert schroffer Stimme.

»Rodolphus' Bruder Rabastan war auch dabei.«

Jetzt erinnerte sich Harry. Er hatte Bellatrix Lestrange in

Dumbledores Denkarium gesehen, der seltsamen Apparatur, in der

Gedanken und Erinnerungen gespeichert werden konnten: eine große

schwarzhaarige Frau mit schweren Augenlidern, die vor Gericht

gestanden und ihre unverbrüchliche Treue zu Lord Voldemort

verkündet hatte, ihren Stolz, dass sie ihn nach seinem Sturz zu finden

versucht hatte, und ihre Überzeugung, dass sie eines Tages für ihre

Treue belohnt werden würde.

»Du hast nie gesagt, dass sie deine …«

»Spielt es eine Rolle, dass sie meine Cousine ist?«, fragte Sirius

knapp. »Für mich ist das nicht meine Familie. Sie jedenfalls gehört

bestimmt nicht dazu. Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich so alt

war wie du, nur einmal, als sie nach Askaban kam, habe ich einen

kurzen Blick auf sie geworfen. Glaubst du, ich bin stolz auf eine

solche Verwandte?«

»Tut mir Leid«, sagte Harry rasch, »ich hab's nicht so gemeint –

ich war nur überrascht, das ist alles …«

»Schon gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, murmelte

Sirius. Die Hände tief in den Taschen, wandte er sich von dem

Wandteppich ab. »Mir behagt es nicht, wieder hier zu sein«, sagte er

und starrte in den Salon. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal

in diesem Haus festsitzen würde.«

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Harry verstand ihn nur zu gut. Er wusste, wie er sich fühlen würde,

wenn er erwachsen wäre und glaubte, dem Ligusterweg Nummer vier

für immer entronnen zu sein, und dann zurückkehren und dort wieder

leben müsste.

»Als Hauptquartier ist es natürlich ideal«, sagte Sirius. »Mein

Vater hat, als er hier lebte, jede Sicherheitsvorkehrung ins Haus

eingebaut, die die Zaubererwelt kennt. Es ist unaufspürbar, also

können die Muggel nie mal eben vorbeischauen – als ob sie das je

wollten – und jetzt, da Dumbledore noch seinen Schutz hinzugefügt

hat, könntest du schwerlich irgendwo ein Haus finden, das sicherer ist.

Dumbledore ist der Geheimniswahrer des Ordens, weißt du – keiner

kann das Hauptquartier finden, außer er erfährt von Dumbledore

persönlich, wo es ist – diese Notiz, die Moody dir gestern Abend

gezeigt hat, die war von Dumbledore …« Sirius lachte kurz und

bellend auf. »Wenn meine Eltern sehen könnten, welchem Zweck das

Haus jetzt dient … nun, das Porträt meiner Mutter wird dir eine

ungefähre Vorstellung geben …«

Er blickte einen Moment lang finster vor sich hin, dann seufzte er.

»Ich hätte nichts dagegen, einfach mal rauszukommen und was

Nützliches zu tun. Ich hab Dumbledore gefragt, ob ich dich zu deiner

Anhörung begleiten kann – als Schnuffel natürlich –, dann könnte ich

dich ein wenig moralisch unterstützen, was hältst du davon?«

Harry hatte das Gefühl, als wäre sein Magen durch den staubigen

Teppich gesackt. Seit dem gestrigen Abendessen hatte er nicht mehr

an die Anhörung gedacht; vor Aufregung, wieder mit den Menschen

zusammen zu sein, die er am liebsten mochte, und alles, was vorging,

zu erfahren, hatte er diese Geschichte vollkommen vergessen. Bei

Sirius' Worten jedoch überfiel ihn wieder das drückende Gefühl der

Angst.

Er starrte Hermine und die Weasleys an, die mit Gusto ihre

Sandwiches verschlangen, und überlegte, wie ihm zumute wäre, wenn

sie ohne ihn nach Hogwarts zurückkehrten.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Sirius. Harry sah auf und merkte,

dass Sirius ihn beobachtet hatte. »Ich bin mir sicher, sie sprechen dich

frei, da steht tatsächlich was im Internationalen

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Geheimhaltungsabkommen, wonach Zaubern erlaubt ist, wenn es

darum geht, das eigene Leben zu retten.«

»Aber wenn sie mich trotzdem rauswerfen«, sagte Harry leise,

»kann ich dann hierher zurückkommen und bei dir leben?«

Sirius lächelte traurig.

»Wir werden sehen.«

»Diese Anhörung würde mir viel leichter fallen, wenn ich wüsste,

dass ich nicht zu den Dursleys zurückmüsste«, drängte Harry.

»Die müssen ja richtig übel sein, wenn du lieber in diesem Haus

wohnen würdest«, sagte Sirius düster.

»Beeilt euch, ihr beiden, sonst ist das Essen alle«, rief Mrs.

Weasley.

Sirius seufzte noch einmal schwer und warf einen finsteren Blick

auf den Wandteppich, dann ging er mit Harry hinüber zu den anderen.

Am Nachmittag, als sie die Vitrinen leer räumten, bemühte sich

Harry nach Kräften, nicht an die Anhörung zu denken.

Glücklicherweise verlangte diese Arbeit viel Konzentration. da etliche

der in den Schränken aufbewahrten Gegenstände ihre verstaubten

Fächer offenbar überhaupt nicht gern verließen. Sirius zog sich einen

üblen Biss von einer silbernen Schnupftabaksdose zu; Sekunden

später bildete sich auf der Haut seiner gebissenen Hand eine

unansehnliche Kruste, ähnlich einem ledrigen braunen Handschuh.

»Schon okay«, sagte er und musterte interessiert seine Hand, bevor

er sachte mit seinem Zauberstab darauf klopfte und die Haut wieder

normal werden ließ, »da muss Warzhautpulver drin sein.«

Er warf die Dose in den Sack für den Müll aus den Schränken;

Harry sah, wie George Sekunden später seine Hand sorgfältig mit

einem Tuch umwickelte, sich die Dose schnappte und sie in seiner

schon mit Doxys gefüllten Tasche verschwinden ließ.

Sie fanden ein fies aussehendes silbernes Instrument, etwas wie

eine vielgliedrige Pinzette, die, als Harry sie in die Hand nahm, wie

eine Spinne an seinem Arm emporkrabbelte und versuchte, seine Haut

zu durchstechen. Sirius packte sie und zerquetschte sie mit einem

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schweren Buch namens Noblesse der Natur: Eine Genealogie der

Zauberei. Außerdem gab es eine Spieldose, die, wenn man sie

aufgezogen hatte, eine leicht unheimliche, klingelnde Melodie hören

ließ, bei der sie alle spürten, dass sie merkwürdig schwach und

schläfrig wurden, bis Ginny sich ein Herz fasste und den Deckel

zuschlug; ein schweres Medaillon, das keiner von ihnen öffnen

konnte; eine Reihe alter Siegelstempel; schließlich, in einem

verstaubten Karton, einen Merlinorden erster Klasse, verliehen an

Sirius' Großvater für »Verdienste um das Ministerium«.

»Soll heißen, er hat ihnen eine Menge Gold zukommen lassen«,

sagte Sirius verächtlich und warf die Medaille in den Müllsack.

Mehrmals schlich sich Kreacher herein und wollte unter seinem

Lendenschurz Gegenstände davonschmuggeln, und jedes Mal wenn

sie ihn ertappten, murmelte er schreckliche Flüche. Als Sirius einen

großen Goldring mit dem Wappen der Blacks seinem Griff entwand,

brach Kreacher regelrecht in Zornestränen aus, und während er

unterdrückt schluchzend hinausging, bedachte er Sirius mit

Schimpfwörtern, die Harry noch nie zu Ohren gekommen waren.

»Der gehörte meinem Vater«, sagte Sirius und warf den Ring in

den Sack. »Kreacher war ihm nicht ganz so treu ergeben wie meiner

Mutter, und trotzdem hab ich ihn letzte Woche erwischt, wie er ein

Paar alte Hosen meines Vaters knutschte.«

Während der nächsten Tage hielt Mrs. Weasley sie eisern auf Trab.

Es dauerte drei Tage, bis der Salon entgiftet war. Schließlich waren

die einzigen noch unerwünschten Dinge im Raum der Wandteppich

mit dem Stammbaum der Blacks, der allen Versuchen widerstand, ihn

von der Wand zu entfernen, und das ruckelnde Schreibpult. Moody

hatte noch nicht im Hauptquartier vorbeigesehen, deshalb waren sie

nicht sicher, was drinsteckte.

Vom Salon aus zogen sie weiter in einen Speisesaal im

Erdgeschoss, wo sie in der Anrichte untertassengroße Spinnen auf der

Lauer fanden. (Ron verließ eilends die Stätte, um sich eine Tasse Tee

zu machen, und kehrte erst nach anderthalb Stunden zurück.) Sirius

warf sämtliches Porzellan, das mit dem Wappen der Blacks und ihrem

Wahlspruch versehen war, unfeierlich in einen Sack, und dasselbe

Schicksal traf eine Reihe alter Fotografien in angelaufenen

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Silberrahmen, deren Bewohner schrill kreischten, als ihr Deckglas zu

Bruch ging.

Snape mochte ihre Arbeit als »Putzen« bezeichnen, doch Harry

fand, sie führten eigentlich Krieg gegen das Haus, das ihnen,

unterstützt und aufgehetzt von Kreacher, einen sehr hartnäckigen

Kampf lieferte. Der Hauself tauchte stets auf, wo immer sie sich

versammelt hatten, und sein Murmeln wurde von Mal zu Mal

angriffslustiger, während er alles, dessen er habhaft werden konnte,

wieder aus den Müllsäcken herauszuklauben versuchte. Sirius ging so

weit, ihm mit Kleidung zu drohen, aber Kreacher starrte ihn mit

wässrigen Augen an und sagte: »Der Herr muss tun, was ihm beliebt«,

dann wandte er sich um und murmelte sehr laut: »Aber der Herr wird

Kreacher nicht fortschicken, nein, weil Kreacher weiß, was sie

vorhaben, o ja, er verschwört sich gegen den Dunklen Lord, ja, mit

diesen Schlammblütern und Verrätern und dem Abschaum …«

Bei diesen Worten packte Sirius, ohne auf Hermines Proteste zu

achten, Kreacher hinten am Lendenschurz und warf ihn eigenhändig

aus dem Zimmer.

Die Türglocke läutete mehrmals täglich, für Sirius' Mutter der

Einsatz für neuerliches Gekreische, für Harry und die anderen die

Möglichkeit, die Besucher zu belauschen. Allerdings konnten sie den

kurzen Blicken und Gesprächsfetzen, die sie erhaschten, nur sehr

wenig entnehmen, ehe Mrs. Weasley sie auch schon wieder an ihre

Aufgaben zurückbeorderte. Snape huschte noch mehrmals ein und

aus, doch zu Harrys Erleichterung liefen sie sich nie über den Weg;

einmal erblickte Harry auch seine Lehrerin für Verwandlung,

Professor McGonagall, die in einem Muggelkleid und -mantel sehr

komisch aussah, und auch sie schien zu beschäftigt, um sich lange

aufzuhalten. Manchmal jedoch blieben die Besucher zum Helfen.

Tonks sprang ihnen einen denkwürdigen Nachmittag lang bei, an dem

sie einen mörderischen alten Ghul fanden, der in einer Toilette im

oberen Stockwerk lauerte, und Lupin, der wie Sirius im Haus wohnte,

es jedoch immer wieder für längere Zeit verließ, um geheime Aufträge

für den Orden zu erledigen, half ihnen, eine Standuhr zu reparieren,

welche die unangenehme Gewohnheit angenommen hatte, schwere

Schrauben auf Vorbeigehende zu schießen. Mundungus stieg wieder

ein wenig in Mrs. Weasleys Achtung, indem er Ron aus einer

- 134 -

Kollektion alter purpurner Umhänge befreite, die versucht hatten ihn

zu erwürgen, als er sie aus ihrem Schrank holte.

Obwohl er immer noch schlecht schlief, immer noch von

Korridoren und verschlossenen Türen träumte und seine Narbe ziepte,

hatte Harry zum ersten Mal im ganzen Sommer Spaß. Solange er

beschäftigt war, war er glücklich; wenn die Betriebsamkeit jedoch

nachließ, wenn er nicht mehr auf der Hut war oder erschöpft im Bett

lag und verschwommene Schatten über die Decke kriechen sah, kehrte

der Gedanke an die drohende Anhörung im Ministerium zurück.

Angst stach ihm wie Nadeln in die Eingeweide, wenn er sich fragte,

was aus ihm werden sollte, falls sie ihn der Schule verwiesen. Die

Vorstellung war so schrecklich, dass er sie nicht laut auszusprechen

wagte, nicht einmal Ron und Hermine gegenüber, die er zwar häufig

tuscheln und besorgte Blicke in seine Richtung werfen sah, die seinem

Beispiel aber folgten und die Sache nicht erwähnten. Manchmal

konnte er es nicht verhindern, dass in seiner Phantasie ein

gesichtsloser Ministeriumsbeamter auftauchte, der seinen Zauberstab

entzweibrach und ihn zu den Dursleys zurückbefahl … aber dorthin

würde er nicht gehen, Das hatte er beschlossen. Er würde hierher

zurückkehren, zum Grimmauldplatz, und bei Sirius leben.

Er hatte das Gefühl, ein Backstein würde ihm in den Magen fallen,

als sich Mrs. Weasley am Mittwoch während des Abendessens zu ihm

wandte und leise sagte: »Für morgen früh hab ich dir deine besten

Sachen gebügelt, Harry, und ich möchte, dass du dir heute Abend

auch die Haare wäschst. Ein guter erster Eindruck kann Wunder

bewirken.«

Ron, Hermine, Fred, George und Ginny verstummten allesamt und

blickten zu ihm hinüber. Harry nickte und versuchte sein Kotelett

weiterzuessen, aber sein Mund war so trocken geworden, dass er nicht

kauen konnte.

»Wie komme ich dorthin?«, fragte er Mrs. Weasley, bemüht,

sorglos zu klingen.

»Arthur nimmt dich mit zur Arbeit«, antwortete Mrs. Weasley

sanft.

- 135 -

Mr. Weasley lächelte Harry aufmunternd über den Tisch hinweg

zu.

»Du kannst in meinem Büro warten, bis es Zeit für die Anhörung

ist«, sagte er.

Harry blickte zu Sirius hinüber, doch bevor er die Frage stellen

konnte, hatte Mrs. Weasley sie schon beantwortet.

»Professor Dumbledore hält es für keine gute Idee, dass Sirius dich

begleitet, und ich muss sagen, ich …«

»… denke, dass er völlig Recht hat«, presste Sirius zwischen den

Zähnen hervor.

Mrs. Weasley schürzte die Lippen.

»Wann hat Dumbledore euch das gesagt?«, fragte Harry und starrte

Sirius an.

»Er kam letzte Nacht, als ihr im Bett wart«, sagte Mrs. Weasley.

Sirius stocherte mit der Gabel missgelaunt in einer Kartoffel. Harry

senkte den Blick auf seinen Telle r. Der Gedanke, dass Dumbledore

unmittelbar vor seiner Anhörung im Haus gewesen war und ihn nicht

zu sehen verlangt hatte, ließ seine Laune, sofern das möglich war,

noch weiter sinken.

- 136 -

Das Zaubereiministerium

Harry erwachte am nächsten Morgen um halb sechs so jäh und

endgültig, als hätte ihm jemand ins Ohr geschrien. Eine Weile lag er

reglos da, während der Gedanke an die disziplinarische Anhörung in

jede winzige Verästelung seines Gehirns vordrang, bis es ihm

unerträglich wurde und er aus dem Bett sprang und die Brille

aufsetzte. Mrs. Weasley hatte seine frisch gewaschene Jeans und ein

T-Shirt am Fußende des Bettes ausgebreitet und Harry schlüpfte

hastig hinein. Das leere Bild an der Wand kicherte.

Ron lag mit weit geöffnetem Mund und alle viere von sich

gestreckt auf dem Rücken und schlief selig. Er rührte sich nicht, als

Harry das Zimmer durchquerte, auf den Treppenabsatz hinaustrat und

die Tür sachte hinter sich schloss. Harry versuchte nicht daran zu

denken, dass sie womöglich nicht mehr Klassenkameraden in

Hogwarts waren, wenn er Ron das nächste Mal sah, und stieg leise an

den Köpfen von Kreachers Vorfahren vorbei die Treppe hinab und

dann weiter hinunter zur Küche.

Er hatte nicht erwartet, jemanden vorzufinden, doch als er die Tür

erreichte, hörte er le ises Stimmengemurmel aus der Küche dringen. Er

schob die Tür auf und sah Mr. und Mrs. Weasley, Sirius, Lupin und

Tonks dasitzen, fast als würden sie auf ihn warten. Alle waren schon

angezogen, nur Mrs. Weasley trug einen lila Steppmorgenrock. Kaum

dass Harry eingetreten war, sprang sie auf.

»Frühstück«, sagte sie, zückte ihren Zauberstab und eilte hinüber

zum Feuer.

»M-M-Morgen, Harry«, gähnte Tonks. Heute Morgen hatte sie

blonde Locken. »Gut geschlafen?«

»Ja«, sagte Harry.

»Ich b-b-bin die ganze Nacht auf gewesen«, sagte sie, gähnte

erneut und erschauderte. »Komm und setz dich …«

Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und warf dabei einen

benachbarten um.

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»Was möchtest du, Harry?«, rief Mrs. Weasley. »Haferbrei?

Muffins? Räucherheringe? Speck und Eier? Toast?«

»Nur – nur Toast, danke«, sagte Harry.

Lupin warf Harry einen Blick zu, dann wandte er sich an Tonks:

»Was wolltest du eben über Scrimgeour sagen?«

»Oh … jaah. nun, wir müssen ein wenig vorsichtiger sein, er stellt

mir und Kingsley dauernd so komische Fragen …«

Harry war irgendwie dankbar, dass er sich nicht am Gespräch

beteiligen musste. Seine Eingeweide krümmten sich. Mrs. Weasley

stellte ihm ein paar Scheiben Toast und Marmelade hin und er

versuchte etwas zu essen, doch ihm war, als würde er an einem Stück

Teppich kauen. Mrs. Weasley setzte sich neben ihn und zupfte an

seinem T-Shirt herum, steckte das Etikett rein und glättete die Falten

auf den Schultern. Er hätte lieber seine Ruhe gehabt.

»… und ich muss Dumbledore mitteilen, dass ich morgen keine

Nachtschicht machen kann, ich bin einfach z-z-zu müde«, schloss

Tonks und gähnte abermals herzhaft.

»Ich spring für dich ein«, sagte Mr. Weasley. »Kein Problem für

mich, ich muss ohnehin noch einen Bericht abschließen …«

Mr. Weasley trug keinen Zaubererumhang, sondern

Nadelstreifenhosen und eine alte Bomberjacke. Er wandte sich von

Tonks zu Harry.

»Wie geht's dir?«

Harry zuckte die Achseln.

»Bald ist das alles vorbei«, sagte Mr. Weasley aufmunternd. »In

ein paar Stunden bist du freigesprochen.«

Harry schwieg.

»Die Anhörung ist auf meinem Stockwerk, im Büro von Amelia

Bones. Sie ist Leiterin der Abteilung für Magische Strafverfolgung

und sie wird dich auch vernehmen.«

»Amelia Bones ist in Ordnung, Harry«, sagte Tonks ernst. »Sie ist

fair, sie wird dich anhören.«

- 138 -

Harry wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, und nickte.

»Fahr nur nicht aus der Haut«, warf Sirius unvermittelt ein. »Bleib

höflich und halte dich an die Tatsachen.«

Harry nickte erneut.

»Das Gesetz ist auf deiner Seite«, sagte Lupin leise. »Sogar

minderjährige Zauberer dürfen in lebensbedrohlichen Situationen

Magie einsetzen.«

Etwas sehr Kaltes tröpfelte Harry den Rücken hinunter; einen

Moment lang glaubte er, jemand würde ihn mit einem

Desillusionierungszauber belegen, dann merkte er, dass Mrs. Weasley

sich mit einem nassen Kamm über seine Haare hergemacht hatte. Sie

drückte ihm fest auf den Kopf.

»Bleiben die denn nie liegen?«, sagte sie verzweifelt.

Harry schüttelte den Kopf.

Mr. Weasley warf einen Blick auf die Uhr und sah Harry an.

»Ich meine, wir sollten jetzt gehen«, sagte er. »Wir sind ein

bisschen früh dran, aber du wartest wohl besser im Ministerium als

hier rumzuhängen.«

»Okay«, entgegnete Harry mechanisch, legte seinen Toast weg und

stand auf.

»Wird schon gut gehen, Harry«, sagte Tonks und tätschelte ihm

den Arm.

»Viel Glück«, sagte Lupin. »Es wird alles bestens laufen, da bin

ich sicher.«

»Und wenn nicht«, sagte Sirius, »werd ich mich mal in deinem

Namen um diese Amelia Bones kümmern …«

Harry lächelte matt. Mrs. Weasley umarmte ihn.

»Wir drücken dir alle die Daumen«, sagte sie.

»Gut«, erwiderte Harry. »Tja … bis später dann.«

- 139 -

Er folgte Mr. Weasley nach oben und durch die Halle. Er konnte

Sirius' Mutter hinter den Vorhängen im Schlaf murren hören. Mr.

Weasley entriegelte die Tür und sie traten hinaus in die kalte, graue

Morgendämmerung.

»Sie gehen sonst nicht zu Fuß zur Arbeit, oder?«, fragte Harry,

während sie sich zügig auf den Weg um den Platz machten.

»Nein, normalerweise appariere ich«, sagte Mr. Weasley, »aber du

kannst das natürlich nicht, und ich halte es für das Beste, wenn wir auf

vollkommen unmagische Weise ankommen … macht einen besseren

Eindruck, wenn man bedenkt, wofür man dich zur Rechenschaft

ziehen will …«

Mr. Weasley behielt unterwegs die Hand in der Jacke. Harry

wusste, dass sie den Zauberstab umklammert hatte. Die

heruntergekommenen Straßen waren fast ausgestorben, doch als sie

die triste kleine U-Bahn-Station erreichten, war sie bereits voll

frühmorgendlicher Pendler. Wie immer, wenn er unter Muggeln war,

die ihren täglichen Geschäften nachgingen, fiel es Mr. Weasley

schwer, seine Begeisterung zu bändigen.

»Einfach fabelhaft«, flüsterte er und deutete auf die

Fahrkartenautomaten. »Wunderbar einfallsreich.«

»Die sind außer Betrieb«, erwiderte Harry und wies auf ein Schild.

»Ja, aber trotzdem …«, sagte Mr. Weasley und strahlte entzückt

die Automaten an.

Sie kauften ihre Fahrkarten bei einem schläfrig wirkenden

Wachmann (Harry kümmerte sich um die Bezahlung, weil Mr.

Weasley nicht sonderlich gut mit Muggelgeld zurechtkam) und fünf

Minuten später stiegen sie in eine U-Bahn, die sie ratternd ins

Zentrum von London brachte. Mr. Weasley prüfte immer wieder

wachsam die Karte des U-Bahn-Netzes über den Fenstern.

»Noch vier Stationen, Harry … Jetzt noch drei … Noch zwei

Stationen, Harry …«

Sie stiegen an einer Station im Herzen Londons aus und wurden

von einer Welle anzugtragender Männer und aktentaschenbewehrter

Frauen aus dem Zug geschwemmt. Sie fuhren die Rolltreppe hoch und

- 140 -

passierten die Drehkreuze (Mr. Weasley hatte seine Freude daran, wie

der Leseautomat seine Fahrkarte schluckte), und schließlich traten sie

hinaus auf eine breite Straße, die von imposanten Gebäuden gesäumt

und schon sehr belebt war.

»Wo sind wir?«, sagte Mr. Weasley ratlos und Harrys Herz setzte

einen Augenblick aus. Er dachte, sie wären trotz Mr. Weasleys

ständigen Blicken auf die Karte an der falschen Station ausgestiegen.

Doch schon fuhr er fort: »Ah, ja … hier lang, Harry«, und führte ihn

in eine Seitenstraße.

»Tut mir Leid«, sagte er, »aber ich komme sonst nie mit der Bahn

und aus der Muggelperspektive sieht alles ganz anders aus. Ehrlich

gesagt habe ich den Besuchereingang noch nie benutzt.«

Mit der Zeit wurden die Häuser kleiner und weniger imposant, und

schließlich erreichten sie eine Straße mit ein igen schäbig wirkenden

Bürobauten, einem Pub und einem überquellenden Müllcontainer.

Harry hätte sich das Zaubereiministerium in einer beeindruckenderen

Nachbarschaft vorgestellt.

»Da sind wir«, sagte Mr. Weasley strahlend und wies auf eine alte

rote Telefonzelle, die vor einer mit Graffiti bedeckten Mauer stand

und der einige Scheiben fehlten. »Nach dir, Harry.«

Er öffnete die Tür der Telefonzelle.

Harry trat ein und fragte sich, was um alles in der Welt dies

eigentlich sollte. Mr. Weasley zwängte sich hinter Harry hinein und

schloss die Tür. Sie konnten sich kaum rühren. Harry stand gegen das

Telefon gedrückt, das schief an der Wand hing, als hätte ein Vandale

versucht es herunterzureißen. Mr. Weasley langte an Harry vorbei

nach dem Hörer.

»Mr. Weasley, ic h glaube, das ist auch außer Betrieb«, sagte Harry.

»Nein, nein, das geht bestimmt«, sagte Mr. Weasley, hielt sich den

Hörer über den Kopf und spähte auf die Wählscheibe. »Schaun wir

mal … sechs …« er wählte die Nummer, »zwei … vier … und noch

mal vier … und eine Drei.«

Die Wählscheibe surrte sanft zurück, und in der Telefonzelle

ertönte eine kühle Frauenstimme, nicht aus dem Hörer in Mr.

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Weasleys Hand, aber so laut und klar, als würde eine unsichtbare Frau

direkt neben ihnen stehen.

»Willkommen im Zaubereiministerium. Bitte nennen Sie Ihren

Namen und Ihr Anliegen.«

»Ähm …«, sagte Mr. Weasley, offenbar unsicher, ob er in den

Hörer sprechen sollte oder nicht. Er entschloss sich dazu, die

Sprechmuschel ans Ohr zu halten: »Arthur Weasley, Büro gegen den

Missbrauch von Muggelartefakten, ist hier als Begleitung von Harry

Potter, der aufgefordert wurde, sich zu einer disziplinarischen

Anhörung einzufinden …«

»Vielen Dank«, sagte die kühle Frauenstimme. »Besucher, bitte

nehmen Sie die Plakette und befestigen Sie sie vorne an Ihrem

Umhang.«

Es klickte und ratterte, dann sah Harry etwas aus dem

Metallschacht gleiten, aus dem normalerweise die restlichen Münzen

fielen. Er nahm es in die Hand: Es war eine quadratische

Silberplakette mit dem Aufdruck Harry Potter, disziplinarische

Anhörung. Er steckte sie an die Brust seines T-Shirts und die

Frauenstimme sprach von neuem.

»Besucher des Ministeriums, Sie werden aufgefordert, sich einer

Durchsuchung zu unterziehen und Ihren Zauberstab zur Registrierung

am Sicherheitsschalter vorzulegen, der sich am Ende des Atriums

befindet.«

Der Boden der Telefonzelle bebte. Langsam versanken sie in der

Erde. Harry sah gebannt zu. wie sich der Gehweg über die Fenster der

Telefonzelle zu erheben schien, bis am Ende völlige Dunkelheit über

ihren Köpfen hereinbrach. Jetzt war nichts mehr zu sehen, nur ein

dumpfes Knirschen war zu hören, während die Telefonzelle immer

tiefer in die Erde drang. Nach etwa einer Minute, auch wenn es Harry

viel länger vorkam, fiel ein Spalt goldenen Lichts auf seine Füße,

wurde breiter und stieg an ihm hoch, bis er sein Gesicht traf und Harry

blinzeln musste, damit seine Augen nicht tränten.

»Das Zaubereiministerium wünscht Ihnen einen angenehmen

Tag«, sagte die Frauenstimme.

- 142 -

Die Tür der Telefonzelle sprang auf und Mr. Weasley trat hinaus.

Harry folgte ihm mit offenem Mund.

Sie standen am Ende einer langen und prachtvollen Halle mit

einem spiegelblank polierten dunklen Holzfußboden. In die

pfauenblaue Decke waren schimmernde goldene Symbole

eingelassen, die sich ständig bewegten und veränderten wie auf einer

riesigen himmlischen Anzeigetafel. In die mit glänzendem dunklem

Holz getäfelten Seitenwände waren viele vergoldete Kamine

eingebaut. Aus einem der Kamine an der linken Seite tauchte mit

einem leisen Wuuusch alle paar Sekunden eine Hexe oder ein

Zauberer auf. Vor den Kaminen auf der rechten Seite warteten die

Abreisenden in kurzen Schlangen.

In der Mitte der Halle stand ein Brunnen. Eine Gruppe goldener

Statuen, überlebensgroß, erhob sich inmitten eines runden

Wasserbeckens, Die größte stellte einen vornehm wirkenden Zauberer

dar, der den Zauberstab senkrecht in die Höhe reckte. Um ihn herum

gruppierten sich eine schöne Hexe, ein Zentaur, ein Kobold und ein

Hauself. Die drei Letzteren sahen mit ehrfürchtiger Miene zu der Hexe

und dem Zauberer empor. Glitzernde Wasserstrahlen schossen aus den

Spitzen ihrer Zauberstäbe und aus dem Zentaurenpfeil, aus der Spitze

des Koboldhutes und aus beiden Ohren des Hauselfen, und das helle

Zischeln der fallenden Wasserstrahlen vermengte sich mit dem

Floppen und Knallen der Apparierenden und den klackernden

Schritten Hunderter von Hexen und Zauberern, von denen die meisten

mit verdrießlichen, unausgeschlafenen Mienen auf eine Reihe

goldener Portale am anderen Ende der Halle zueilten.

»Hier lang«, sagte Mr. Weasley.

Sie schlossen sich der Menge an, bahnten sich ihren Weg zwischen

den Ministeriumsangestellten hindurch, von denen manche wacklige

Pergamentstapel trugen, andere zerbeulte Aktentaschen und wieder

andere im Gehen den Tagespropheten lasen. Als sie am Brunnen

vorbeikamen, sah Harry silberne Sickel und bronzene Knuts vom

Beckengrund zu ihm emporglitzern. Auf einem kleinen verschmierten

Schild hieß es:

ALLE EINNAHMEN AUS DEM BRUNNEN DER

MAGISCHEN GESCHWISTER GEHEN ALS SPENDE AN DAS

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ST.-MUNGO-HOSPITAL FÜR MAGISCHE KRANKHEITEN UND

VERLETZUNGEN.

Wenn sie mich nicht aus Hogwarts rausschmeißen, werf ich zehn

Galleonen rein, schoss es Harry plötzlich verzweifelt durch den Kopf.

»Hier rüber, Harry«, sagte Mr. Weasley, und sie traten heraus aus

dem Strom der Ministeriumsangestellten, die auf die goldenen Tore

zustrebten. An einem Pult zur Linken, unter einer Tafel mit der

Aufschrift Sicherheit, saß ein schlecht rasierter Zauberer in

pfauenblauem Umhang, der aufsah, als sie sich näherten, und seinen

Tagespropheten beiseite legte.

»Ich begleite einen Besucher«, sagte Mr. Weasley und wies mit der

Hand auf Harry.

»Kommen Sie her«, sagte der Zauberer gelangweilt.

Harry trat näher und der Zauberer hielt eine lange goldene Rute in

die Höhe, dünn und biegsam wie eine Autoantenne, und führte sie an

Harrys Brust und Rücken auf und ab.

»Zauberstab«, brummte der Sicherheitszauberer zu Harry, legte das

goldene Instrument beiseite und streckte die Hand aus.

Harry zog seinen Zauberstab hervor. Der Zauberer lie ß ihn auf ein

merkwürdiges Messinginstrument fallen, das an eine Waage mit nur

einer Schale erinnerte. Es fing an zu vibrieren. Ein schmaler

Pergamentstreifen schnellte aus einem Schlitz im Sockel hervor. Der

Zauberer riss ihn ab und verlas die Aufschrift.

»Elf Zoll, Kern Phönixfeder, vier Jahre in Gebrauch. Ist das

korrekt?«

»Ja«, sagte Harry nervös.

»Das hier behalte ich«, sagte der Zauberer und spießte den

Pergamentstreifen auf einen kleinen Messingdorn. »Den bekommen

Sie zurück«, fügte er hinzu und drückte Harry den Zauberstab in die

Hand.

»Danke.«

»Einen Moment noch …«, sagte der Zauberer langsam.

- 144 -

Sein Blick war von der silbernen Besucherplakette auf Harrys

Brust zu seiner Stirn gehuscht.

»Danke, Eric«, sagte Mr. Weasley bestimmt, packte Harry an der

Schulter und bugsierte ihn von dem Pult weg, wieder hinein in den

Strom von Zauberern und Hexen, die durch die goldenen Portale

gingen.

Von der Menge leicht geschoben folgte Harry Mr. Weasley durch

eines der Portale in eine kleinere Halle, wo sich hinter goldenen

schmiedeeisernen Gittern mindestens zwanzig Fahrstühle befanden.

Harry und Mr. Weasley gesellten sich zu der Gruppe, die an einem der

Fahrstühle wartete. In ihrer Nähe stand ein großer bärtiger Zauberer

mit einem großen Pappkarton, aus dem krächzende Geräusche

drangen.

»Alles klar, Arthur?«, sagte der Zauberer und nickte Mr. Weasley

zu.

»Was hast du da, Bob?«, fragte Mr. Weasley und blickte auf den

Karton.

»Wir sind uns nicht sicher«, sagte der Zauberer mit ernster Miene.

»Wir dachten erst, es wäre ein ganz gewöhnliches Huhn, bis es

angefangen hat Feuer zu spucken. Sieht mir sehr nach einer schwer

wiegenden Verletzung des Verbots experimenteller Züchtung aus.«

Unter lautem Gerassel und Geklapper sank vor ihnen ein Fahrstuhl

herab; das goldene Gitter glitt beiseite und Harry und Mr. Weasley

stiegen mit der Schar der Wartenden ein. Harry wurde nach hinten an

die Wand gedrängt. Einige Hexen und Zauberer sahen ihn neugierig

an. Er starrte auf seine Füße, um ihre Blicke zu meiden, und drückte

sich dabei die Haare platt. Die Gitter schlossen sich krachend und der

Lift begann mit ratternden Ketten langsam seinen Aufstieg, während

die gleiche kühle Frauenstimme, die Harry in der Telefonzelle gehört

hatte, erneut zu sprechen anfing.

»Siebter Stock, Abteilung für Magische Spiele und Sportarten, mit

der Zentrale der Britischen und Irischen Quidditch-Liga, dem

Offiziellen Koboldstein-Klub und dem Büro für Lächerliche Patente.«

- 145 -

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Harry erhaschte einen Blick auf

einen schmuddelig wirkenden Korridor mit verschiedenen schief an

die Wände gepinnten Postern von Quidditch-Mannschaften. Einer der

Zauberer im Fahrstuhl, den Arm voller Besen, löste sich mühsam aus

dem Gedrängel und verschwand auf dem Korridor. Die Türen

schlossen sich, der Lift stieg ruckelnd weiter nach oben und die

Frauenstimme verkündete:

»Sechster Stock, Abteilung für Magisches Transportwesen, mit der

Flohnetzwerkaufsicht, dem Besenregulationskontrollamt, dem

Portschlüsselbüro und dem Appariertestzentrum.«

Wieder öffneten sich die Fahrstuhltüren und vier oder fünf Hexen

und Zauberer stiegen aus; gleichzeitig schwebten mehrere

Papierflieger herein. Harry starrte sie an. während sie lässig über

seinem Kopf umherflatterten; sie waren blassviolett und er konnte

erkennen, dass sie am Flügelrand den Stempel Zaubereiministerium

trugen.

»Das sind nur Memos, die zwischen den Abteilungen ausgetauscht

werden«, murmelte Mr. Weasley ihm zu. »Früher haben wir Eulen

eingesetzt, aber du kannst dir den Dreck nicht vorstellen … die ganzen

Schreibtische voller Mist …«

Erneut ging es klappernd aufwärts, und die Memos umflatterten die

Leuchte, die von der Decke des Fahrstuhls pendelte.

»Fünfter Stock, Abteilung für Internationale Magische

Zusammenarbeit, mit dem Internationalen Magischen

Handelsstandardausschuss, dem Internationalen Büro für Magisches

Recht und der Internationalen Zauberervereinigung, britische

Sektion.«

Als die Türen aufgingen, schossen zwei Memos hinaus, gefolgt

von einigen Hexen und Zauberern, aber noch mehr Memos flatterten

herein und umschwirrten die Lampe, so dass es über ihren Köpfen

flackerte und blitzte.

»Vierter Stock, Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer

Geschöpfe, mit der Tierwesen–, der Zauberwesen- und der

Geisterbehörde, dem Koboldverbindungsbüro und dem

Seuchenberatungsbüro.«

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»'tschuldigung«, sagte der Zauberer mit dem Feuer speienden

Huhn und verließ, gefolgt von einem kleinen Schwarm Memos, den

Fahrstuhl. Die Türen schepperten wieder zu.

»Dritter Stock, Abteilung für Magische Unfälle und Katastrophen,

mit dem Kommando für die Umkehr verunglückter Magie, der

Vergissmich-Zentrale und dem Komitee für Muggelgerechte

Entschuldigungen.«

Auf diesem Stockwerk leerte sich der Fahrstuhl, zurück blieben nur

Mr. Weasley, Harry und eine Hexe, die ein äußerst langes, auf den

Boden hängendes Pergament las. Die verbliebenen Memos

umschwirrten weiter die Lampe, während der Lift wieder nach oben

ruckelte; dann öffneten sich die Türen und die Stimme machte ihre

Ansage.

»Zweiter Stock, Abteilung für Magische Strafverfolgung, mit dem

Büro gegen den Missbrauch der Magie, der Aurorenzentrale und dem

Zaubergamot-Verwaltungsdienst.«

»Wir sind da, Harry«, sagte Mr. Weasley und sie folgten der Hexe

aus dem Lift in einen von Türen gesäumten Korridor. »Mein Büro ist

am anderen Ende des Ganges.«

»Mr. Weasley«, sagte Harry, als sie an einem Fenster

vorbeikamen, durch das Sonnenlicht flutete, »wir sind doch immer

noch unter der Erde?«

»Ja, allerdings«, sagte Mr. Weasley. »Das hier sind verzauberte

Fenster, die Zauberei-Zentralverwaltung entscheidet, was für Wetter

wir Tag für Tag bekommen. Das letzte Mal, als sie eine

Gehaltserhöhung durchsetzen wollten, hatten wir zwei Monate lang

Wirbelstürme … Hier rüber, Harry.«

Sie bogen um eine Ecke, traten durch eine schwere eichene

Flügeltür und gelangten in einen weitläufigen, unübersichtlichen

Raum, der in Bürozellen unterteilt war und vor Stimmengewirr und

Gelächter summte. Memos schossen wie Miniraketen in die Zellen

und wieder heraus. Auf einem schief hängenden Schild an der

nächstgelegenen Zelle stand: Aurorenzentrale.

- 147 -

Harry lugte verstohlen durch die Türöffnungen, an denen sie

vorbeikamen. Die Auroren hatten die Wände ihrer Bürozellen mit

allem Möglichen beklebt, mit Fahndungsbildern von Zauberern und

Familienfotos der Auroren ebenso wie mit Postern ihrer

Lieblingsmannschaften im Quidditch und Artikeln aus dem

Tagespropheten. Ein Mann mit scharlachrotem Umhang und einem

noch längeren Pferdeschwanz als Bill saß da, hatte die Füße auf den

Schreibtisch gelegt und diktierte seiner Feder einen Bericht. Ein Stück

weiter unterhielt sich eine Hexe mit Augenklappe über die Trennwand

ihrer Zelle hinweg mit Kingsley Shacklebolt.

»Morgen, Weasley«, sagte Kingsley beiläufig, als sie näher traten.

»Ich wollte Sie mal kurz sprechen, haben Sie eine Sekunde Zeit?«

»Ja, wenn es wirklich nur eine Sekunde ist«, sagte Mr. Weasley.

»Ich hab's ziemlich eilig.«

Sie sprachen miteinander, als ob sie sich kaum kennen würden, und

als Harry den Mund öffnete, um Kingsley hallo zu sagen, trat ihm Mr.

Weasley auf den Fuß. Sie folgten Kingsley den Gang entlang in die

allerletzte Zelle.

Harry versetzte es einen leichten Schock; aus allen Richtungen

zwinkerte ihm Sirius' Gesicht entgegen. Zeitungsausschnitte und alte

Fotos – selbst das von Sirius als Trauzeuge bei der Hochzeit der

Potters – bedeckten die Wände. Der einzige siriusfreie Platz war eine

Weltkarte, auf der kleine rote Stecknadeln wie Juwelen glänzten.

»Hier«, sagte Kingsley abrupt und drückte Mr. Weasley ein

Pergamentbündel in die Hand. »Ich brauche möglichst viele

Informationen über fliegende Muggelfahrzeuge. die in den letzten

zwölf Monaten gesichtet wurden. Wir wurden informiert, dass Black

womöglich immer noch sein altes Motorrad benutzt.«

Kingsley zwinkerte unübersehbar zu Harry hinüber und fügte

flüsternd hinzu: »Gib ihm das Magazin, das könnte ihn interessieren.«

Dann sagte er wieder mit normaler Stimme: »Und lassen Sie sich

nicht zu lange Zeit, Weasley, dieser verspätete Beinfeuerwaffen-

Bericht hat unsere Untersuchung um einen Monat verzögert.«

»Wenn Sie meinen Bericht gelesen hätten, wüssten Sie, dass der

Begriff Handfeuerwaffen lautet«, sagte Mr. Weasley kühl. »Und ich

- 148 -

fürchte, Sie müssen sich mit Informationen über Motorräder noch

gedulden; wir sind im Moment vollauf beschäftigt.« Er senkte die

Stimme und sagte: »Falls du dich vor sieben loseisen kannst, Molly

macht Fleischbällchen.«

Er winkte Harry und führte ihn aus Kingsleys Zelle, durch eine

zweite eichene Flügeltür und in einen weiteren Durchgang, wandte

sich nach links, ging wiederum einen Korridor entlang und bog nach

rechts in einen schwach beleuchteten und besonders schmuddeligen

Flur ein, der an einer Mauer endete. Links stand eine Tür offen und

gab den Blick auf einen Besenschrank frei, und an der Tür zur

Rechten hing ein stumpfes Messingschild mit der Aufschrift:

Missbrauch von Muggelartefakten.

Mr. Weasleys schäbiges Büro wirkte noch ein wenig kleiner als der

Besenschrank. Mit Müh und Not hatten zwei Schreibtische darin Platz

gefunden, und weil die Wände mit überquellenden Aktenschränken

voll gestellt waren, auf denen wacklige Ordnerstapel lagen, konnte

man sich kaum bewegen. Was an Wandfläche noch frei war, bezeugte

Mr. Weasleys Leidenschaften: mehrere Autoplakate, auch eines von

einem zerlegten Motor; zwei Zeichnungen von Briefkästen, die er

offenbar aus Kinderbüchern für Muggel ausgeschnitten hatte; und ein

Schaubild, das zeigte, wie man einen Stecker verkabelt.

In Mr. Weasleys überquellendem Eingangskorb lagen ein alter

Toaster, der einen jämmerlichen Schluckauf hatte, und ein Paar leerer

Lederhandschuhe, die Däumchen drehten.

Neben dem Eingangskorb stand ein Foto der Familie Weasley.

Harry fiel auf, dass Percy offenbar aus dem Bild gelaufen war.

»Wir haben kein Fenster«, sagte Mr. Weasley entschuldigend, zog

seine Bomberjacke aus und hängte sie über seine Stuhllehne. »Wir

haben eins beantragt, aber man glaubt offenbar, wir brauchten keines.

Setz dich, Harry, sieht aus, als wäre Perkins noch nicht da.«

Harry zwängte sich auf den Stuhl hinter Perkins' Schreibtisch,

während Mr. Weasley das Pergamentbündel durchstöberte, das

Kingsley Shacklebolt ihm gegeben hatte.

»Ah«, sagte er grinsend, als er aus der Mitte des Bündels ein

Magazin namens Der Klitterer hervorzog, »ja …« Er blätterte es

- 149 -

durch. »Ja, er hat Recht, Sirius wird das sicher ganz amüsant finden

… o meine Güte, was ist das jetzt wieder?«

Ein Memo war soeben durch die offene Tür geflogen und hatte

sich flatternd auf dem hicksenden Toaster niedergelassen. Mr.

Weasley entfaltete es und las laut vor:

»›Dritte wieder ausspuckende öffentliche Toilette in Bethnal Green

gemeldet, bitte unverzüglich Nachforschungen anstellend Das wird

allmählich lächerlich …«

»Eine wieder ausspuckende Toilette?«

»Anti-Muggel-Scherzbolde«, sagte Mr. Weasley stirnrunzelnd.

»Letzte Woche hatten wir zwei, eine in Wimbledon und eine in

Elephant and Castle. Die Muggel drücken die Spülung, und statt dass

alles verschwindet – nun, du kannst es dir vorstellen. Die Armen rufen

ständig diese Pempler, so heißen die, glaub ich – du weißt schon, die

Abflüsse und so reparieren.«

»Klempner?«

»Ja, genau, aber natürlich sind die fassungslos. Wer immer das

auch tut, ich kann nur hoffen, dass wir sie kriegen.«

»Werden die Auroren sie fangen?«

»O nein, das war nur Kleinkram für die Auroren, das macht die

gewöhnliche Magische Strafverfolgungspatrouille – ah, Harry, das ist

Perkins.«

Ein untersetzter, schüchtern wirkender alter Zauberer mit weißem

Flaumhaar war gerade keuchend hereingekommen.

»Oh, Arthur!«, sagte er verzweifelt, ohne Harry anzusehen. »Dem

Himmel sei Dank, ich wusste nicht, was ich tun sollte, hier auf dich

warten oder nicht. Eben habe ich eine Eule zu dir nach Hause

geschickt, aber sie hat dich offenbar verfehlt – vor zehn Minuten kam

eine dringende Nachricht rein …«

»Die wieder ausspuckende Toilette, ich weiß Bescheid«, sagte Mr.

Weasley.

- 150 -

»Nein, nein, nicht die Toilette, es geht um die Anhörung dieses

Potter-Jungen – sie haben Zeit und Ort geändert – es fängt jetzt um

acht Uhr an, unten im alten Gerichtsraum zehn …«

»Unten im alten – aber sie haben mir – beim Barte des Merlin!«

Mr. Weasley sah auf die Uhr, schrie auf und sprang vom Stuhl.

»Schnell, Harry, wir hätten schon vor fünf Minuten dort sein

sollen!«

Perkins drückte sich gegen die Aktenschränke, als Mr. Weasley,

dicht gefolgt von Harry, aus dem Büro stürmte.

»Warum haben sie den Termin geändert?«, fragte Harry atemlos,

während sie an den Aurorenzellen vorbeihasteten; einige streckten

ihre Köpfe heraus und starrten ihnen nach. Harry war, als hätte er sein

Inneres an Perkins' Schreibtisch zurückgelassen.

»Ich hab keine Ahnung, aber dem Himmel sei Dank sind wir so

früh hergekommen, eine Katastrophe, wenn du's versäumt hättest!«

Mr. Weasley kam schlitternd neben den Fahrstühlen zum Stehen

und drückte ungeduldig auf den »Abwärts«-Knopf.

»MACH schon!«

Der Fahrstuhl klapperte herbei und sie stürzten hinein. Jedes Mal

wenn er anhielt, fluchte Mr. Weasley wütend und traktierte den Knopf

für Stockwerk neun.

»Diese Gerichtsräume sind seit Jahren nicht mehr benutzt

worden«, sagte Mr. Weasley aufgebracht. »Ich kann mir nicht

vorstellen, warum sie es dort unten machen – außer – aber nein …«

In diesem Moment betrat eine pummelige Hexe mit einem

rauchenden Kelch den Fahrstuhl und Mr. Weasley unterbrach sich.

»Das Atrium«, sagte die kühle Frauenstimme, die goldenen Gitter

glitten beiseite und Harry erhaschte einen Blick auf den fernen

Brunnen mit seinen goldenen Statuen. Die pummelige Hexe stieg aus

und ein fahlhäutiger Zauberer mit ausgesprochen trauervoller Miene

kam herein.

- 151 -

»Morgen, Arthur«, sagte er mit Grabesstimme, als der Lift weiter

nach unten fuhr. »Man sieht dich nicht oft hier unten.«

»Dringende Angelegenheit, Bode«, sagte Mr. Weasley, wippte auf

den Fußballen hin und her und warf Harry besorgte Blicke zu.

»Ah, ja«, sagte Bode und musterte Harry mit starrem Gesicht.

»Natürlich.«

Harry war kaum in der Lage, sich mit Bode zu beschäftigen, aber

unter dessen unentwegtem Starren wurde ihm nicht gerade

behaglicher zumute.

»Mysteriumsabteilung«, sagte die kühle Frauenstimme und beließ

es dabei.

»Rasch, Harry«, sagte Mr. Weasley, als die Fahrstuhltüren sich

ratternd öffneten, und sie eilten einen Korridor entlang, der sich

deutlich von denen in den oberen Stockwerken unterschied. Die

Wände waren kahl; es gab keine Fenster und keine Türen, abgesehen

von einer schlichten schwarzen ganz am Ende des Korridors. Harry

glaubte, sie würden dort hineingehen, stattdessen packte ihn Mr.

Weasley am Arm und zog ihn nach links, wo ein Durchgang zu einer

Treppe führte.

»Hier runter, hier runter«, keuchte Mr. Weasley und nahm immer

zwei Stufen auf einmal. »Der Fahrstuhl kommt gar nicht so weit …

warum machen sie es dort unten, ich …«

Sie gelangten zum Fuß der Treppe und rannten einen weiteren

Korridor entlang, der mit seinen groben Steinwänden, an denen

Fackeln steckten, jenem sehr ähnelte, der zu Snapes Kerker in

Hogwarts führte. Die Türen, an denen sie vorbeikamen, waren aus

schwerem Holz mit eisernen Riegeln und Schlüssellöchern.

»Gerichtsraum … zehn … ich glaube … wir sind fast … ja.« Mr.

Weasley hielt stolpernd vor einer schmutzigen dunklen Tür mit einem

mächtigen Eisenschloss, sackte gegen die Mauer und griff sich an die

stechende Brust.

»Geh weiter«, keuchte er und wies mit dem Daumen auf die Tür.

»Geh da rein.«

- 152 -

»Kommen Sie – kommen Sie nicht mit?«

»Nein, nein, ich bin nicht zugelassen. Viel Glück!« Harrys Herz

schlug in einem heftigen Trommelwirbel gegen seinen Adamsapfel.

Er schluckte schwer, drückte den massiven eisernen Türgriff und trat

in den Gerichtsraum.

- 153 -

Die Anhörung

Harry riss den Mund auf – er konnte nicht anders. Der große

Kerker, den er betreten hatte, kam ihm schrecklich bekannt vor. Er

hatte ihn nicht nur schon einmal gesehen, er war auch schon einmal

hier gewesen. Dies war der Ort, den er in Dumbledores Denkarium

besucht hatte, der Ort, an dem er beobachtet hatte, wie die Lestranges

zu lebenslänglicher Haft in Askaban verurteilt wurden.

Die Mauern waren aus dunklem Stein, von Fackeln spärlich

beleuchtet. Links und rechts von ihm erstreckten sich leere

Bankreihen bis hoch hinauf, doch ihm gegenüber, auf den höchsten

Bänken, waren viele schattenhafte Gestalten zu erkennen. Sie hatten

leise geredet, doch als die schwere Tür hinter Harry zuschlug, trat eine

unheilvolle Stille ein.

Eine kalte männliche Stimme gellte durch den Gerichtsraum.

»Du kommst zu spät.«

»Verzeihung«, sagte Harry nervös. »Ich – ich wusste nic ht, dass

der Termin geändert wurde.«

»Das ist nicht die Schuld des Zaubergamots«, sagte die Stimme.

»Eine Eule wurde heute Morgen zu dir geschickt. Nimm deinen Platz

ein.«

Harry senkte den Blick auf den Stuhl in der Mitte des Raumes,

über dessen Armlehnen Ketten lagen. Er hatte gesehen, wie diese

Ketten jäh zum Leben erwachten und den fesselten, der gerade

zwischen ihnen saß. Mit laut widerhallenden Schritten ging er über

den steinernen Boden. Als er sich behutsam auf den Stuhlrand setzte,

klirrten die Ketten drohend, doch sie umschlangen ihn nicht. Ihm war

ziemlich schlecht, und er blickte hinauf zu den Leuten, die auf der

Bank oben saßen.

Es waren ungefähr fünfzig, und soweit er sehen konnte, trugen alle

pflaumenblaue Umhänge mit einem kunstvoll gearbeiteten silbernen

»Z« links auf der Brust, und alle starrten ihn von oben herab an,

- 154 -

manche mit sehr strengen Mienen, andere mit einem Ausdruck

unverhohlener Neugier.

Genau in der Mitte der vorderen Reihe saß Cornelius Fudge, der

Zaubereiminister. Fudge war ein stattlicher Mann, der häufig einen

limonengrünen Bowle r trug, allerdings hatte er heute auf ihn

verzichtet; verzichtet hatte er auch auf das nachsichtige Lächeln, das

er einst zur Schau getragen hatte, wenn er mit Harry sprach. Eine

breite Hexe mit eckigem Unterkiefer und ganz kurzem grauem Haar

saß zu Fudges Linken; sie trug ein Monokel und wirkte abweisend. Zu

Fudges Rechten saß ebenfalls eine Hexe, aber sie hatte sich so weit in

der Bank zurückgelehnt, dass ihr Gesicht im Schatten lag.

»Sehr schön«, sagte Fudge. »Da der Angeklagte anwesend ist –

endlich –, sollten wir beginnen. Sind Sie bereit?«, rief er zum Ende

der Bank hin.

»Ja, Sir«, antwortete eine beflissene Stimme, die Harry kannte. Am

äußersten Ende der vorderen Bank saß Rons Bruder Percy. Harry

blickte ihn an, in der Erwartung, Percy würde irgendein Zeichen des

Wiedererkennens geben, doch umsonst. Percys Augen hinter der

Hornbrille waren auf sein Pergament geheftet, in seiner Hand hielt er

eine Feder.

»Disziplinarische Anhörung vom zwölften August«, sagte Fudge

mit schriller Stimme und sofort fing Percy an zu protokollieren, »in

Sachen Verstöße gegen den Erlass zur Vernunftgemäßen

Beschränkung der Zauberei Minderjähriger und gegen das

Internationale Geheimhaltungsabkommen durch Harry Potter,

wohnhaft Ligusterweg Nummer vier, Little Whinging, Surrey.

Es führen das Verhör: Cornelius Oswald Fudge, Zaubereiminister;

Amelia Susan Bones, Leiterin der Abteilung für Magische

Strafverfolgung; Dolores Jane Umbridge, Erste Untersekretärin des

Ministers. Geric htsschreiber, Percy Ignatius Weasley …«

»Zeuge der Verteidigung, Albus Percival Wulfric Brian

Dumbledore«, sagte eine ruhige Stimme hinter Harry, der den Kopf so

schnell herumriss, dass er sich den Hals verrenkte.

Dumbledore, mit langem mitternachtsblauem Umhang und

vollkommen gelassenem Ausdruck, schritt feierlich durch den Raum.

- 155 -

Sein langer silberner Bart und seine Haare schimmerten im

Fackellicht, als er sich an Harrys Seite stellte und durch die

Halbmondgläser seiner Brille, die auf halber Höhe auf seiner scharfen

Hakennase ruhte, zu Fudge hochblickte.

Die Mitglieder des Zaubergamots tuschelten. Aller Augen waren

jetzt auf Dumbledore gerichtet. Manche sahen verärgert aus, andere

eine Spur verängstigt; zwei ältere Hexen auf der rückwärtigen Bank

jedoch hoben die Hände und winkten ihm grüßend zu.

Bei Dumbledores Anblick war ein starkes Gefühl in Harrys Brust

aufgestiegen, ein Kraft und Hoffnung spendendes Gefühl ähnlich dem,

das ihm der Gesang des Phönix gab. Er suchte Dumbledores Blick,

aber Dumbledore sah nicht in seine Richtung; er sah unentwegt auf

den offensichtlich verwirrten Fudge.

»Ah«, sagte Fudge und wirkte jetzt tief beunruhigt. »Dumbledore.

Ja. Sie – ähm – haben unsere – ähm – Botschaft erhalten, dass Zeit

und – ähm – Ort der Anhörung geändert wurden, nehme ich also an?«

»Die muss ich verpasst haben«, sagte Dumbledore vergnügt.

»Allerdings bin ich durch einen glücklichen Zufall drei Stunden zu

früh im Ministerium angekommen und so ist noch mal alles gut

gegangen.«

»Ja – schön – ich denke, wir brauchen noch einen Stuhl – ich –

Weasley, würden Sie …«

»Nur keine Umstände, nur keine Umstände«, sagte Dumbledore

freundlich; er zückte seinen Zauberstab, ließ ihn leicht aus dem

Handgelenk schnippen und ein zerknautschter Chintz-Lehnstuhl

erschien aus dem Nichts neben Harry. Dumbledore setzte sich, legte

die Kuppen seiner langen Finger aneinander und betrachtete Fudge

über sie hinweg mit einem Ausdruck höflichen Interesses. Die

Mitglieder des Zaubergamots tuschelten und gestikulierten immer

noch aufgeregt; erst als Fudge wieder zu sprechen begann, beruhigten

sie sich.

»Ja«, sagte Fudge erneut und stöberte in seinen Unterlagen. »Nun.

dann. So. Die Anklage. Ja.«

- 156 -

Er zog ein Stück Pergament aus dem Stapel vor ihm, holte tief Luft

und las laut: »Die Anklagepunkte gegen den Beschuldigten lauten wie

folgt:

Dass er wissentlich, absichtlich und in vollem Bewusstsein der

Rechtswidrigkeit seiner Handlungen – obwohl er zuvor bereits eine

schriftliche Verwarnung des Zaubereiministeriums wegen eines

ähnlichen Vorwurfs erhalten hatte – einen Patronus-Zauber in einem

Muggelwohngebiet ausgeführt hat, in Gegenwart eines Muggels, am

zweiten August um dreiundzwanzig Minuten nach neun, welches

einen Verstoß gegen den Erlass zur Vernunftgemäßen Beschränkung

der Zauberei Minderjähriger von 1875. Abschnitt C„ darstellt und

ebenso gegen Abschnitt 13 des Geheimhaltungsabkommens der

Internationalen Zauberervereinigung.

Du bist Harry James Potter, wohnhaft Ligusterweg Nummer vier,

Little Whinging, Surrey?« fragte Fudge und funkelte Harry über sein

Pergament hinweg an.

»Ja«, sagte Harry.

»Du hast vor drei Jahren eine offizielle Verwarnung des

Ministeriums wegen unrechtmäßig ausgeübter Magie erhalten, ist das

richtig?«

»Ja, aber …«

»Und dennoch hast du am Abend des zweiten August einen

Patronus heraufbeschworen?«, sagte Fudge.

»Ja«, sagte Harry, »aber …«

»Im Wissen, dass es dir bis zum Alter von siebzehn Jahren nicht

erlaubt ist, außerhalb der Schule Zauberei zu gebrauchen?«

»Ja, aber …«

»Im Wissen, dass du dich in einer Gegend voller Muggel

befandest?«

»Ja, aber …«

»Dir vollauf bewusst. dass du dich zu jenem Zeitpunkt in großer

Nähe eines Muggels befandest?«

- 157 -

»Ja«, sagte Harry zornig, »aber ich hab ihn nur gebraucht, weil wir

…«

Die Hexe mit dem Monokel schnitt ihm mit dröhnender Stimme

das Wort ab.

»Du hast einen ausgewachsenen Patronus zustande gebracht?«

»Ja«, sagte Harry, »weil …«

»Einen gestaltlichen Patronus?«

»Einen – was?«, sagte Harry.

»Dein Patronus hatte eine klar umrissene Form? Ich meine, er war

mehr als Dampf oder Rauch?«

»Ja«, sagte Harry, ungeduldig und leicht verzweifelt zugleich, »er

ist ein Hirsch, er ist immer ein Hirsch.«

»Immer?«, dröhnte Madam Bones. »Du hast also bereits vorher

einen Patronus geschaffen?«

»Ja«, sagte Harry, »das mache ich schon seit über einem Jahr.«

»Und du bist fünfzehn Jahre alt?«

»Ja, und …«

»Du hast das in der Schule gelernt?«

»Ja, Professor Lupin hat es mir im dritten Jahr beigebracht, wegen

der …«

»Beeindruckend«, sagte Madam Bones und starrte auf ihn herab,

»ein echter Patronus in diesem Alter … wirklich sehr beeindruckend.«

Einige der Zauberer und Hexen in ihrem Umkreis fingen erneut an

zu tuscheln; ein paar nickten, doch andere schüttelten stirnrunzelnd

den Kopf.

»Es geht nicht darum, wie beeindruckend der Zauber war«, sagte

Fudge gereizt. »Im Gegenteil, je beeindruckender, desto schlimmer,

würde ich meinen, wenn man bedenkt, dass der Junge es direkt vor

den Augen eines Muggels getan hat!«

- 158 -

Die eben noch die Stirn gerunzelt hatten, murmelten nun

zustimmend, doch es war der Anblick von Percys salbungsvollem

leichtem Nicken, der Harry die Zunge löste.

»Ich hab es wegen der Dementoren getan!«, sagte er laut, bevor

ihm wieder jemand ins Wort fallen konnte.

Er hatte weiteres Getuschel erwartet, doch das Schweigen, das

eintrat, schien irgendwie noch drückender als zuvor.

»Dementoren?«, sagte Madam Bones nach einem Augenblick, und

ihre dichten Augenbrauen hoben sich, bis ihr Monokel herauszufallen

drohte. »Was soll das heißen, Junge?«

»Das heißt, es waren zwei Dementoren in dieser Gasse und sie

haben mich und meinen Cousin angegriffen!«

»Ah!«, machte Fudge erneut und blickte gehässig feixend in die

Runde des Zaubergamots, als würde er alle auffordern, sich ebenfalls

über den Witz zu amüsieren. »Ja. Ja, ich dachte mir schon, wir würden

etwas Derartiges zu hören bekommen.«

»Dementoren in Little Whinging?«, sagte Madam Bones höchst

überrascht. »Ich verstehe nicht …«

»Wirklich nicht, Amelia?«, sagte Fudge, unentwegt feixend.

»Lassen Sie es mich erklären. Er hat es sich überlegt und ist darauf

gekommen, dass Dementoren eine nette kleine Ausrede abgeben

würden, wirklich sehr nett. Muggel können Dementoren nicht sehen,

stimmt's, Junge? Äußerst praktisch, äußerst praktisch … also haben

wir nur dein Wort und keine Zeugen …«

»Ich lüge nicht!«, rief Harry laut über ein erneut anhebendes

Tuscheln des Gerichts hinweg. »Es waren zwei, sie kamen von beiden

Enden der Gasse, alles wurde dunkel und kalt und mein Cousin hat sie

gespürt und ist losgelaufen …«

»Genug, genug!«, sagte Fudge mit sehr überheblichem

Gesichtsausdruck. »Ich muss diese gewiss sehr gut einstudierte

Geschichte leider unterbrechen …«

Dumbledore räusperte sich. Im Zaubergamot wurde es wieder still.

- 159 -

»Wir haben in der Tat einen Zeugen für die Gegenwart der

Dementoren in jener Gasse«, sagte er, »einen außer Dudley Dursley,

meine ich.«

Fudges feistes Gesicht schien zu erschlaffen, als hätte jemand die

Luft herausgelassen. Er starrte einen kurzen Moment lang zu

Dumbledore hinunter, dann sagte er mit der Miene eines Mannes, der

sich zusammenreißt: »Wir haben keine Zeit, uns noch mehr

Flunkergeschichten anzuhören, fürchte ich, Dumbledore. Ich möchte

diese Sache rasch erledigen …«

»Ich mag mich irren«, sagte Dumbledore liebenswürdig, »aber

dürfen nicht die Angeklagten gemäß dem Rechtekatalog des

Zaubergamots Zeugen in ihrer Sache benennen? Gehört dies nicht zu

den Grundsätzen der Abteilung für Magische Strafverfolgung, Madam

Bones?«, fuhr er an die Hexe mit dem Monokel gewandt fort.

»Richtig«, sagte Madam Bones. »Vollkommen richtig.«

»Oh, na schön, na schön«, fauchte Fudge. »Wo ist diese Person?«

»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Dumbledore. »Sie ist draußen

vor der Tür. Soll ich …«

»Nein – Weasley, Sie gehen«, bellte Fudge Percy an, der sofort

aufstand, die Steinstufen vor dem Richterpodium hinab- und an

Dumbledore und Harry vorbeieilte, ohne sie auch nur einmal

anzusehen.

Einen Augenblick später kam Percy wieder, gefolgt von Mrs. Figg.

Sie sah verängstigt aus und schrulliger denn je. Harry wäre es lieber

gewesen, sie hätte ihre Puschen zu Hause gelassen.

Dumbledore stand auf, bot Mrs. Figg seinen Stuhl an und beschwor

einen weiteren für sich herauf.

»Vollständiger Name?«, sagte Fudge laut, als sich Mrs. Figg

nervös am äußeren Stuhlrand niedergelassen hatte.

»Arabella Doreen Figg«, sagte Mrs. Figg mit ihrer zittrigen

Stimme.

»Und wer genau sind Sie?«, fragte Fudge in gelangweilt

hochmütigem Ton.

- 160 -

»Ich bin Bürgerin von Little Whinging und wohne ganz in der

Nähe von Harry Potter«, sagte Mrs. Figg.

»Wir haben hier keinen Eintrag, wonach außer Harry Potter noch

eine Hexe oder ein Zauberer in Little Whinging lebt«, sagte Madam

Bones sofort. »Dieses Gebiet wird stets genau überwacht, angesichts

… angesichts der Vorkommnisse in der Vergangenheit.«

»Ich bin eine Squib«, sagte Mrs. Figg. »Also haben Sie wohl

keinen Eintrag über mich, oder?«

»Eine Squib, ja?«, sagte Fudge und fixierte sie argwöhnisch. »Wir

werden das überprüfen. Hinterlassen Sie die Einzelheiten über Ihre

Abstammung bei meinem Assistenten Weasley. Ach übrigens, können

Squibs Dementoren sehen?«, fügte er hinzu und blickte links und

rechts die Bank entlang.

»Ja, können wir!«, sagte Mrs. Figg entrüstet.

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Fudge wieder zu ihr

hinunter. »Nun denn«, sagte er herablassend. »Wie lautet Ihre

Geschichte?«

»Ich war ausgegangen, um im Eckladen am Ende des

Glyzinenwegs Katzenfutter zu kaufen, das war gegen neun am Abend

des zweiten August«, plapperte Mrs. Figg sogleich los, als ob sie das,

was sie sagte, auswendig gelernt hätte, »und da hörte ich Lärm in der

Gasse zwischen Magnolienring und Glyzinenweg. Als ich mich der

Einmündung dieser Gasse näherte, sah ich Dementoren rennen …«

»Rennen?«, unterbrach Madam Bones scharf. »Dementoren rennen

nicht, sie schweben.«

»Genau das hab ich gemeint«, erwiderte Mrs. Figg hastig und auf

ihren verhutzelten Wangen erschienen rosa Flecken. »Die schwebten

die Gasse entlang auf zwei Jungen zu, wie mir schien.«

»Wie sahen sie aus?«, sagte Madam Bones und kniff die Augen

zusammen, so dass der Rand ihres Monokels im Fleisch verschwand.

»Nun, der eine war sehr dick und der andere eher mager …«

»Nein, nein«, sagte Madam Bones ungeduldig. »Die Dementoren

… beschreiben Sie die.«

- 161 -

»Oh«, sagte Mrs. Figg und ein leichtes Rosa kroch ihren Hals

hoch. »Sie waren groß. Groß und trugen Umhänge.«

Harry wurde schrecklich flau in der Magengrabe. Was immer Mrs.

Figg auch sagen mochte, für ihn klang es, als ob sie gerade mal ein

Bild von einem Dementor gesehen hätte, und ein Bild konnte niemals

vermitteln, wie diese Geschöpfe wirklich waren: ihre unheimliche Art,

sich zu bewegen, nur Zentimeter über dem Boden schwebend; ihr

Verwesungsgestank; ihr schreckliches Rasseln, wenn sie die Luft

umher einsaugten …

In der zweiten Reihe neigte sich ein untersetzter Zauberer mit

großem schwarzem Schnauzbart dicht zu seiner Nachbarin hinüber,

einer Hexe mit gekräuselten Haaren, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sie

grinste und nickte.

»Groß und trugen Umhänge«, wiederholte Madam Bones kühl,

während Fudge verächtlich schnaubte. »Verstehe. Noch etwas?«

»Ja«, sagte Mrs. Figg. »Ich hab sie gespürt. Alles wurde kalt, und

es war eine sehr warme Sommernacht, kann ich Ihnen sagen. Und ich

hatte das Gefühl … als ob alles Glück aus der Welt verschwunden

wäre … und mir fielen … schreckliche Dinge ein …«

Ihre Stimme zitterte und erstarb.

Madam Bones' Augen weiteten sich eine Spur. Harry konnte rote

Male unter ihrer Augenbraue erkennen, dort, wo das Monokel sich

eingegraben hatte.

»Was haben die Dementoren getan?«, fragte sie und Harry spürte

jähe Hoffnung aufflammen.

»Sie haben die Jungen angegriffen«, sagte Mrs. Figg. Ihre Stimme

klang jetzt fester und selbstsicherer und das Rosa schwand allmählich

aus ihrem Gesicht. »Einer von ihnen war hingefallen. Der andere wich

zurück und hat versucht den Dementor abzuwehren. Das war Harry.

Er hat es zweimal versucht und es kam nur silberner Dunst. Beim

dritten Versuch hat er einen Patronus hervorgebracht, der den ersten

Dementor niederwarf und dann, angefeuert von Harry, den zweiten

von seinem Cousin wegjagte. Und so … war es«, schloss Mrs. Figg

etwas lahm.

- 162 -

Madam Bones blickte stumm zu Mrs. Figg hinab. Fudge sah sie

gar nicht an, sondern wühlte in seinen Unterlagen. Schließlich hob er

den Blick und sagte recht angriffslustig: »Das haben Sie also gesehen,

ja?«

»So war es«, wiederholte Mrs. Figg.

»Nun denn«, sagte Fudge. »Sie können gehen.«

Mrs. Figg wandte sich von Fudge ab und warf Dumbledore einen

ängstlichen Blick zu, dann stand sie auf und schlurfte zur Tür. Harry

hörte, wie sie hinter ihr zuschlug.

»Keine sehr überzeugende Zeugin«, sagte Fudge hochmütig.

»Oh, ich weiß nicht«, sagte Madam Bones mit ihrer dröhnenden

Stimme. »Die Wirkung eines Dementorenangriffs hat sie doch

immerhin recht genau beschrieben. Und ich kann mir nicht vorstellen,

warum sie behaupten sollte, dass sie da waren, wenn dem nicht so

war.«

»Aber Dementoren sollen in einer Muggelkleinstadt um

herspazieren und ganz zufällig einem Zauberer über den Weg

laufen?«, schnaubte Fudge. »Die Wahrscheinlichkeit muss ja wohl

sehr gering sein. Selbst Bagman hätte darauf nicht gewettet …«

»Oh, ich denke nicht, dass irgendjemand von uns glaubt, die

Dementoren seien rein zufällig dort gewesen«, sagte Dumbledore

gelassen.

Die Hexe, die rechts von Fudge saß und das Gesicht im Schatten

hatte, rührte sich ein wenig, doch alle anderen blieben vollkommen

reglos und stumm.

»Und was soll das heißen?«, fragte Fudge eisig.

»Das heißt, dass ich denke, sie wurden dort hinbefohlen«,

erwiderte Dumbledore.

»Ich würde doch meinen, wenn jemand einem Paar Dementoren

befohlen hätte, durch Little Whinging zu spazieren, dann hätten wir

darüber einen Bericht!«, bellte Fudge.

- 163 -

»Nicht, wenn die Dementoren dieser Tage Befehle von jemandem

außerhalb des Zaubereiministeriums annehmen«, sagte Dumbledore

ruhig. »Ich habe Ihnen bereits meine Auffassung in dieser Sache

dargelegt, Cornelius.«

»Allerdings, haben Sie«, sagte Fudge nachdrücklich, »und ich habe

keinen Grund zu glauben, dass Ihre Ansichten etwas anderes sind als

Unsinn, Dumbledore. Die Dementoren bleiben vor Ort in Askaban

und tun alles, was wir ihnen gebieten.«

»Dann«, sagte Dumbledore leise, aber deutlich, »dann müssen wir

uns fragen, warum jemand im Ministerium am zweiten August ein

Paar Dementoren in diese Gasse befohlen hat.«

In der vollkommenen Stille, die auf diese Worte hin eintrat, beugte

sich die Hexe rechts von Fudge vor, so dass Harry sie erstmals

erkennen konnte.

Sieht aus wie eine große, blasse Kröte, dachte er. Sie war recht

untersetzt und hatte ein großes, wabbliges Gesicht, so wenig Hals wie

Onkel Vernon und einen sehr breiten, schlaffen Mund. Ihre Augen

waren groß, rund und quollen leicht hervor. Die kleine schwarze

Samtschleife, die auf ihrem kurzen Lockenhaarschopf saß, erinnerte

ihn an eine große Fliege, die sie gleich mit einer langen klebrigen

Zunge fangen würde.

»Das Gericht erteilt das Wort Dolores Jane Umbridge, Erste

Untersekretärin des Ministers«, erklärte Fudge.

Die Hexe sprach mit einer zittrigen, mädchenhaft hohen Stimme,

die Harry verblüffte; er hatte ein Quaken erwartet.

»Ich habe Sie gewiss missverstanden, Professor Dumbledore«,

sagte sie mit einem gezierten Lächeln, das die Kälte ihrer großen,

runden Augen nicht im Geringsten minderte. »Wie dumm von mir.

Aber es hörte sich einen winzigen Moment lang so an, als würden Sie

unterstellen, dass das Zaubereiministerium einen Angriff auf diesen

Jungen befohlen hätte!«

Sie lachte auf, so silberhell, dass sich Harrys Nackenhaare

sträubten. Ein paar weitere Mitglieder des Zaubergamots stimmten in

- 164 -

ihr Lachen ein. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass keiner von

ihnen wirklich amüsiert war.

»Wenn es stimmt, dass die Dementoren nur Befehle vom

Zaubereiministerium entgegennehmen, und wenn es auch stimmt, dass

zwei Dementoren vor einer Woche Harry und seinen Cousin

angegriffen haben, dann folgt daraus logisch, dass jemand im

Ministerium die Angriffe befohlen haben könnte«, sagte Dumbledore

höflich. »Natürlich könnten gerade diese Dementoren außerhalb der

Kontrolle des Ministeriums gewesen sein …«

»Es gibt keine Dementoren außerhalb der Kontrolle des

Ministeriums!«, fauchte Fudge, der ziegelrot geworden war.

Dumbledore neigte den Kopf zu einer leichten Verbeugung. »Dann

wird das Ministerium zweifellos eine umfassende Untersuchung zu

der Frage veranlassen, warum zwei Dementoren so weit von Askaban

entfernt waren und warum sie ohne Genehmigung angriffen.«

»Es liegt nicht an Ihnen, zu entscheiden, was das

Zaubereiministerium tut oder nicht tut, Dumbledore!«, fauchte Fudge

und sein Gesicht hatte nun einen Magentaton, auf den Onkel Vernon

stolz gewesen wäre.

»Natürlich nicht«, sagte Dumbledore milde. »Ich habe lediglich

meine Zuversicht zum Ausdruck gebracht, dass diese Sache nicht im

Dunkeln bleiben wird.«

Er sah hinüber zu Madam Bones, die ihr Monokel zurechtgerückt

hatte und seinen Blick mit leicht gerunzelter Stirn erwiderte.

»Ich möchte alle Anwesenden daran erinnern, dass das Verhalten

dieser Dementoren, sollten sie in der Tat keine Gespinste der

Phantasie dieses Jungen sein, nicht Gegenstand dieser Anhörung ist!«,

sagte Fudge. »Wir sind hier, um Harry Potters Verstöße gegen den

Erlass zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei

Minderjähriger zu untersuchen!«

»Völlig richtig«, sagte Dumbledore, »aber die Anwesenheit von

Dementoren in dieser Gasse ist höchst bedeutsam. Klausel sieben

dieses Erlasses stellt fest, dass unter außergewöhnlichen Umständen

Magie in Anwesenheit von Muggeln eingesetzt werden darf, und zu

- 165 -

diesen außergewöhnlichen Umständen gehören Situationen, in denen

das Leben des Zauberers oder der Hexe selber oder anderer Hexen,

Zauberer oder Muggel bedroht ist, die anwesend sind zu dem

Zeitpunkt, da …«

»Klausel sieben ist uns bekannt, ich danke Ihnen vielmals!«,

knurrte Fudge.

»Selbstverständlich«, sagte Dumbledore höflich. »Dann stimmen

wir darin überein, dass die Verwendung des Patronus-Zaubers durch

Harry unter besagten Umständen exakt unter die Kategorie

außergewöhnlicher Umstände fällt, welche die Klausel beschreibt?«

»Wenn Dementoren anwesend waren, was ich bezweifle.«

»Sie haben es von einer Augenzeugin gehört«, warf Dumbledore

ein. »Wenn Sie ihre Glaubwürdigkeit immer noch anzweifeln, rufen

Sie die Zeugin zurück, befragen Sie sie erneut. Ich bin sicher, sie hätte

keine Einwände.«

»Ich – das – nicht …«, tobte Fudge und fummelte fahrig in seinen

Papieren. »Das geht – ich will das heute noch erledigen,

Dumbledore!«

»Aber selbstverständlich würden Sie es sich nicht nehmen lassen,

eine Zeugin auch mehrmals anzuhören, wenn andernfalls ein schwer

wiegender Justizirrtum drohen würde«, sagte Dumbledore.

»Schwer wiegender Justizirrtum, dass ich nicht lache!«, rief Fudge

mit sich überschlagender Stimme. »Haben Sie sich jemals die Mühe

gemacht, all die Ammenmärchen zu zählen, die uns dieser Junge

aufgetischt hat, Dumbledore, um seinen eklatanten Missbrauch der

Magie außerhalb der Schule zu vertuschen? Ich nehme an, Sie haben

den Schwebezauber vergessen, den er vor drei Jahren benutzt hat …«

»Das war nicht ich, das war ein Hauself!«, sagte Harry.

»SEHEN SIE?«, donnerte Fudge und gestikulierte wichtigtuerisch

in Harrys Richtung. »Ein Hauself! In einem Muggelhaus! Ich bitte

Sie.«

- 166 -

»Der fragliche Hauself steht gegenwärtig in Diensten der

Hogwarts-Schule«, sagte Dumbledore. »Ich kann ihn augenblicklich

herbeordern, damit er aussagt, wenn Sie dies wünschen.«

»Ich – nein – ich habe keine Zeit, mir Hauselfen anzuhören!

Jedenfalls ist das nicht das Einzige – er hat seine Tante aufgeblasen,

um Himmels willen!«, rief Fudge, schlug mit der Faust auf die

Richterbank und warf dabei ein Tintenfass um.

»Und Sie waren nach diesem Zwischenfall so freundlich, keine

Anklage zu erheben, weil Sie, wie ich annehme, verstanden, dass

selbst die besten Zauberer ihre Gefühle nicht immer unter Kontrolle

halten können«, sagte Dumbledore ruhig, während Fudge versuchte

die Tinte von seinen Papieren zu wischen.

»Und ich habe noch nicht mal erwähnt, was er alles in der Schule

treibt.«

»Aber da nun einmal das Ministerium nicht die Befugnis hat,

Hogwarts-Schüler für ihr Fehlverhalten in der Schule zu bestrafen,

spielt Harrys Verhalten dort für diese Anhörung keine Rolle«, sagte

Dumbledore unvermindert höflich, doch nun mit einem kühlen

Unterton in seinen Worten.

»Oho!«, machte Fudge. »Nicht unsere Angelegenheit, was er in der

Schule treibt, ja? Glauben Sie?«

»Das Ministerium hat nicht die Macht, Schüler von Hogwarts zu

verweisen, Cornelius, woran ich Sie am Abend des zweiten August

erinnert habe«, sagte Dumbledore. »Es hat auch nicht das Recht,

Zauberstäbe zu beschlagnahmen, ehe die Vorwürfe eindeutig

bewiesen wurden; auch daran habe ich Sie am Abend des zweiten

August erinnert. In Ihrer bewundernswerten Eile, dafür Sorge zu

tragen, dass dem Gesetz entsprochen wird, scheinen Sie, gewiss

unabsichtlich, selber einige Gesetze übersehen zu haben.«

»Gesetze lassen sich ändern«, sagte Fudge bissig.

»Natürlich«, sagte Dumbledore und neigte den Kopf. »Und Sie

scheinen beachtlich viele Änderungen vorzunehmen, Cornelius.

Warum ist es in den wenigen kurzen Wochen, seit ich aufgefordert

wurde, den Zaubergamot zu verlassen, bereits gängige Praxis

- 167 -

geworden, ein umfassendes Straftribunal abzuhalten wegen eines

schlichten Falles von Minderjährigenzauberei!«

Manche der Zauberer über ihnen rutschten unangenehm berührt auf

ihren Plätzen umher. Fudges Gesicht nahm eine noch dunklere

Rotschattierung an. Die krötenartige Hexe zu seiner Rechten jedoch

sah nur mit völlig ausdrucksloser Miene zu Dumbledore hinab.

»Nach meiner Kenntnis«, fuhr Dumbledore fort, »gib t es bis heute

noch kein Gesetz, das besagt, es sei die Aufgabe dieses Gerichts,

Harry für jedes bisschen Magie zu bestrafen, das er je ausgeübt hat. Er

wurde eines bestimmten Vergehens angeklagt und hat seine

Verteidigung vorgetragen. Alles, was er und ic h jetzt tun können, ist

Ihr Urteil abzuwarten.«

Dumbledore legte erneut die Fingerkuppen aneinander und

schwieg. Fudge funkelte ihn an, offensichtlich zornentbrannt. Harry

warf Dumbledore von der Seite einen Blick zu, in der Hoffnung, ein

wenig bestärkt zu werden. Er war sich keineswegs sicher, dass es ein

guter Schritt von Dumbledore war, dem Zaubergamot praktisch nichts

anderes zu sagen, als dass es nun an der Zeit war, eine Entscheidung

zu treffen. Dumbledore schien jedoch Harrys Versuch, Blickkontakt

mit ihm aufzunehmen, erneut nicht zu bemerken. Er sah unentwegt zu

den Bänken hoch, wo alle Zaubergamots sich inzwischen eindringlich

flüsternd berieten.

Harry blickte auf seine Füße. Sein Herz, das auf unnatürliche

Größe angeschwollen schien, pochte laut unter seinen Rippen. Er hatte

erwartet, dass die Anhörung länger dauern würde. Es schien ihm sehr

zweifelhaft, dass er einen guten Eindruck gemacht hatte. Eigentlich

hatte er gar nicht viel gesagt. Er hätte die Sache mit den Dementoren

ausführlicher erklären sollen, wie er gestürzt war, wie sie ihn und

Dudley fast geküsst hätten …

Zweimal blickte er hoch zu Fudge und öffnete den Mund, um zu

sprechen, aber sein geschwollenes Herz drückte ihm nun die Luftröhre

zu und beide Male atmete er nur tief ein und senkte den Blick wieder

auf die Schuhe.

- 168 -

Dann verstummte das Flüstern. Harry wollte hochblicken zu den

Richtern, stellte aber fest, dass es im Grunde sehr viel leichter war,

weiterhin seine Schnürsenkel zu begutachten.

»Wer ist dafür, den Beschuldigten in allen Anklagepunkten

freizusprechen?«, dröhnte Madam Bones' Stimme.

Harrys Kopf zuckte hoch. Da waren Hände in der Höhe, viele

Hände … mehr als die Hälfte! Rasch atmend versuchte er zu zählen,

doch bevor er es geschafft hatte, fragte Madam Bones: »Und wer ist

für eine Verurteilung?«

Fudge hob die Hand; ein halbes Dutzend andere folgten ihm,

darunter die Hexe zu seiner Rechten, der Zauberer mit dem mächtigen

Schnurrbart und die Hexe mit den Kräuselhaaren in der zweiten

Reihe.

Fudge warf Blicke in die Runde mit einer Miene, als steckte ihm

etwas Dickes im Hals, dann ließ er die Hand sinken. Er atmete

zweimal durch und sagte mit einer Stimme, die von unterdrückter Wut

verzerrt war: »Nun denn, nun denn … in allen Punkten

freigesprochen.«

»Vortrefflich«, sagte Dumbledore munter, sprang auf, zog seinen

Zauberstab und ließ die beiden Chintz-Lehnstühle verschwinden.

»Nun, ich muss mich sputen. Einen guten Tag Ihnen allen.«

Und ohne Harry auch nur einmal anzusehen, rauschte er aus dem

Kerker.

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Mrs. Weasleys Wehklage

Dumbledores abruptes Verschwinden kam für Harry völlig

überraschend. Er blieb in dem Kettenstuhl sitzen und kämpfte mit

Gefühlen von Schock und Erleichterung. Die Zaubergamots erhoben

sich nun, unterhielten sich, sammelten ihre Papiere ein und packten sie

weg. Harry stand auf. Niemand schien im Mindesten auf ihn zu

achten, außer der krötenartigen Hexe zu Fudges Rechten, die nun zu

ihm statt zu Dumbledore hinabspähte. Er beachtete sie nicht weiter

und versuchte Fudges oder Madam Bones' Blick zu treffen, weil er sie

fragen wollte, ob er nun frei war und gehen durfte. Doch Fudge war

offenbar fest entschlossen, keine Notiz von Harry zu nehmen, und

Madam Bones war mit ihrer Aktenmappe beschäftigt, also machte er

ein paar zögernde Schritte in Richtung Tür, und als niemand ihn

zurückrief, ging er zügig drauflos.

Die letzten paar Meter nahm er im Laufschritt. Er riss die Tür auf

und wäre fast mit Mr. Weasley zusammengestoßen, der direkt davor

stand und blass und besorgt wirkte.

»Dumbledore hat nicht gesagt …«

»Freigesprochen«, sagte Harry und zog die Tür hinter sich zu, »in

allen Anklagepunkten!«

Mr. Weasley packte Harry freudestrahlend an den Schultern.

»Harry, das ist ja wunderbar! Natürlich hätten sie dich nie schuldig

sprechen können, nicht bei dieser Beweislage, und trotzdem kann ich

nicht behaupten, dass ich mir keine …«

Aber Mr. Weasley unterbrach sich, denn die Tür zum

Gerichtsraum war soeben wieder aufgegangen. Die Zaubergamots

kamen einer nach dem anderen heraus.

»Beim Barte des Merlin!«, rief Mr. Weasley verblüfft und zog

Harry beiseite, um sie alle vorbeizulassen. »Das gesamte Gericht hat

in deiner Sache verhandelt?«

»Ich glaub schon«, sagte Harry leise.

- 170 -

Ein, zwei Zauberer nickten Harry im Vorbeigehen zu, und einige,

darunter Madam Bones, sagten »Morgen, Arthur« zu Mr. Weasley,

doch die meisten wandten ihren Blick ab. Cornelius Fudge und die

krötenartige Hexe gehörten zu den Letzten, die den Kerker verließen.

Fudge tat, als wären Mr. Weasley und Harry Luft, doch die Hexe warf

Harry im Vorübergehen abermals einen fast taxierenden Blick zu. Der

Letzte, der vorbeiging, war Percy. Wie Fudge ignorierte er Harry und

seinen Vater vollkommen; er schritt, eine große Rolle Pergament und

eine Hand voll übrig gebliebene Federn an sich gedrückt, mit steifem

Rücken und gereckter Nase an ihnen vorbei. Die Falten um Mr.

Weasleys Mund wurden eine Spur schärfer, doch ansonsten ließ er

sich nicht anmerken, dass er gerade seinen dritten Sohn gesehen hatte.

»Ich bring dich gleich wieder zurück, damit du den anderen die

gute Nachricht übermitteln kannst«, sagte er und winkte Harry weiter,

während Percys Absätze die Treppe zum neunten Stock hoch

verschwanden. »Ich setz dich auf dem Weg zu dieser Toilette in

Bethnal Green ab. Komm mit …«

»Ach, und was müssen Sie jetzt wegen dieser Toilette

unternehmen?«, fragte Harry grinsend. Alles kam ihm plötzlich

fünfmal lustiger vor als sonst. Allmählich drang es zu ihm durch: Er

war freigesprochen, er würde nach Hogwarts zurückkehren.

»Oh, das wird ein ziemlich simpler Gegenfluch«, sagte Mr.

Weasley, während sie die Treppen hochstiegen, »aber die Frage ist

weniger, wie man den Schaden reparieren kann, sondern eher, welche

Haltung hinter diesem Vandalismus steckt, Harry. Muggel zu

schikanieren mag manchen Zauberern witzig vorkommen, aber es ist

Ausdruck von etwas viel Abgründigerem und Bösartigerem, und ich

bin der Meinung …«

Mr. Weasley brach mitten im Satz ab. Sie hatten eben den Korridor

des neunten Stockwerks erreicht, und Cornelius Fudge stand nur ein

paar Schritte von ihnen entfernt und unterhielt sich leise mit einem

großen Mann mit glattem, blondem Haar und einem spitzen, blassen

Gesicht.

Der zweite Mann drehte sich beim Geräusch ihrer Schritte um.

Auch er brach mitten im Gespräch ab, und seine kalten grauen Augen

verengten sich und fixierten Harrys Gesicht.

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»Schön, schön, schön … Patronus Potter«, sagte Lucius Malfoy

kühl.

Harry rang nach Luft, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen.

Diese kalten grauen Augen hatte er zuletzt durch Schlitze in der

Kapuze eines Todessers gesehen, und die Stimme dieses Mannes hatte

er zuletzt auf einem dunklen Friedhof höhnisch lachen gehört,

während Lord Voldemort ihn folterte. Harry konnte nicht glauben,

dass Lucius Malfoy es wagte, ihm ins Gesicht zu blicken; er konnte

nicht glauben, dass er hier war, im Zaubereiministerium, und dass

Cornelius Fudge mit ihm sprach, obwohl Harry Fudge doch erst vor

einigen Wochen berichtet hatte, dass Malfoy ein Todesser war.

»Der Minister hat mir soeben von deinem glücklichen Entkommen

berichtet, Potter«, sagte Mr. Malfoy gedehnt. »Ganz erstaunlich, wie

du dich immer wieder aus den schlimmsten Engpässen herauswindest

… wie eine Schlange, in der Tat.«

Mr. Weasley packte Harry warnend an der Schulter.

»Jaah«, sagte Harry, »ja, ich bin gut im Entkommen.«

Lucius Malfoy hob die Augen und sah Mr. Weasley an.

»Und dann auch noch Arthur Weasley! Was tun Sie hier, Arthur?«

»Ich arbeite hier«, sagte Mr. Weasley knapp.

»Nicht hier, oder?«, sagte Mr. Malfoy, zog die Augenbrauen hoch

und warf einen Blick über Mr. Weasleys Schulter zur Tür. »Ich

dachte, Sie wären oben im zweiten Stock … Sie beschäftigen sich

doch irgendwie damit, Muggelartefakte nach Hause zu schmuggeln

und sie zu verzaubern?«

»Nein«, fauchte Mr. Weasley und seine Finger gruben sich nun in

Harrys Schulter.

»Was tun Sie eigentlich hier?«, fragte Harry Lucius Malfoy.

»Ich denke nicht, dass Privatangelegenheiten zwischen mir und

dem Minister dich irgendetwas angehen, Potter«, sagte Malfoy und

strich seinen Umhang glatt. Harry hörte deutlich ein leises Klimpern,

das nach einer Tasche voller Gold klang. »Im Ernst, nur weil du

Dumbledores Liebling bist, kannst du von uns anderen nicht die

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gleiche Nachgiebigkeit erwarten … wollen wir nun nach oben in Ihr

Büro gehen, Minister?«

»Gewiss«, sagte Fudge und kehrte Harry und Mr. Weasley den

Rücken. »Hier lang, Lucius.«

Sie schritten Seite an Seite davon und sprachen gedämpft weiter.

Mr. Weasley ließ Harrys Schulter erst los, als sie im Lift

verschwunden waren.

»Warum hat er nicht vor Fudges Büro gewartet, wenn sie doch

geschäftliche Dinge zu regeln haben?«, platzte Harry wütend los.

»Was hat der hier unten zu suchen?«

»Wenn du mich fragst, wollte er runter in den Gerichtssaal

schleichen«, antwortete Mr. Weasley äußerst aufgebracht und warf

einen Blick über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass

niemand mithörte. »Wollte rausfinden, ob sie dich von der Schule

verweisen. Ich hinterlasse eine Nachricht für Dumbledore, wenn ich

dich absetze, er sollte wissen, dass Malfoy schon wieder mit Fudge

geredet hat.«

»Und was für private Geschäfte machen die eigentlich

miteinander?«

»Gold, vermute ich«, sagte Mr. Weasley zornig. »Malfoy spendet

seit Jahren für alles Mögliche … verschafft ihm Zugang zu den

richtigen Leuten … dann kann er sie um Gefälligkeiten bitten …

Gesetzesvorhaben verschieben, die ihm nicht passen … oh, er hat

glänzende Beziehungen, dieser Lucius Malfoy.«

Der Fahrstuhl war angekommen; er war leer bis auf einen

Schwarm Memos, die um Mr. Weasleys Kopf flatterten, als er den

Knopf für das Atrium drückte und die Türen zuschepperten. Er

verscheuchte sie nervös fuchtelnd.

»Mr. Weasley«, sagte Harry langsam, »wenn Fudge Todesser wie

Malfoy empfängt, wenn er sie unter vier Augen trifft, woher wissen

wir, dass sie ihn nicht mit dem Imperius-Fluch belegt haben?«

»Natürlich haben wir daran auch schon gedacht, Harry«, sagte Mr.

Weasley leise. »Aber Dumbledore meint, dass Fudge gegenwärtig aus

freien Stücken handelt – was im Übrigen, wie Dumbledore sagt, auch

- 173 -

kein großer Trost ist. Am besten reden wir vorerst nicht weiter

darüber, Harry.«

Die Türen glitten auf und sie traten hinaus in das inzwischen

nahezu verlassene Atrium. Eric, der Sicherheitszauberer, hatte sich

wieder hinter seinem Tagespropheten versteckt. Sie waren eben

geradewegs am goldenen Brunnen vorbeigegangen, als Harry etwas

einfiel.

»Warten Sie …«, sagte er zu Mr. Weasley, zog seinen Geldbeutel

aus der Tasche und lief zum Brunnen zurück.

Er blickte hoch in das Gesicht des stattlichen Zauberers, aber aus

der Nähe kam er Harry eher schwach und dümmlich vor. Die Hexe

hatte ein hohles Lächeln aufgesetzt wie eine Kandidatin bei einem

Schönheitswettbewerb, und nach dem, was Harry über Kobolde und

Zentauren wusste, würden sie kaum je irgendeinen Menschen derart

schleimend anstarren. Nur die kriecherisch dienstbare Haltung des

Hauselfen wirkte überzeugend. Harry grinste bei dem Gedanken, was

Hermine wohl sagen würde, wenn sie die Statue des Elfen sehen

könnte; dann stülpte er seinen Geldbeutel um und warf nicht nur zehn

Galleonen, sondern alles, was drin war. ins Becken.

»Ich hab's gewusst!«, jubelte Ron und stieß die Fäuste in die Luft.

»Du kommst immer mit allem durch!«

»Sie mussten dich freisprechen«, sagte Hermine, die am Rande

eines Nervenzusammenbruchs zu stehen schien, als Harry die Küche

betrat, und sich nun die zittrige Hand über die Augen legte, »die

hatten nichts gegen dich vorzuweisen, überhaupt nichts.«

»Ihr scheint aber trotzdem ziemlich erleichtert, obwohl euch doch

klar war, dass ich da rauskommen würde«, sagte Harry lächelnd.

Mrs. Weasley wischte sich mit ihrer Schürze übers Gesicht, und

Fred, George und Ginny begannen eine Art Kriegstanz und sangen:

»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«

»Das reicht jetzt! Beruhigt euch!«, rief Mr. Weasley, doch auch er

lächelte.

»Hör mal, Sirius, Lucius Malfoy war im Ministerium …«

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»Was?«, sagte Sirius scharf.

»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«

»Seid doch mal leise, ihr drei! Ja, wir haben ihn im neunten Stock

mit Fudge reden sehen, dann gingen sie zusammen hoch in Fudges

Büro. Dumbledore sollte das auch erfahren.«

»Natürlich«, meinte Sirius. »Wir sagen es ihm, mach dir keine

Sorgen.«

»Ich muss mich beeilen, in Bethnal Green wartet eine spuckende

Toilette auf mich. Molly, ich komm erst spät zurück, ich springe ja für

Tonks ein, aber Kingsley schaut vielleicht zum Abendessen vorbei

…«

»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«

»Nun ist es aber gut – Fred – George – Ginny!«, rief Mrs. Weasley,

als Mr. Weasley aus der Küche ging. »Harry, mein Lieber, komm und

setz dich, iss was zu Mittag, du hast doch kaum gefrühstückt.«

Ron und Hermine setzten sich ihm gegenüber. Seit Harry am

Grimmauldplatz angekommen war, hatte er sie nicht so glücklich

gesehen, und von neuem stieg das Schwindel erregende Gefühl der

Erleichterung in ihm hoch, das durch seine Begegnung mit Lucius

Malfoy einen kleinen Dämpfer erhalten hatte. Das düstere Haus kam

ihm nun schlagartig wärmer und gastfreundlicher vor; selbst Kreacher,

der eben seine Schnauzennase in die Küche streckte, um zu sehen,

woher all der Lärm kam, erschien ihm weniger hässlich.

»Natürlich, sobald Dumbledore an deiner Seite aufgetaucht war,

kam es überhaupt nicht mehr in Frage, dich zu verurteilen«, sagte Ron

glücklich, während er große Berge Kartoffelbrei auf ihre Teller häufte.

»Ja, er hat die Sache für mich rumgerissen«, bestätigte Harry. Er

wusste, es würde äußerst undankbar, wenn nicht gar kindisch klingen,

wenn er sagte: »Hätte er doch nur mal mit mir gesprochen. Oder mich

wenigstens angesehen.«

Und bei diesem Gedanken brannte die Narbe auf seiner Stirn so

schmerzhaft, dass er sich mit der Hand dagegen schlug.

»Was ist los?«, fragte Hermine erschrocken.

- 175 -

»Narbe«, murmelte Harry. »Aber es ist nichts … passiert jetzt

dauernd …«

Von den anderen hatte keiner etwas bemerkt; alle taten sich jetzt

Essen auf und freuten sich diebisch über Harrys knappes Entkommen;

Fred, George und Ginny sangen immer noch. Hermine wirkte

ziemlich besorgt, doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Ron

freudig bemerkt: »Ich wette, Dumbledore taucht heute Abend auf und

feiert mit uns.«

»Ich glaube nicht, dass er Zeit dazu hat, Ron«, warf Mrs. Weasley

ein und stellte eine gewaltige Platte mit gebratenen Hähnchen vor

Harry auf den Tisch. »Er ist im Moment wirklich sehr beschäftigt.«

»ER IST FREI, ER IST FREI, ER IST FREI …«

»RUHE!«, donnerte Mrs. Weasley.

Während der nächsten Tage entging es Harry nicht, dass es

jemanden im Haus Grimmauldplatz Nummer zwölf gab, der nicht

ganz so begeistert davon war, dass Harry nach Hogwarts

zurückkehrte. Sirius hatte, als er die Neuigkeit erfuhr, ziemlich

überzeugend den Glücklichen gespielt, Harry die Hand gedrückt und

gestrahlt wie die anderen auch. Nicht lange jedoch und er war

launischer und mürrischer denn je, redete noch weniger mit allen,

selbst mit Harry, und verbrachte immer mehr Zeit im Zimmer seiner

Mutter, wo er sich mit Seidenschnabel einschloss.

»Fühl dich bloß nicht schuldig!«, sagte Hermine streng, nachdem

Harry ihr und Ron vorsichtig seine Gefühle anvertraut hatte, während

sie ein paar Tage später einen schimmeligen Schrank im dritten Stock

ausschrubbten. »Du gehörst nach Hogwarts und Sirius weiß das. Er ist

egoistisch, wenn du mich fragst.«

»Das ist ein bisschen hart, Hermine«, sagte Ron und versuchte mit

finsterer Miene ein Stück Schimmel abzukratzen, das fest an seinem

Finger klebte. »Du würdest auch nicht gern ohne Gesellschaft in

diesem Haus hier festsitzen.«

»Aber er hat doch Gesellschaft!«, rief Hermine. »Hier ist das

Hauptquartier des Phönixordens, oder nicht? Er hat sich nur große

Hoffnungen gemacht, dass Harry bald mit ihm hier leben würde.«

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»Ich glaub nicht, dass das stimmt«, erwiderte Harry und wrang sein

Tuch aus. »Er hat mir nicht mal eine klare Antwort gegeben, als ich

ihn danach gefragt hab.«

»Er wollte doch nur seine eigenen Hoffnungen nicht noch weiter

hochschrauben«, sagte Hermine altklug. »Und er hat sich

wahrscheinlich selber ein wenig schuldig gefühlt, denn ich glaube, im

Grunde hat er ein bisschen gehofft, sie würden dich rauswerfen. Dann

wärt ihr beide gemeinsam Verstoßene gewesen.«

»Jetzt hör auf zu spinnen!«, sagten Harry und Ron wie aus einem

Mund, doch Hermine zuckte nur die Achseln.

»Wie ihr meint. Aber manchmal denke ich, Rons Mutter hat Recht

und Sirius kriegt nicht ganz auf die Reihe, ob du nun du bist oder dein

Vater, Harry.«

»Willst du etwa sagen, er hat sie nicht mehr alle?«, erwiderte Harry

aufgebracht.

»Nein, ich glaube nur, dass er lange Zeit sehr einsam war«, sagte

Hermine schlicht.

In diesem Moment betrat Mrs. Weasley das Schlafzimmer.

»Immer noch nicht fertig?«, sagte sie und steckte den Kopf in den

Schrank.

»Ich dachte, du kommst, um uns zu sagen, dass wir mal Pause

machen sollen«, sagte Ron bitter. »Weißt du, wie viel Schimmel wir

weggemacht haben, seit wir hier sind?«

»Du wolltest den Orden unbedingt unterstützen«, sagte Mrs.

Weasley, »das kannst du, indem du dein Teil dazu beiträgst, dass das

Hauptquartier bewohnbar wird.«

»Ich komm mir vor wie ein Hauself«, grummelte Ron.

»Aha! Wenn du jetzt begreifst, was für ein schreckliches Leben sie

führen, engagierst du dich vielleicht ein bisschen mehr für

B.ELFE.R!«, sagte Hermine hoffnungsvoll, als Mrs. Weasley sie

wieder allein ließ. »Weißt du, vielleicht wäre es gar keine so schlechte

Idee, den Leuten mal richtig zu zeigen, wie furchtbar es ist, die ganze

Zeit zu putzen – wir könnten mal einen gesponserten Großputz im

- 177 -

Gemeinschaftsraum von Gryffindor organisieren, alle Erlöse an

B.ELFE.R, das würde das Bewusstsein und die Kasse stärken.«

»Ich sponser dich, wenn du mit diesem Gebelfer aufhörst«,

murmelte Ron ärgerlich, aber so leise, dass nur Harry ihn hören

konnte.

Je näher das Ende der Ferien rückte, desto mehr schwelgte Harry in

Tagträumen von Hogwarts; er konnte e« nicht mehr erwarten, Hagrid

wieder zu sehen, Quidditch zu spielen und sogar durch die

Gemüsebeete zu den Kräuterkunde-Gewächshäusern zu schlendern;

wie herrlich würde es sein, endlich aus diesem staubigen, modrigen

Haus herauszukommen, wo die Hälfte der Schränke immer noch

verriegelt war und Kreacher einem aus dunklen Winkeln

Beleidigungen hinterherkeuchte. Allerdings erwähnte Harry in

Hörweite von Sirius mit Bedacht kein Wort davon.

Das Leben im Hauptquartier der Widerstandsbewegung gegen

Voldemort war nicht annähernd so interessant oder aufregend, wie

Harry erwartet hatte, bevor er es kennen gelernt hatte. Mitglieder des

Phönixordens gingen zwar regelmäßig ein und aus, mal blieben sie

zum Essen, mal nur für ein paar Minuten, in denen sie sich flüsternd

besprachen, doch Mrs. Weasley sorgte dafür, dass Harry und den

anderen nichts zu Ohren kam (ob lang gezogen oder nicht), und

niemand, nicht einmal Sirius, schien der Meinung zu sein, Harry

müsste noch ein wenig mehr erfahren, als er am Abend seiner Ankunft

gehört hatte.

Am allerletzten Tag der Ferien wischte Harry gerade Hedwigs Mist

vom Schrank, als Ron mit ein paar Umschlägen in ihr Schlafzimmer

kam.

»Die Bücherlisten sind angekommen«, sagte er und warf Harry,

der auf einem Stuhl stand, einen Umschlag zu. »Wird auch Zeit, ich

dachte, sie hätten's vergessen, normalerweise kommen sie viel früher

…«

Harry wischte den letzten Mist in einen Müllbeutel und schleuderte

ihn über Rons Kopf hinweg in den Papierkorb in der Ecke, der ihn

schluckte und laut rülpste. Dann öffnete er seinen Brief. Er enthielt

zwei Pergamentblätter: das eine mit der üblichen Erinnerung, dass das

- 178 -

Schuljahr am ersten September begann; auf dem anderen wurde ihm

mitgeteilt, welche Bücher er für das kommende Jahr benötigte.

»Nur zwei neue«, sagte er und las die Liste. »Lehrbuch der

Zaubersprüche, Band 5, von Miranda Habicht, und Theorie magischer

Verteidigung von Wilbert Slinkhard.«

Knall.

Fred und George apparierten direkt neben Harry. Er hatte sich

inzwischen so daran gewöhnt, dass er nicht mal vom Stuhl fiel.

»Wir haben uns gerade gefragt, wer das Slinkhard-Buch auf die

Liste gesetzt hat«, sagte Fred beiläufig.

»Das heißt nämlich, dass Dumbledore einen neuen Lehrer für

Verteidigung gegen die dunklen Künste gefunden hat«, sagte George.

»Wurde auch Zeit«, sagte Fred.

»Was soll das heißen?«, fragte Harry und sprang neben ihnen zu

Boden.

»Naja, vor ein paar Wochen haben wir mit den Langziehohren

Mum und Dad abgehört«, erklärte ihm Fred, »und was wir so

mitgekriegt haben, war, dass Dumbledore echte Probleme hatte,

jemanden zu finden, der dieses Jahr den Job machen wollte.«

»Nicht gerade überraschend, wenn man bedenkt, was mit den

letzten vieren passiert ist«, bemerkte George.

»Einer rausgeworfen, einer tot, einem wurde das Gedächtnis

gelöscht und einer neun Monate lang in einen Koffer gesperrt«, sagte

Harry und zählte sie an den Fingern ab. »Ja, ich versteh, was ihr

meint.«

»Was hast du, Ron?«, fragte Fred.

Ron gab keine Antwort. Harry drehte sich zu ihm um.

Ron stand reglos da, den Mund leicht geöffnet, und starrte auf

seinen Brief aus Hogwarts.

»Was ist los?«, fragte Fred ungeduldig, trat hinter Ron und spähte

ihm über die Schulter auf das Pergament.

- 179 -

Auch Fred klappte der Mund auf.

»Vertrauensschüler?«, sagte er und starrte ungläubig auf den Brief.

»Vertrauensschüler?«

George stürzte vor, riss Ron den Umschlag aus der anderen Hand

und schüttelte ihn aus. Harry sah etwas Scharlachrotes und Goldenes

in Georges Hand fallen.

»Nicht möglich«, hauchte George.

»Das ist ein Irrtum«, sagte Fred, schnappte Ron den Brief weg und

hielt ihn gegen das Licht, als wollte er das Wasserzeichen prüfen.

»Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde Ron zum

Vertrauensschüler machen.«

Die Zwillinge wandten gleichzeitig die Köpfe und starrten Harry

an.

»Wir dachten, du hättest das schon in der Tasche!«, sagte Fred in

einem Ton, der klang, als hätte Harry sie irgendwie reingelegt.

»Wir dachten, Dumbledore könnte nur dich wählen!«, sagte

George entrüstet.

»Wo du das Trimagische gewonnen hast und überhaupt!«, sagte

Fred.

»Vermutlich haben diese ganzen verrückten Geschichten gegen ihn

gesprochen«, sagte George zu Fred.

»Jaah«, sagte Fred langsam. »Ja, du hast zu viel Ärger gemacht,

Mann. Naja, wenigstens einer von euch weiß seine Prioritäten zu

setzen.«

Er trat hinüber zu Harry und klopfte ihm auf die Schulter,

gleichzeitig warf er Ron einen vernichtenden Blick zu.

»Vertrauensschüler … Putzi-Putzi-Ronnie, der Vertrauensschüler.«

»Ooh, Mum wird völlig durchdrehen«, stöhnte George und streckte

Ron das Vertrauensschülerabzeichen entgegen, als könnte es ihn

vergiften.

- 180 -

Ron, der immer noch kein Wort gesagt hatte, nahm das Abzeichen,

musterte es kurz, dann hielt er es Harry hin, als würde er wortlos um

Bestätigung bitten, dass es echt war. Harry nahm es in die Hand. Auf

den Gryffindor-Löwen war ein großes »V« geprägt. Er hatte an

seinem ersten Tag in Hogwarts genau ein solches Abzeichen auf

Percys Brust gesehen.

Die Tür krachte auf. Hermine kam hereingestürmt, mit geröteten

Wangen und wehendem Haar. In der Hand hielt sie einen Umschlag.

»Habt ihr – habt ihr …?«

Sie bemerkte das Abzeichen in Harrys Hand und stieß einen

spitzen Schrei aus.

»Ich wusste es!«, rief sie erregt und wedelte mit ihrem Brief. »Ich

auch, Harry, ich auch!«

»Nein«, entgegnete Harry rasch und drückte Ron das Abzeichen

wieder in die Hand. »Nicht ich, Ron ist es.«

»Es – was?«

»Ron ist Vertrauensschüler, nicht ich«, sagte Harry.

»Ron?«, sagte Hermine und die Kinnlade fiel ihr herunter. »Aber

… bist du sicher? Ich meine …«

Sie errötete, als Ron ihr mit trotziger Miene das Gesicht zuwandte.

»In dem Brief steht mein Name«, sagte er.

»Ich …«, erwiderte Hermine abgrundtief verwirrt. »Ich … nun …

irre! Toll, Ron! Das ist wirklich …«

»Unerwartet.« George nickte.

»Nein«, sagte Hermine und wurde noch röter, »nein, ist es nicht …

Ron hat 'ne Menge ge… er ist wirklich …«

Die Tür hinter ihr ging ein wenig weiter auf und Mrs. Weasley

kam mit einem Stapel frisch gewaschener Umhänge rücklings ins

Zimmer.

»Ginny meint, die Bücherliste ist endlich gekommen«, sagte sie,

blickte auf all die Umschläge ringsum, trat hinüber zum Bett und fing

- 181 -

an, die Umhänge auf zwei Stapel zu verteilen. »Wenn ihr sie mir gebt,

nehme ich sie heute Nachmittag mit rüber in die Winkelgasse und

besorg euch die Bücher, während ihr packt. Ron, ich muss dir noch

Schlafanzüge kaufen, die hier sind mindestens zehn Zentimeter zu

kurz, nicht zu fassen, wie schnell du wächst … welche Farbe hättest

du denn gern?«

»Kauf ihm doch was Rot-Goldenes, passend zu seinem

Abzeichen«, sagte George und feixte.

»Passend zu was?«, fragte Mrs. Weasley zerstreut, rollte ein Paar

kastanienbraune Socken zusammen und legte sie auf Rons Stapel.

»Seinem Abzeichen«, sagte Fred mit einer Miene, als wolle er das

Schlimmste rasch hinter sich bringen. »Seinem hübschen glänzenden

neuen Vertrauensschülerabzeichen.« Es dauerte einen Moment, bis

Freds Worte zu der mit den Schlafanzügen beschäftigten Mrs.

Weasley durchgedrungen waren.

»Seinem … aber … Ron, du bist doch nicht …?«

Ron hielt sein Abzeichen hoch.

Wie Hermine stieß auch Mrs. Weasley einen spitzen Schrei aus.

»Ich kann's nicht fassen! Ich glaub es nicht! Oh, Ron, wie

wunderbar! Vertrauensschüler! Wie alle in der Familie!«

»Und was sind Fred und ich, Nachbarn von nebenan?«, sagte

George beleidigt, aber seine Mutter schob ihn beiseite und schloss

ihren jüngsten Sohn in die Arme.

»Wenn dein Vater das erfährt! Ron, ich bin so stolz auf dich, das

sind ja wunderbare Neuigkeiten, am Ende wirst du noch

Schulsprecher wie Bill und Percy, das ist der erste Schritt! Oh, dass so

etwas passiert, mitten in all den schweren Zeiten! Ich find's einfach

toll, oh, Ronnie …«

Fred und George machten hinter ihrem Rücken laute

Würgegeräusche, doch Mrs. Weasley beachtete sie nicht; die Arme

fest um Rons Hals geschlungen, küsste sie ihm das Gesicht ab, das

inzwischen ein leuchtenderes Scharlachrot angenommen hatte als sein

Abzeichen.

- 182 -

»Mum … nicht … Mum, ist ja schon gut …«, murmelte er und

versuchte sich von ihr zu lösen.

Sie ließ von ihm ab. »Nun, was soll es sein?«, sagte sie atemlos.

»Percy haben wir eine Eule geschenkt, aber du hast natürlich schon

eine.«

»W-was meinst du?«, fragte Ron und sah drein, als würde er seinen

Ohren nicht trauen.

»Dafür musst du doch eine Belohnung kriegen!«, sagte Mrs.

Weasley liebevoll. »Wie wär's mit einer hübschen neuen Garnitur

Festumhänge?«

»Wir haben ihm schon was in der Richtung gekauft«, sagte Fred

säuerlich und sah aus, als würde er diese Großzügigkeit aufrichtig

bedauern.

»Oder einen neuen Kessel, Charlies alter rostet ja durch, oder eine

neue Ratte, du hast doch Krätze immer so gemocht …«

»Mum«, sagte Ron hoffnungsvoll, »kann ich einen neuen Besen

haben?«

Mrs. Weasleys Gesicht fiel ein wenig ein; Besen waren teuer.

»Keinen wirklich guten!«, fügte Ron hastig hinzu. »Nur – nur

einen neuen – zur Abwechslung mal …«

Mrs. Weasley zögerte, dann lächelte sie.

»Natürlich … nun, ich beeil mich besser, wenn ich dir noch einen

Besen kaufen soll. Wir sehen uns dann alle später … der kleine

Ronnie, ein Vertrauensschüler! Und vergesst nicht, eure Koffer zu

packen … Vertrauensschüler … oh, ich bin ganz hibbelig!«

Sie gab Ron noch einen Kuss auf die Wange, schniefte laut und

wuselte hinaus.

Fred und George tauschten Blicke.

»Es macht dir doch nichts aus, wenn wir dich nicht küssen, Ron?«,

erkundigte sich Fred in gespielt besorgtem Tonfall.

- 183 -

»Wir könnten einen Knicks machen, wenn du magst«, sagte

George.

»Ach, haltet die Klappe«, erwiderte Ron und blickte sie finster an.

»Und wenn nicht?«, sagte Fred und ein böses Grinsen machte sich

auf seinem Gesicht breit. »Willst du uns Strafarbeiten verpassen?«

»Würd ja gern mal sehen, wie er's versucht«, kiekste George.

»Das könnte er, seht euch vor!«, erregte sich Hermine.

Fred und George prusteten los und Ron murmelte: »Lass gut sein,

Hermine.«

»In Zukunft müssen wir aber aufpassen, George«, sagte Fred und

tat, als würde er zittern, »wenn die beiden hinter uns her sind …«

»Ja, sieht so aus, als wäre unsere kriminelle Karriere endlich

vorbei«, sagte George kopfschüttelnd.

Und mit einem lauten Knall disapparierten die Zwillinge.

»Diese beiden!«, sagte Hermine zornig und starrte an die Decke,

durch die sie Fred und George jetzt im Zimmer oben dröhnend lachen

hören konnten. »Mach dir nichts draus, Ron, die sind nur

eifersüchtig!«

»Das glaub ich nicht«, entgegnete Ron mit zweifelnder Miene und

blickte ebenfalls zur Decke. »Die haben immer gesagt, nur Schwätzer

werden Vertrauensschüler … aber immerhin«, fügte er ein wenig

besser gelaunt hinzu, »haben sie auch nie einen neuen Besen gekriegt!

Wenn ich nur mit Mum gehen und selbst aussuchen könnte … einen

Nimbus wird sie sich nie leisten können, aber es gibt einen neuen

Sauberwisch, der war klasse … ja, ich glaub, ich geh und sag ihr, ich

hätte gern den Sauberwisch, nur damit sie Bescheid weiß …«

Er flitzte aus dem Zimmer und lie ß Harry und Hermine allein.

Aus irgendeinem Grund war Harry nicht danach zumute, Hermine

anzusehen. Er drehte sich zum Bett um, nahm den Stapel sauberer

Umhänge, den Mrs.

Weasley dort abgelegt hatte, und ging durchs Zimmer zu seinem

Koffer.

- 184 -

»Harry«, sagte Hermine vorsichtig.

»Toll, Hermine«, sagte Harry, so buttrig, dass es gar nicht nach

ihm klang, und immer noch ohne sie anzusehen fügte er hinzu:

»Hervorragend. Vertrauensschülerin. Großartig.«

»Danke«, sagte Hermine. »Ähm – Harry – könnte ich mir Hedwig

ausleihen, damit ich es Mum und Dad schreiben kann? Die werden

sich echt freuen – immerhin, Vertrauensschülerin ist etwas, das sie

verstehen können.«

»Ja klar, kein Problem«, sagte Harry, immer noch mit der buttrigen

Stimme, die nicht nach seiner klang. »Nimm sie nur!«

Er beugte sich über seinen Koffer, legte die Umhänge hinein und

tat so, als würde er nach etwas stöbern, während Hermine hinüber

zum Schrank ging und Hedwig herunterrief. Einige Augenblicke

vergingen; Harry hörte die Tür gehen, blieb aber vornübergebeugt

stehen und lauschte. Alles, was er nun hören konnte, waren das leere

Bild an der Wand, das erneut kicherte, und der Papierkorb in der

Ecke, der den Eulenmist aushustete.

Er richtete sich auf und blickte sich um. Hermine war gegangen

und Hedwig war verschwunden. Harry kehrte langsam zu seinem Bett

zurück, ließ sich darauf sinken und starrte mit leerem Blick den Fuß

des Schrankes an.

Er hatte völlig vergessen, dass im fünften Jahr die

Vertrauensschüler ausgewählt wurden. Er hatte sich zu viele Sorgen

darüber gemacht, dass er womöglich von der Schule verwiesen wurde,

um einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass bereits Abzeichen

auf geflügeltem Weg zu bestimmten Leuten sein mussten. Aber wenn

es ihm doch eingefallen wäre … wenn er nun doch daran gedacht

hätte … was hätte er dann erwartet?

Nicht das, sagte eine leise und ehrliche Stimme in seinem Kopf.

Harry verzog das Gesicht und vergrub es in den Händen. Er konnte

sich nicht selbst belügen; wenn er gewusst hätte, dass das

Vertrauensschülerabzeichen unterwegs war, dann hätte er erwartet, es

würde zu ihm kommen, nicht zu Ron. War er nun genauso hochmütig

- 185 -

wie Draco Malfoy? Hielt er sich für allen anderen überlegen? Glaubte

er wirklich, dass er besser war als Ron?

Nein, sagte die leise Stimme trotzig.

War das die Wahrheit?, fragte sich Harry und horchte beunruhigt

in sich hinein.

Ich bin besser im Quidditch, sagte die Stimme. Aber sonst bin ich

in nichts besser.

Das stimmte eindeutig, dachte Harry; im Unterricht war er nicht

besser als Ron. Aber wie war es sonst? Was war mit all den

Abenteuern, die er, Ron und Hermine zusammen erlebt hatten, seit sie

in Hogwarts waren, und bei denen sie oft Schlimmeres als den

Rauswurf riskiert hatten?

Jedenfalls waren Ron und Hermine die meiste Zeit mit mir

zusammen, sagte die Stimme in Harrys Kopf.

Allerdings nicht die ganze Zeit, sagte Harry zu sich selbst. Sie

haben nicht mit mir gegen Quirrell gekämpft. Sie haben es nicht mit

Riddle und dem Basilisken aufgenommen. Sie haben nicht all die

Dementoren verjagt in der Nacht, als Sirius geflohen ist. Sie waren

nicht mit mir zusammen auf diesem Friedhof, in der Nacht, als

Voldemort zurückkam …

Und wieder stieg das Gefühl in ihm hoch, schlecht behandelt zu

werden, das ihn schon am Abend seiner Ankunft beschlichen hatte.

Ich hab eindeutig mehr geleistet, dachte Harry entrüstet. Ich hab mehr

geleistet als die beiden!

Aber vielleicht, sagte die leise Stimme klar vernehmlich, vielleicht

bestimmt Dumbledore jemanden nicht deshalb zum

Vertrauensschüler, weil er in eine Menge gefährliche Situationen

geraten ist … vielleicht trifft er seine Wahl aus anderen Gründen …

Ron muss etwas haben, das du nicht …

Harry öffnete die Augen und lugte durch seine Finger auf die

Klauenfüße des Schrankes. Ihm ging durch den Kopf, was Fred gesagt

hatte: »Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde Ron zum

Vertrauensschüler machen …«

- 186 -

Harry lachte kurz auf. Einen Moment später fand er sich selbst

ekelhaft.

Ron hatte Dumbledore nicht um das Abzeichen gebeten. Ron

konnte nichts dafür. Wollte er, Harry, Rons allerbester Freund, den

Beleidigten spielen, nur weil er kein Abzeichen hatte, wollte er sich

wie die Zwillinge über Ron lustig machen, ihm alles verderben, nun,

da Ron ihm zum ersten Mal etwas voraushatte?

In diesem Moment hörte er wieder Rons Schr itte auf der Treppe.

Er stand auf, rückte seine Brille zurecht und setzte ein Grinsen auf, als

Ron durch die Tür stürmte.

»Hab sie grade noch erwischt«, sagte er freudestrahlend. »Sie will

den Sauberwisch besorgen, wenn's geht.«

»Cool«, sagte Harry und hörte erleichtert, dass seine Stimme nicht

mehr so buttrig klang. »Hör mal – Ron – toll, Mann.«

Das Lächeln schwand aus Rons Gesicht.

»Ich hätte nie gedacht, dass er mich nimmt!«, sagte er

kopfschüttelnd. »Ich dachte, du wirst es!«

»Nö, ich hab zu viel Ärger gemacht«, wiederholte Harry, was

schon Fred gesagt hatte.

»Jaah«, sagte Ron, »ja, wahrscheinlich … also, vielleicht sollten

wir jetzt unsere Koffer packen, was?«

Es war merkwürdig, wie sich ihre Habseligkeiten seit ihrer

Ankunft in alle Himmelsrichtungen verstreut hatten. Sie brauchten

fast den gesamten Nachmittag, um ihre Bücher und Sachen im ganzen

Haus zusammenzusuchen und sie wieder in ihren Schulkoffern zu

verstauen. Harry fiel auf, dass Ron sein Vertrauensschülerabzeichen

ständig mit sich herumtrug. Erst hatte er es aufs Nachttischchen

gelegt, dann steckte er es in die Tasche seiner Jeans, schließlich holte

er es wieder heraus und legte es auf seine gefalteten Umhänge, als

wolle er prüfen, wie das Rot auf dem Schwarz wirkte. Erst als Fred

und George vorbeischauten und ihm anboten, das Abzeichen mit

einem Dauerklebefluch an seine Stirn zu heften, wickelte er es

liebevoll in einen seiner kastanienbraunen Socken und schloss es in

den Koffer.

- 187 -

Gegen sechs kam Mrs. Weasley aus der Winkelgasse zurück,

beladen mit Büchern und einem länglichen, in dickes Packpapier

gewickelten Paket, das Ron ihr mit einem sehnsuchtsvollen Stöhnen

abnahm.

»Du brauchst es jetzt gar nicht erst auszupacken, die anderen

kommen gleich zum Abendessen, ich will euch sofort unten sehen«,

sagte sie, doch kaum war sie außer Sicht, riss Ron in wilder Hektik

das Paket auf und musterte mit verzückter Miene jeden Zentimeter

seines neuen Besens.

Unten im Keller hatte Mrs. Weasley ein scharlachrotes Spruchband

über den schwer beladenen Tisch gespannt, auf dem stand:

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH

DEN NEUEN VERTRAUENSSCHÜLERN

RON UND HERMINE

Harry hatte Mrs. Weasley während der ganzen Ferien nicht in so

guter Stimmung gesehen.

»Heute gibt's kein Abendessen am Tisch, hab ich mir gedacht,

sondern eine kleine Party«, verkündete sie Harry, Ron, Hermine, Fred,

George und Ginny, als sie in die Küche kamen. »Dein Vater und Bill

sind unterwegs, Ron. Ich hab ihnen Eulen geschickt und sie sind

einfach hin und weg«, fügte sie strahlend hinzu.

Fred verdrehte die Augen.

Sirius, Lupin, Tonks und Kingsley Shacklebolt waren schon da,

und gerade als Harry sich ein Butterbier eingeschenkt hatte, stapfte

Mad-Eye Moody herein.

»Oh, Alastor, ich bin froh, dass du hier bist«, empfing ihn Mrs.

Weasley fröhlich, während Mad-Eye seinen Reisemantel ablegte.

»Wir wollten dich schon ewig um einen Gefallen bitten – könntest du

einen Blick in das Schreibpult im Salon werfen und uns sagen, was

dort drinsteckt? Wir wollten es nicht öffnen, falls es etwas wirklich

Bösartiges ist.«

»Kein Problem, Molly …«

- 188 -

Moodys strahlend blaues Auge schwenkte nach oben und starrte

unverwandt durch die Küchendecke.

»Salon …«, knurrte er und die Pupille verengte sich. »Schreibpult

in der Ecke? Ja, ich seh's … jaah, ist ein Irrwicht … soll ich

hochgehen und ihn erledigen, Molly?«

»Nein, nein, das mach ich später dann selbst«, strahlte Mrs.

Weasley, »du trinkst jetzt erst mal was. Wir haben übrigens eine

kleine Feier …« Sie deutete auf das scharlachrote Spruchband. »Der

vierte Vertrauensschüler in der Familie!«, sagte sie liebevoll und

zerzauste Ron die Haare.

»Vertrauensschüler, he?«, knurrte Moody, richtete das normale

Auge auf Ron und schwenkte das magische Auge, so dass es seitlich

in seinen Kopf hineinstarrte. Harry hatte das äußerst unangenehme

Gefühl, es würde ihn ansehen, und verzog sich zu Sirius und Lupin.

»Nun, Glückwunsch«, sagte Moody und sah Ron weiterhin mit

dem normalen Auge an. »Autoritätspersonen ziehen ständig Ärger an,

aber ich vermute, Dumbledore glaubt, dass du den meisten schweren

Flüchen widerstehen kannst, sonst hätte er dich nicht ernannt …«

Ron schien recht verdutzt über diese Sicht der Dinge, konnte sich

jedoch eine Antwort ersparen, da in diesem Moment sein Vater und

sein ältester Bruder hereinkamen. Mrs. Weasley war so gut gelaunt,

dass sie sich nicht einmal darüber beschwerte, dass sie Mundungus

mitgebracht hatten. Er trug einen langen Mantel, der an den

merkwürdigsten Stellen fürchterlich ausgebeult wirkte, und lehnte das

Angebot ab, ihn auszuziehen und zu Moodys Reisemantel zu hängen.

»Nun, ich denke, ein Toast wäre angebracht«, sagte Mr. Weasley,

als sie mit Getränken versorgt waren. Er hob seinen Kelch. »Auf Ron

und Hermine, die neuen Vertrauensschüler von Gryffindor!«

Ron und Hermine strahlten, während alle auf ihr Wohl tranken und

dann applaudierten.

»Ich war nie Vertrauensschülerin«, hörte Harry Tonks gut gelaunt

hinter sich sagen, als alle zum Tisch gingen, um sich Essen aufzutun.

Ihr Haar war heute tomatenrot und hüftlang; sie hätte Ginnys ältere

- 189 -

Schwester sein können. »Meine Hauslehrerin meinte, mir würden

gewisse notwendige Eigenschaften fehlen.«

»Wie zum Beispiel?«, fragte Ginny und nahm sich eine

Backkartoffel.

»Wie die Fähigkeit, mich zu benehmen«, sagte Tonks.

Ginny lachte; Hermine sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie lächeln

sollte oder nicht, und beschied sich damit, einen besonders großen

Schluck Butterbier zu nehmen, an dem sie sich verschluckte.

»Und was ist mit dir, Sirius?«, fragte Ginny, während sie Hermine

auf den Rücken klopfte.

Sirius, der neben Harry stand, ließ sein bellendes Lachen hören.

»Keiner hätte mich zum Vertrauensschüler gemacht, ich hab zu

viele Strafstunden mit James abgesessen. Lupin war damals der brave

Junge, er hat das Abzeichen gekriegt.«

»Dumbledore hat anscheinend gehofft, ich könnte meine besten

Freunde ein wenig bändigen«, sagte Lupin. »Ich muss wohl kaum

sagen, dass ich jämmerlich gescheitert bin.«

Harrys Laune besserte sich schlagartig. Sein Vater war auch kein

Vertrauensschüler gewesen. Auf einmal erschien ihm das Fest viel

vergnüglicher; er lud sich seinen Teller voll und freute sich doppelt

über alle Leute, die da waren.

Ron schwärmte jedem, der es hören wollte, von seinem neuen

Besen vor. »… von null auf siebzig in zehn Sekunden, nicht schlecht,

was? Wenn man bedenkt, dass es der Komet Zwei-Neunzig laut

Besentest nur von null auf sechzig bringt, und zwar mit ordentlichem

Rückenwind …«

Hermine legte Lupin sehr ernsthaft ihre Ansichten über Elfenrechte

dar.

»Das ist doch der gleiche Unsinn wie die Ausgrenzung der

Werwölfe, oder? Das kommt alles von dieser schrecklichen Neigung

der Zauberer zu denken, dass sie anderen Geschöpfen überlegen sind

…«

- 190 -

Mrs. Weasley und Bill hatten ihre übliche Auseinandersetzung

über Bills Haare. »… da musst du jetzt unbedingt was machen, wo du

doch eigentlich so gut aussiehst, kürzer würde dir viel besser stehen,

nicht wahr, Harry?«

»Oh – weiß nicht …«, sagte Harry, gelinde erschrocken, dass seine

Meinung gefragt war; er stahl sich davon, hinüber zu Fred und

George, die in einer Ecke die Köpfe mit Mundungus

zusammengesteckt hatten.

Mundungus verstummte, als er Harry sah, aber Fred zwinkerte

Harry zu und winkte ihn heran.

»Schon in Ordnung«, erklärte er Mundungus, »Harry können wir

vertrauen, er ist unser Finanzier.«

»Schau mal, was Dung uns mitgebracht hat«, sagte George und

streckte Harry die Hand entgegen. Sie war, wie es aussah, voll

schrumpliger schwarzer Schoten. Ein leises Rasseln ging von ihnen

aus, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegten.

»Giftige Tentakelsamen«, sagte George. »Die brauchen wir für

unsere Nasch-und-Schwänz-Leckereien, aber sie sind

Nichtverkäufliche Substanzen der Klasse C, also hatten wir 'ne Menge

Schwierigkeiten, sie zu kriegen.«

»Wie sieht's aus, Dung, zehn Galleonen für alle?«, sagte Fred.

»Beim ganzen Ärger, den ich gehabt hab, bis ich die

beisammenhatte?«, erwiderte Mundungus und seine triefenden,

blutunterlaufenen Augen wurden noch größer. »Tut mir Leid, Jungs,

zwanzig, und keinen Knut weniger.«

»Dung macht gern Witze«, sagte Fred zu Harry gewandt.

»Ja, sein bester bisher waren sechs Sickel für einen Sack

Knarlkiele«, sagte George.

»Vorsicht«, warnte sie Harry leise.

»Was denn?«, meinte Fred. »Mum ist doch nur noch am Gurren

wegen Ron, unserem Vertrauensschüler, mach dir keine Sorgen.«

»Aber Moody könnte sein Auge auf euch werfen«, erklärte Harry.

- 191 -

Mundungus blickte nervös über die Schulter.

»Da hat er völlig Recht«, grunzte er. »Na schön, Jungs, 'nen

Zehner, aber macht mal hinne.«

»Danke, Harry!«, sagte Fred entzückt, als Mundungus seine

Taschen in die ausgestreckten Hände der Zwillinge gele ert hatte und

dann eilends in Richtung Büffet verschwunden war. »Die bringen wir

am besten gleich nach oben …«

Harry sah ihnen mit leisem Unbehagen nach. Ihm war mit einem

Mal eingefallen, dass Mr. und Mrs. Weasley sich fragen würden, wie

Fred und George ihren Scherzartikelladen finanzierten, wenn sie, was

unvermeidlich war, eines Tages davon erfuhren. Er hatte den

Zwillingen damals seinen Gewinn aus dem Trimagischen Turnier

ohne groß nachzudenken geschenkt, aber was, wenn das zu einem

neuen Familienkrach führte und zu einer Entfremdung wie schon bei

Percy? Würde Mrs. Weasley Harry immer noch als eine Art Sohn

betrachten, wenn sie herausfand, dass er es Fred und George

ermöglicht hatte, eine Laufbahn einzuschlagen, die sie für völlig

unpassend hielt?

Er stand da, wo die Zwillinge ihn verlassen hatten, nur mit einem

drückenden Schuldgefühl in der Magengrube, als er seinen Namen

hörte. Kingsley Shacklebolts tiefe Stimme war auch durch das

allgemeine Geschnatter hindurch zu verstehen.

»… warum hat Dumbledore nicht Potter zum Vertrauensschüler

gemacht?«, fragte Kingsley.

»Er wird seine Gründe gehabt haben«, antwortete Lupin.

»Aber damit hätte er ihm sein Vertrauen bewiesen. Ich an seiner

Stelle jedenfalls hätte es getan«, beharrte Kingsley, »gerade weil sich

der Tagesprophet alle paar Tage über ihn hermacht …«

Harry wandte sich nicht um, er wollte nicht, dass Lupin oder

Kingsley merkten, dass er zugehört hatte. Obwohl er kein bisschen

hungrig war, folgte er Mundungus zurück an den Tisch. Seine Freude

an dem Fest war so rasch verflogen, wie sie gekommen war; am

liebsten wäre er oben in seinem Bett gewesen.

- 192 -

Mad-Eye Moody beschnüffelte mit den Resten seiner Nase ein

Hühnerbein; offensichtlich konnte er keine Spuren von Gift

entdecken, denn schon riss er mit den Zähnen eine Strähne Fleisch ab.

»… der Stiel ist aus spanischer Eiche mit Anti-Fluch-Lackierung

und eingebauter Vibrationskontrolle …«, erklärte Ron gerade Tonks.

Mrs. Weasley gähnte herzhaft.

»Ach, ich glaub, diesen Irrwicht erledige ich noch, bevor ich ins

Bett gehe … Arthur, ich will nicht, dass diese Rasselbande zu lange

aufbleibt, ja? Gute Nacht, Harry, mein Lieber.«

Sie verließ die Küche. Harry stellte seinen Teller ab und überlegte,

ob er ihr folgen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.

»Alles in Ordnung mit dir, Potter?«, brummte Moody.

»Jaah, alles klar«, log Harry.

Moody nahm einen Schluck aus seinem Flachmann, während sein

strahlend blaues Auge Harry von der Seite her anstarrte.

»Schau mal, ich hab was, das dich vielleicht interessieren wird«,

sagte er.

Aus einer Innentasche seines Umhangs zog Moody ein sehr

zerknittertes altes Zaubererfoto.

»Original der Orden des Phönix«, knurrte Moody. »Hab's gestern

Nacht gefunden, als ich nach meinem zweiten Tarnumhang gesucht

hab, dieser Podmore hat ja nicht mal den Anstand, mir meinen besten

zurückzubringen … dachte, die Leute würden es gern sehen.«

Harry nahm das Foto in die Hand. Eine kleine Gruppe von

Menschen schaute zu ihm hoch, manche winkten, andere hoben ihre

Gläser.

»Das bin ich«, sagte Moody und deutete überflüssigerweise auf

sich selbst. Der Moody im Bild war nicht zu verwechseln, auch wenn

sein Haar nicht ganz so grau und seine Nase heil war. »Und das neben

mir ist Dumbledore, auf der anderen Seite Dädalus Diggel … das ist

Marlene McKinnon, sie wurde zwei Wochen nach dieser Aufnahme

- 193 -

umgebracht, die haben ihre ganze Familie ausgelöscht. Das sind Frank

und Alice Longbottom …«

Harrys Magen, ohnehin schon flau, verkrampfte sich, als er Alice

Longbottom ansah; er kannte ihr rundes, freundliches Gesicht sehr

gut, obwohl er sie nie getroffen hatte, denn ihr Sohn Neville war ihr

wie aus dem Gesicht geschnitten.

»… arme Teufel«, knurrte Moody. »Besser der Tod als das, was

mit ihnen geschehen ist … und das ist Emmeline Vance, du hast sie

schon kennen gelernt, und das hie r ist natürlich Lupin … Benjy

Fenwick, auch ihn hat's erwischt, wir haben nur Stücke von ihm

gefunden … rückt mal auf hier«, fügte er hinzu und stupste gegen das

Bild, und die kleinen Leute im Foto rückten zur Seite, so dass, wer

bisher halb verdeckt gewesen war, nach vorn kommen konnte.

»Das ist Edgar Bones … Bruder von Amelia Bones, ihn und seine

Familie haben sie auch erwischt, war ein großartiger Zauberer …

Sturgis Podmore, verdammt, sieht der jung aus … Caradoc Dearborn,

sechs Monate später verschwunden, wir haben seine Leiche nie

gefunden … Hagrid, sieht natürlich genauso aus wie immer …

Elphias Doge, den hast du kennen gelernt, hatte ganz vergessen, dass

er immer diesen blöden Hut trug … Gideon Prewett, fünf Todesser

waren nötig, ihn und seinen Bruder Fabian zu töten, sie haben

gekämpft wie Helden … weiterrücken, weiterrücken …«

Die kleinen Leute in dem Foto drängelten und schubsten ein wenig

und die bislang ganz hinten Verborgenen erschienen vorn im Bild.

»Das ist Dumbledores Bruder Aberforth, das ein zige Mal, dass ich

ihn getroffen hab, merkwürdiger Kerl … das ist Dorcas Meadowes,

Voldemort hat sie eigenhändig umgebracht … Sirius, als er noch

kurze Haare hatte … und … da sind sie, ich dachte, das würd dich

interessieren!«

Harry blieb das Herz stehen. Seine Mutter und sein Vater strahlten

zu ihm hoch. Sie saßen zu beiden Seiten eines kleinen Mannes mit

wässrigen Augen, den Harry sofort als Wurmschwanz erkannte, der

den Aufenthaltsort seiner Eltern an Voldemort verraten und so ihren

Tod mit herbeigeführt hatte.

»Na?«, sagte Moody.

- 194 -

Harry blickte in Moodys tief vernarbtes und zerfurchtes Gesicht.

Offensichtlich glaubte Moody, er hätte Harry soeben eine Art Gefallen

getan.

»Ja«, sagte Harry und versuchte wieder zu grinsen. »Ähm … hören

Sie, mir ist gerade eingefallen, ich hab meinen Koffer noch nicht …«

Es blieb ihm erspart, sich etwas einfallen zu lassen, was er mit dem

Koffer noch nicht gemacht hatte. Sirius hatte gerade gesagt: »Was

hast du da, Mad-Eye?«, und Moody hatte sich ihm zugewandt. Harry

durchquerte die Küche, glitt durch die Tür und die Treppe hoch, bevor

ihn noch jemand zurückrufen konnte.

Er wusste nicht, warum es ein solcher Schock gewesen war.

Schließlich hatte er früher schon Bilder seiner Eltern gesehen und er

hatte Wurmschwanz getroffen … aber sie so plötzlich vorgesetzt zu

kriegen, wenn er es am wenigsten erwartet hätte … darüber würde

sich niemand freuen, dachte er zornig …

Und sie dann auch noch von all diesen anderen glücklichen

Gesichtern umgeben zu sehen … von Benjy Fenwick, den sie in

Stücken gefunden hatten, und Gideon Prewett, der wie ein Held

gestorben war, und den Longbottoms, die durch Folter in den

Wahnsinn getrieben worden waren … alle winkten sie für immer und

ewig aus dem Foto, ohne zu wissen, dass sie dem Tod geweiht waren

… Moody fand das vielleicht interessant … er, Harry, fand es

beunruhigend …

Harry ging auf Zehenspitzen die Treppe in der Halle hoch, vorbei

an den ausgestopften Elfenköpfen, froh wieder alleine zu sein, doch

als er sich dem ersten Treppenabsatz näherte, hörte er Geräusche. Im

Salon schluchzte jemand.

»Hallo?«, sagte Harry.

Niemand antwortete, aber das Schluchzen hielt an. Zwei Stufen auf

einmal nehmend, eilte er vollends hoch, lief über den Treppenabsatz

und öffnete die Salontür.

Jemand kauerte an der dunkle n Wand, den Zauberstab in der Hand,

und schluchzte, dass es den ganzen Körper schüttelte. In einem

- 195 -

Flecken Mondlicht, auf dem staubigen alten Teppich ausgestreckt, lag

Ron, offensichtlich tot.

Die Luft schien aus Harrys Lungen zu entweichen; ihm war, als

fiele er durch den Fußboden; sein Gehirn wurde eiskalt – Ron tot,

nein, das war nicht möglich Aber Moment mal, das war nicht möglich

– Ron war unten …

»Mrs. Weasley?«, krächzte Harry.

»R-r-riddikulus!«, schluchzte Mrs. Weasley und deutete mit ihrem

zitternden Zauberstab auf Rons Leiche.

Knall.

Rons Leiche verwandelte sich in die Bills, rücklings und alle viere

von sich gestreckt lag er da, die Augen aufgerissen und leer. Mrs.

Weasley schluchzte noch heftiger.

»R-riddikulus!«, schluchzte sie erneut.

Knall.

An Bills Stelle erschien Mr. Weasley, die Brille schief auf der

Nase, ein Rinnsal Blut im Gesicht.

»Nein!«, stöhnte Mrs. Weasley. »Nein … riddikulus! Riddikulus!

RIDDIKULUS!«

Knall. Die Zwillinge tot. Knall. Percy tot. Knall. Harry tot …

»Mrs. Weasley, Sie müssen hier raus!«, rief Harry und starrte auf

seinen leblosen Körper am Boden. »Lassen Sie jemand anderen …«

»Was ist hier los?«

Lupin war in den Salon gestürmt, dicht gefolgt von Sirius, und

Moody stapfte hinterdrein. Lupin blickte von Mrs. Weasley auf den

toten Harry am Boden und schien augenblicklich zu begreifen. Er zog

seinen Zauberstab und sagte, sehr laut und deutlich:

»Riddikulus!«

Harrys Leiche verschwand. Über der Stelle, wo sie gelegen hatte,

schwebte eine silbrige Kugel. Lupin schwang noch einma l seinen

Zauberstab und die Kugel löste sich in eine Rauchwolke auf.

- 196 -

»Oh – oh – oh!«, jammerte Mrs. Weasley, vergrub das Gesicht in

den Händen und brach heftig in Tränen aus.

»Molly«, sagte Lupin mit düsterer Stimme und trat zu ihr. »Molly,

nicht …«

Im nächsten Moment weinte sie sich an Lupins Schulter die Seele

aus dem Leib.

»Molly, das war doch nur ein Irrwicht«, tröstete er sie und

tätschelte sanft ihren Kopf. »Nur ein dummer Irrwicht …«

»Ich seh sie immer – t-t-tot!«, stöhnte Mrs. Weasley an seiner

Schulter. »I-i-immer noch! Ich w-w-werd davon träumen …«

Sirius starrte auf die Stelle des Teppichs, wo der Irrwicht, der sich

in Harrys Körper verwandelt hatte, gelegen hatte. Moody hatte den

Blick auf Harry geheftet, der es vermied, ihn anzusehen. Er hatte das

komische Gefühl, dass Moodys magisches Auge ihm die ganze Zeit

gefolgt war, seit er die Küche verlassen hatte.

»S-s-sag bloß nichts zu Arthur«, würgte Mrs. Weasley jetzt hervor

und wischte sich hektisch mit den Ärmeln die Augen. »Ich w-w-will

nicht, dass er's erfährt … wie albern …«

Lupin reichte ihr ein Taschentuch und sie putzte sich die Nase.

»Harry, tut mir furchtbar Leid. Was denkst du jetzt bloß von mir?«,

sagte sie zittrig. »Nicht mal mit einem Irrwicht wird sie fertig …«

»Ach was«, sagte Harry und versuchte zu lächeln.

»Ich mach mir nur s-s-solche Sorgen«, sagte sie und wieder

quollen ihr Tränen aus den Augen. »Die halbe F-F-Familie ist im

Orden, das war ein W-W-Wunder, wenn wir alle heil da rauskommen

würden … und P-P-Percy redet nicht mit uns … und wenn etwas Sch-

Sch-Schreckliches passiert und wir haben uns n-n-nie mit ihm

ausgesöhnt? Und was passiert, wenn Arthur und ich umkommen, wer

w-w-wird sich um Ron und Ginny kümmern?«

»Molly, jetzt ist es aber genug«, sagte Lupin entschieden. »Es ist

nicht wie beim letzten Mal. Der Orden ist besser vorbereitet, wir sind

im Vorteil, wir wissen, was Voldemort plant …«

- 197 -

Mrs. Weasley ließ bei dem Namen einen kleinen spitzen

Angstschrei hören.

»Oh, Molly, nun komm, es wird langsam Zeit, dass du dich daran

gewöhnst, diesen Namen zu hören – schau, ich kann nicht

versprechen, dass keinem etwas geschieht, niemand kann das, aber wir

sind viel besser dran als letztes Mal. Du warst damals nicht im Orden,

du verstehst das nicht. Das letzte Mal waren uns die Todesser zwanzig

zu eins überlegen und sie haben sich einen nach dem anderen von uns

geholt …«

Harry dachte wieder an das Foto, an die strahlenden Gesichter

seiner Eltern. Er wusste, dass Moody ihn immer noch beobachtete.

»Mach dir keine Sorgen wegen Percy«, warf Sirius unvermittelt

ein. »Er wird schon noch zu uns stoßen. Es ist nur eine Frage der Zeit,

bis Voldemort offen auftritt; sobald er das tut, wird uns das ganze

Ministerium um Verzeihung bitten. Und ich bin nicht sicher, ob ich

ihre Entschuldigung annehme«, fügte er bitter hinzu.

»Und was Ron und Ginny angeht, falls du und Arthur sterben

solltet«, sagte Lupin mit einem leisen Lächeln, »was glaubst du, was

wir tun würden – sie verhungern lassen?«

Mrs. Weasley lächelte zittrig.

»War albern von mir«, murmelte sie noch einmal und wischte sich

die Augen.

Aber Harry, als er etwa zehn Minuten später die Schlafzimmertür

hinter sich schloss, hielt Mrs. Weasley nicht für albern. Noch immer

sah er seine Eltern aus dem zerknitterten alten Foto zu ihm

aufstrahlen. Sie wussten nicht, dass ihr Leben, wie das so vieler

anderer in ihrem Umkreis, dem Ende zuging. Das Bild des Irrwichts,

der nacheinander die Totengestalt aller Weasleys angenommen hatte,

tauchte immer wieder vor ihm auf.

Ohne Vorwarnung spürte er erneut einen scharfen Schmerz in

seiner Stirnnarbe und sein Magen verkrampfte sich fürchterlich.

»Schluss damit«, sagte er entschieden und rieb sich die Narbe,

während der Schmerz nachließ.

- 198 -

»Das erste Zeichen des Wahnsinns, mit dem eigenen Kopf reden«,

sagte eine hinterlistige Stimme aus dem leeren Bild an der Wand.

Harry beachtete sie nicht. Er fühlte sich so alt wie noch nie im

Leben und es kam ihm äußerst merkwürdig vor, dass er sich kaum

eine Stunde zuvor noch Gedanken wegen eines Scherzartikelladens

und wegen eines Vertrauensschülerabzeichens gemacht hatte.

- 199 -

Luna Lovegood

Harry hatte eine unruhige Nacht. Seine Eltern flochten sich durch

seine Träume, ohne ein Wort zu sprechen; Mrs. Weasley stand

schluchzend über Kreachers Leiche gebeugt, Ron und Hermine, die

Kronen trugen, beobachteten sie, und abermals sah sich Harry einen

Korridor entlanggehen, der vor einer verschlossenen Tür endete. Er

fuhr aus dem Schlaf hoch, seine Narbe ziepte und er erblickte Ron vor

sich, der bereits angezogen war und mit ihm sprach.

»… beeil dich lieber, Mum tickt völlig aus, sie sagt, wir verpassen

den Zug …«

Im Haus herrschte Aufruhr. Aus dem, was Harry mitbekam,

während er sich in Windeseile anzog, reimte er sich zusammen, dass

Fred und George, um sich die Mühe des Schleppens zu ersparen, ihre

Koffer behext hatten, treppab zu fliegen. Dabei waren sie gegen Ginny

geknallt, die zwei Treppen tief in die Halle gestürzt war; Mrs. Black

und Mrs. Weasley schrien beide aus Leibeskräften.

»… HÄTTE SICH SCHWER VERLETZEN KÖNNEN, IHR

DUMMKÖPFE …«

»… SCHMUTZIGE HALBBLÜTER, BESUDELN DAS HAUS

MEINERVÄTER …«

Harry zog gerade seine Turnschuhe an, als Hermine in heller

Aufregung hereingestürmt kam. Auf ihrer Schulter schwankte Hedwig

und in den Armen trug sie einen sich sträubenden Krummbein.

»Hedwig ist gerade eben von Mum und Dad zurückgekommen.«

Die Eule flatterte folgsam hinüber zu ihrem Käfig und ließ sich darauf

nieder. »Bist du schon fertig?«

»Fast. Wie geht's Ginny?«, fragte Harry und setzte sich die Brille

auf.

»Mrs. Weasley hat sie zusammengeflickt«, sagte Hermine. »Aber

jetzt besteht Mad-Eye darauf, dass wir nicht rauskönnen, solange

Sturgis Podmore nicht da ist, sonst hat die Leibgarde einen Mann zu

wenig.«

- 200 -

»Leibgarde?«, sagte Harry. »Müssen wir mit Begleitschutz nach

King's Cross?«

»Du musst mit Begleitschutz nach King's Cross«, korrigierte ihn

Hermine.

»Wieso?«, fragte Harry ärgerlich. »Ich dachte, Voldemort hält sich

bedeckt, oder willst du mir erzählen, dass er demnächst hinter einer

Mülltonne hervorspringt und mich allemachen will?«

»Keine Ahnung, Mad-Eye sagt das«, erwiderte Hermine zerstreut

und sah auf ihre Uhr, »aber wenn wir nicht bald aufbrechen, verpassen

wir den Zug garantiert …«

»KOMMT IHR ALLE JETZT BITTE SOFORT RUNTER!«,

brüllte Mrs. Weasley und Hermine schreckte hoch wie von der

Tarantel gestochen und hastete aus dem Zimmer. Harry packte

Hedwig, stopfte sie ohne viel Federlesen in den Käfig, schleifte den

Koffer hinter sich her und folgte Hermine nach unten.

Mrs. Blacks Porträt kreischte zornig, aber niemand machte sich die

Mühe, die Vorhänge vor ihrer Nase zu schließen; all der Lärm in der

Halle würde sie ohnehin wieder in Rage bringen.

»Harry, du gehst mit mir und Tonks«, rief Mrs. Weasley – über die

»SCHLAMMBLÜTER! ABSCHAUM! GOSSEN-KINDER!«-Rufe

hinweg –, »lass Koffer und Eule da, Alastor kümmert sich um das

Gepäck … oh, um Himmels willen, Sirius, Dumbledore hat nein

gesagt!«

Ein bärenartiger schwarzer Hund war an Harrys Seite aufgetaucht

und stieg über die diversen in der Halle umherstehenden Koffer

hinweg, um zu Mrs. Weasley zu gelangen.

»Also ehrlich …«, sagte Mrs. Weasley entnervt. »Na gut, auf deine

Verantwortung …«

Sie zog die Haustür auf und trat hinaus ins weiche Licht der

Septembersonne. Harry und der Hund folgten ihr. Die Tür schlug

hinter ihnen zu und im selben Moment waren Mrs. Bla cks Schreie

nicht mehr zu hören.

- 201 -

»Wo ist Tonks?«, fragte Harry und blickte sich um, während sie

die Steinstufen vor Nummer zwölf hinuntergingen, die verschwanden,

sobald sie den Gehweg betreten hatten.

»Sie wartet gleich dort drüben auf uns«, sagte Mrs. Weasley steif

und wandte den Blick von dem schwarzen Hund ab, der neben Harry

hertänzelte.

An der Straßenecke wurden sie von einer alten Frau begrüßt. Sie

hatte dicht gelocktes graues Haar und trug einen lila Hut, der aussah

wie eine Fleischpastete.

»So 'ne Überraschung, Harry«, sagte sie augenzwinkernd. »Wir

sollten uns beeilen, nicht wahr, Molly?«, fügte sie mit einem Blick auf

ihre Uhr hinzu.

»Ich weiß, ich weiß«, stöhnte Mrs. Weasley und schritt noch

entschiedener aus, »aber Mad-Eye wollte auf Sturgis warten … wenn

Arthur uns doch nur wieder Autos aus dem Ministerium besorgt hätte

… aber Fudge will ihn heutzutage nicht mal mehr ein leeres

Tintenfass ausleihen lassen … wie ertragen die Muggel bloß das

Reisen ohne Zauberei …«

Doch der große schwarze Hund bellte freudig auf, sprang um sie

herum, schnappte nach Tauben und jagte seinen eigenen Schwanz.

Harry musste lachen. Sirius hatte sehr lange im Haus festgesessen.

Mrs. Weasley schürzte die Lippen fast so wie Tante Petunia.

Sie brauchten zwanzig Minuten zu Fuß bis King's Cross, und bis

dahin geschah nichts Bedeutenderes, als dass Sirius, um Harry zu

belustigen, ein paar Katzen erschreckte. Sobald sie im Bahnhof waren,

stellten sie sich lässig an die Absperrung zwischen Gleis neun und

zehn, bis die Luft rein war, dann lehnten sie sich der Reihe nach

dagegen und kippten ohne weiteres auf den Bahnsteig von Gleis

neundreiviertel, wo der Hogwarts-Express bereitstand und rußigen

Dampf über das dichte Getümmel abreisender Schüler und deren

Familien blies. Harry atmete den vertrauten Geruch ein und spürte,

wie seine Lebensgeister erwachten … er kehrte tatsächlich zurück …

»Hoffentlich schaffen es die anderen noch rechtzeitig«, sagte Mrs.

Weasley besorgt und spähte hinter sich zu dem schmiedeeisernen

- 202 -

Bogen, der sich über den Bahnsteig wölbte und unter dem die

Neuankömmlinge erschienen.

»Hübscher Hund, Harry!«, rief ein großer Junge mit Rastalocken.

»Danke, Lee«, sagte Harry grinsend und Sirius wedelte wild mit

dem Schwanz.

»Oh, gut«, sagte Mrs. Weasley erleichtert, »da ist Alastor mit dem

Gepäck, schau …«

Moody, mit einer tief über seine so verschiedenen Augen

gezogenen Gepäckträgermütze, kam unter dem Bogen

hindurchgehumpelt und schob eine Karre mit ihren Koffern vor sich

her.

»Alles in Ordnung«, murmelte er Mrs. Weasley und Tonks zu,

»glaub nicht, dass wir verfolgt wurden …«

Sekunden später erschien Mr. Weasley mit Ron und Hermine auf

dem Bahnsteig. Sie hatten Moodys Gepäckkarre schon fast entladen,

als Fred, George und Ginny mit Lupin auftauchten.

»Kein Ärger?«, knurrte Moody.

»Nichts«, sagte Lupin.

»Die Sache mit Sturgis melde ich trotzdem an Dumbledore«, sagte

Moody. »Das ist schon das zweite Mal, dass er eine Woche lang nicht

auftaucht. Wird allmählich so unzuverlässig wie Mundungus.«

»Also, passt auf euch auf«, sagte Lupin und schüttelte ihnen

reihum die Hände. Zuletzt gab er Harry einen Klaps auf die Schulter.

»Du auch, Harry. Sei vorsichtig.«

»Ja, den Kopf in Deckung und die Augen offen halten«, sagte

Moody und schüttelte Harry ebenfalls die Hand. »Und vergesst nicht,

das gilt für alle – seid vorsichtig, was ihr schreibt. Wenn ihr euch

einer Sache nicht sicher seid, schreibt lieber nichts davon in einem

Brief.«

»War großartig, euch alle kennen zu lernen«, sagte Tonks und

umarmte Hermine und Ginny. »Ich denke, wir sehen uns bald.«

- 203 -

Ein Warnpfiff ertönte, und wer noch auf dem Bahnsteig war, stieg

nun eilends in den Zug.

»Jetzt aber los!«, sagte Mrs. Weasley zerstreut und umarmte sie

alle aufs Geratewohl, wobei sie Harry gleich doppelt erwischte.

»Schreibt uns … seid brav … wenn ihr was vergessen habt, schicken

wir es nach … jetzt aber rein in den Zug, schnell …«

Einen kurzen Moment lang stellte sich der große schwarze Hund

auf die Hinterläufe und legte die Vorderpfoten auf Harrys Schultern,

aber Mrs. Weasley schob Harry weiter zur Waggontür und zischte:

»Um Himmels willen, benimm dich mal ein bisschen mehr wie ein

Hund, Sirius!«

»Bis dann!«, rief Harry aus dem offenen Fenster, als der Zug

anfuhr, und neben ihm winkten Ron, Hermine und Ginny. Die

Umrisse von Tonks, Lupin, Moody und Mr. und Mrs. Weasley

wurden rasch kleiner, aber der schwarze Hund sprang neben ihnen am

Fenster her und wedelte mit dem Schwanz; verschwommene Gestalten

auf dem Bahnsteig beobachteten lachend, wie er dem Zug nachjagte,

dann ging es in eine Kurve und Sirius war verschwunden.

»Er hätte nicht mitkommen sollen«, sagte Hermine besorgt.

»Ach, mach dir keine Gedanken«, erwiderte Ron, »der arme Kerl

hat doch seit Monaten kein Tageslicht mehr gesehen.«

»Nun«, sagte Fred und klatschte in die Hände, »wir können hier

nicht den ganzen Tag rumstehen und quatschen, wir haben mit Lee

geschäftliche Dinge zu besprechen. Bis später dann.« Und er und

George verschwanden nach rechts den Gang entlang.

Der Zug beschleunigte noch immer, die Häuser vor dem Fenster

flitzten vorbei und sie gerieten ins Schwanken.

»Wollen wir uns nicht ein Abteil suchen?«, fragte Harry.

Ron und Hermine tauschten Blicke.

»Ähm«, sagte Ron.

»Wir – ja – Ron und ich müssen ins Vertrauensschülerabteil«,

sagte Hermine verlegen.

- 204 -

Ron mied Harrys Blick; er schien sich brennend für die

Fingernägel seiner linken Hand zu interessieren.

»Oh«, sagte Harry. »Gut. Na schön.«

»Ich glaub nicht, dass wir die ganze Fahrt über dort bleiben

müssen«, fügte Hermine rasch hinzu. »In unseren Briefen steht, dass

wir nur Anweisungen von den beiden Schulsprechern

entgegennehmen und dann von Zeit zu Zeit einen Streifzug durch die

Gänge machen müssen.«

»Na schön«, wiederholte Harry. »Nun, wir – wir sehen uns dann

später, vielleicht.«

»Ja, bestimmt«, sagte Ron und warf Harry flüchtig einen besorgten

Blick zu. »Stinkt mir, dass ich da hinmuss, ich würd lieber – aber wir

müssen – also, mir gefällt's nicht, ich bin ja nicht Percy«, schloss er

trotzig.

»Weiß ich doch«, sagte Harry und grinste. Doch als Hermine und

Ron ihre Koffer mitsamt Krummbein und Pigwidgeon im Käfig in

Richtung Lok davonschleiften, fühlte sich Harry merkwürdig

verlassen. Noch nie war er ohne Ron im Hogwarts-Express gereist.

»Komm schon«, mahnte ihn Ginny, »wenn wir uns beeilen, können

wir ihnen Plätze freihalten.«

»Stimmt«, sagte Harry und nahm Hedwigs Käfig in die eine und

den Koffergriff in die andere Hand. Sie kämpften sich durch die

Gänge und spähten im Vorbeigehen durch die Glastüren in die bereits

voll besetzten Abteile. Harry fiel auf, dass viele seine Blicke höchst

interessiert erwiderten und manche ihre Nachbarn anstießen und auf

ihn deuteten. Nachdem ihm das bei fünf Abteilen in Folge passiert

war, erinnerte er sich wieder, dass der Tagesprophet seinen Lesern den

ganzen Sommer über berichtet hatte, was für ein lügnerischer Angeber

er war. Er fragte sich betrübt, ob die Leute, die jetzt guckten und

flüsterten, diese Geschichten glaubten.

Im allerletzten Waggon trafen sie Neville Longbottom, er war wie

Harry jetzt im fünften Gryffindor-Jahr. Sein rundes Gesic ht glänzte

von der Anstrengung, den Koffer hinter sich herzuschleifen und

- 205 -

gleichzeitig mit einer Hand seine widerspenstige Kröte Trevor

festzuhalten.

»Hi, Harry«, keuchte er. »Hi, Ginny … alles voll hier … ich find

keinen Platz …«

»Was soll der Unsinn?«, sagte Ginny, die sich an Neville

vorbeigequetscht hatte und in das Abteil hinter ihm spähte. »Hier ist

Platz, da sitzt nur Loony Lovegood drin …«

Neville nuschelte etwas von wegen, er wolle niemanden stören.

»Stell dich nicht so an«, sagte Ginny und lachte, »sie ist in

Ordnung.«

Sie schob die Tür auf und zog ihren Koffer hinein. Harry und

Neville folgten.

»Hi, Luna«, sagte Ginny, »ist es okay für dich, wenn wir uns hier

reinsetzen?«

Das Mädchen am Fenster blickte auf. Sie hatte zotteliges,

hüftlanges, schmutzig blondes Haar, sehr helle Augenbrauen und

Glubschaugen, die ihr einen Ausdruck permanenten Erstaunens

verliehen. Harry wusste sofort, warum Neville an diesem Abteil lieber

vorbeigegangen war. Eine Aura von außerordentlicher Spleenigkeit

umgab dieses Mädchen. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie ihren

Zauberstab zur sicheren Aufbewahrung hinter ihr linkes Ohr

geklemmt hatte oder dass sie ein Halsband aus Butterbierkorken trug

oder dass sie ihr Magazin verkehrt hemm las. Ihr Blick wanderte über

Neville und blieb an Harry kleben. Sie nickte.

»Danke«, sagte Ginny und lächelte sie an.

Harry und Neville verstauten die drei Koffer und Hedwigs Käfig

im Gepäckregal und setzten sich. Luna beobachtete sie über ihr

umgedrehtes Magazin hinweg, das Der Klitterer hieß. Sie schien nicht

so oft blinzeln zu müssen wie gewöhnliche Menschen. Unablässig

starrte sie Harry an, der sich auf den Platz ihr gegenüber gesetzt hatte

und es jetzt bereute.

»Einen schönen Sommer verbracht, Luna?«, fragte Ginny.

- 206 -

»Ja«, sagte Luna verträumt, ohne die Augen von Harry

abzuwenden. »Ja, war eigentlich ganz schön. Du bist Harry Potter«,

fügte sie hinzu.

»Das weiß ich«, sagte Harry.

Neville gluckste. Nun wandte Luna ihre blassen Augen ihm zu.

»Und ich weiß nicht, wer du bist.«

»Ich bin niemand«, sagte Neville hastig.

»Nein, bist du nicht«, sagte Ginny scharf. »Neville Longbottom –

Luna Lovegood. Luna ist in meinem Jahrgang, aber in Ravenclaw.«

»Witzigkeit im Übermaß ist des Menschen größter Schatz«, sagte

Luna mit Singsangstimme.

Sie hob ihr umgedrehtes Magazin so hoch, dass es ihr Gesicht

verbarg, und verfiel in Schweigen. Harry und Neville sahen sich mit

hochgezogenen Brauen an. Ginny verkniff sich ein Kichern.

Der Zug ratterte dahin und trug sie schnell hinaus ins offene Land.

Es war ein merkwürdig unbeständiger Tag; mal war das Abteil

sonnendurchflutet und im nächsten Moment schon fuhren sie unter

bedrohlich grauen Wolken dahin.

»Rat mal, was ich zum Geburtstag bekommen hab«, sagte Neville.

»Noch ein Erinnermich?«, sagte Harry und dachte an die

murmelartige Kugel, die Nevilles Großmutter ihm geschickt hatte in

der Hoffnung, damit sein miserables Gedächtnis aufzubessern.

»Nein«, sagte Neville. »Könnt allerdings eins gebrauchen, mein

altes hab ich schon vor 'ner Ewigkeit verloren … nein, schau mal …«

Während er Trevor mit der einen Hand festhielt, steckte er die

andere in seine Schultasche, stöberte ein wenig darin und brachte

etwas zum Vorschein, das wie ein kleiner grauer Kaktus in einem

Topf aussah, nur dass er nicht mit Stacheln, sondern offenbar mit

Furunkeln überzogen war.

»Mimbulus mimbeltonia«, sagte er stolz.

Harry starrte das Ding an. Es pulsierte leicht, was ihm das ziemlich

grausige Aussehen eines kranken inneren Organs verlieh.

- 207 -

»Der ist echt total selten«, sagte Neville und strahlte. »Ich weiß

nicht mal, ob sie in Hogwarts einen davon im Gewächshaus haben.

Den muss ich unbedingt Professor Sprout zeigen. Mein Großonkel

Algie hat ihn für mich aus Assyrien mitgebracht. Mal sehen, ob ich

Ableger davon züchten kann.«

Harry wusste, dass Kräuterkunde Nevilles Lieblingsfach war, aber

er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Neville mit

dieser kümmerlichen kleinen Pflanze anfangen wollte.

»Tut der – ähm – irgendwas?«, fragte er.

»'ne ganze Menge!«, rief Neville stolz. »Er hat einen irren

Verteidigungsmechanismus. Hier, halt mal Trevor …«

Er ließ die Kröte in Harrys Schoß plumpsen und holte eine

Schreibfeder aus seiner Schultasche. Luna Lovegoods

hervorquellende Augen erschienen wieder über dem Rand ihres auf

dem Kopf stehenden Magazins, um zu sehen, was Neville anstellte.

Neville, die Zunge zwischen den Zähnen, hob den Mimbulus

mimbeltonia auf Augenhöhe, wählte einen Punkt und versetzte dem

Gewächs mit der Federspitze einen kräftigen Stich.

Aus allen Furunkeln der Pflanze spritzte eine Flüssigkeit – dicke,

stinkende dunkelgrüne Strahlen. Sie trafen die Decke, die Fenster und

spritzten über Luna Lovegoods Magazin; Ginny, die gerade noch

rechtzeitig die Arme vors Gesicht gerissen hatte, sah nur aus, als hätte

sie einen grünen Schleimhut auf. Harry jedoch, dessen Hände vollauf

damit beschäftigt waren, Trevor an der Flucht zu hindern, bekam eine

volle Ladung ins Gesicht. Das Zeug roch nach ranziger Jauche.

Neville, dessen Gesicht und Oberkörper ebenfalls völlig nass

waren, schüttelte den Kopf, um das Gröbste aus den Augen zu

kriegen.

»'tschulligung«, keuchte er. »Das hab ich noch nie ausprobiert …

wusste gar nicht, dass es doch so … aber macht euch keine Sorgen,

Stinksaft ist nicht giftig«, fügte er fahrig hinzu, als Harry einen Mund

voll zu Boden spuckte.

Genau in diesem Moment wurde die Tür ihres Abteils

aufgeschoben.

- 208 -

»Oh … hallo, Harry«, sagte eine nervöse Stimme. »Ähm … stör

ich gerade?«

Harry wischte mit der trevorfreien Hand seine Brillengläser ab. Ein

sehr hübsches Mädchen mit langen, glänzend schwarzen Haaren stand

in der Tür und lächelte ihn an: Cho Chang, die Sucherin der

Quidditch-Mannschaft von Ravenclaw.

»Oh … hi«, sagte Harry tonlos.

»Ähm …«, sagte Cho. »Naja … ich wollt nur mal kurz hallo sagen

… also dann tschüss.«

Sie war ziemlich rosa im Gesicht, als sie die Tür schloss und

davonging. Harry sackte stöhnend auf seinen Platz zurück. Wenn Cho

ihn doch nur zusammen mit ein paar sehr coolen Leuten gesehen

hätte, die sich kugelten vor Lachen über einen Witz, den er gerade

erzählt hatte. Stattdessen saß er hier mit Neville und Loony Lovegood,

hielt eine Kröte umkrallt und triefte vor Stinksaft.

»Macht nichts«, sagte Ginny munter. »Schaut mal, das kriegen wir

ganz einfach wieder weg.« Sie zog ihren Zauberstab. »Ratzeputz!«

Der Stinksaft verschwand.

»'tschulligung«, sagte Neville zum wiederholten Mal mit

kleinlauter Stimme.

Ron und Hermine ließen sich fast eine Stunde lang nicht blicken

und inzwischen war der Imbisswagen schon da gewesen. Harry,

Ginny und Neville hatten ihre Kürbiskuchen aufgegessen und

tauschten nun eifrig Schokofroschkarten, als die Abteiltür aufglitt und

die beiden hereinkamen, begleitet von Krummbein und einem schrill

in seinem Käfig schreienden Pigwidgeon.

»Ich verhungre noch!«, sagte Ron, verstaute Pigwidgeon neben

Hedwig, schnappte sich einen Schokofrosch von Harry und ließ sich

auf den Sitz neben ihm fallen. Er riss die Verpackung auf, biss dem

Frosch den Kopf ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück,

als hätte er einen sehr anstrengenden Morgen hinter sich.

- 209 -

»Also, in jedem Haus gibt es zwei Vertrauensschüler aus der

fünften Klasse«, sagte Hermine, offenbar gründlich schlecht gelaunt,

und setzte sich auf ihren Platz. »Jeweils ein Junge und ein Mädchen.«

»Und ratet mal, wer der Vertrauensschüler in Slytherin ist«, sagte

Ron, ohne die Augen zu öffnen.

»Malfoy«, antwortete Harry sofort, er war sich gewiss, dass seine

schlimmste Befürchtung bestätigt würde.

»Klar«, sagte Ron bitter, stopfte sich den Rest seines Frosches in

den Mund und nahm sich noch einen.

»Und diese blöde Kuh Pansy Parkinson«, sagte Hermine böse.

»Wie die Vertrauensschülerin geworden ist, obwohl sie dümmer ist als

ein Troll mit Gehirntrauma …«

»Und wer ist es in Hufflepuff?«, fragte Harry.

»Ernie Macmillan und Hannah Abbott«, sagte Ron mit vollem

Mund.

»Und in Ravenclaw Anthony Goldstein und Padma Patil«, sagte

Hermine.

»Du bist doch mit Padma Patil zum Weihnachtsball gegangen«,

sagte eine undeutliche Stimme. Alle wandten sich Luna Lovegood zu,

die über den Klitterer hinweg mit starrem Blick Ron ansah. Er

schluckte seinen Schokofrosch hinunter.

»Ja, weiß ich wohl«, sagte er, offensichtlich ein wenig überrascht.

»Ihr hat's nicht besonders gefallen«, unterrichtete ihn Luna. »Sie

findet, du hast sie nicht sonderlich gut behandelt, weil du doch nicht

mit ihr tanzen wolltest. Ich glaub, mir hätte das nichts ausgemacht«,

fügte sie nachdenklich hinzu, »ich steh nicht so auf Tanzen.«

Sie zog sich wieder hinter ihren Klitterer zurück. Ron starrte einige

Sekunden lang mit offenem Mund das Titelblatt an, dann wandte er

sich Ginny zu, als könne sie ihm das irgendwie erklären, doch sie

hatte sich eine Faust in den Mund gesteckt und biss sich auf die

Knöchel, um ihr Kichern zu unterdrücken. Ron schüttelte

nachdenklich den Kopf und blickte auf seine Uhr.

- 210 -

»Wir sollen hin und wieder durch die Gänge laufen«, erklärte er

Harry und Neville, »und wir können Strafen erteilen, wenn sich Leute

schlecht benehmen. Ich bin schon scharf drauf, Crabbe und Goyle

wegen irgendwas dranzukriegen …«

»Du sollst deine Position nicht missbrauchen, Ron!«, sagte

Hermine scharf.

»Ja, klar, Malfoy macht das ja auch nicht«, erwiderte Ron

sarkastisch.

»Also willst du dich auf seine Ebene herablassen?«

»Nein, ich will nur sicherstellen, dass ich seine Kumpels

drankriege, bevor er meine kriegt.«

»Um Himmels willen, Ron …«

»Ich lass Goyle Strafarbeiten schreiben, das macht ihn fertig,

Schreiben hasst er nämlich«, sagte Ron launig. Er verzog das Gesicht,

als würde er sich unter Qualen konzentrieren, grunzte mit tiefer

Stimme wie Goyle und schrieb mit der Hand in die Luft. »Ich … darf

… nicht … aussehen … wie … ein … Pavianpopo.«

Alle lachten, am heftigsten aber Luna Lovegood. Sie stieß einen

Juchzer aus, dass Hedwig aufwachte und entrüstet mit den Flügeln

schlug und Krummbein fauchend auf die Gepäckablage sprang. Luna

lachte so heftig, dass ihr das Heft aus der Hand und über die Beine zu

Boden rutschte.

»Das war lustig!«

Ihre hervortretenden Augen schwammen in Tränen, sie schnappte

nach Luft und starrte Ron an. Völlig perplex wandte Ron sich den

anderen zu, und die lachten nun über seinen Gesichtsausdruck und

über das lächerlich lange Gelächter von Luna Lovegood, die vor und

zurück wippte und sich die Seiten hielt.

»Willst du mich verulken?«, sagte Ron und sah sie ärgerlich an.

»Pavian … popo!«, keuchte sie und presste die Hände gegen die

Rippen.

- 211 -

Alle sahen Luna beim Lachen zu, aber Harry, der einen Blick auf

das Heft am Boden geworfen hatte, fiel plötzlich etwas auf und er

bückte sich flugs danach. Verkehrt herum gehalten war es schwierig

gewesen, auszumachen, wen das Bild auf der Titelseite darstellen

sollte, doch jetzt sah Harry, dass es sich um eine ziemlich schlechte

Karikatur von Cornelius Fudge handelte. Harry erkannte ihn nur dank

des limonengrünen Bowlers. Fudge umklammerte mit der einen Hand

einen Sack Gold, mit der anderen würgte er einen Kobold. Der Text

zu der Karikatur lautete: Wie weit wird Fudge gehen, um sich

Gringotts zu sichern?

Darunter standen die Themen von weiteren Artikeln im Magazin

aufgelistet.

Korruption in der Quidditch-Liga :

Wie die Tornados die Kontrolle übernehmen Geheimnisse uralter

Runen enthüllt Sirius Black: Schurke oder Opfer?

»Kann ich da mal reinschauen?«, fragte Harry gespannt.

Luna, die immer noch Ron anstarrte und japste vor Lachen, nickte.

Harry schlug das Heft auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Bis

zu diesem Moment hatte er das Magazin, das Kingsley Mr. Weasley

für Sirius mitgegeben hatte, völlig vergessen, doch es musste diese

Ausgabe des Klitterers gewesen sein.

Er schlug die Seite mit dem Artike l auf und fing aufgeregt an zu

lesen.

Auch dieser Text war mit einer ziemlich schlechten Karikatur

bebildert; tatsächlich wäre Harry nicht darauf gekommen, dass sie

Sirius darstellen sollte, wenn es nicht dabeigestanden hätte. Sirius

stand mit gezücktem Zauberstab auf einem Haufen menschlicher

Knochen. Die Überschrift des Artikels lautete: SIRIUS BLACK SO

SCHWARZ, WIE ER GEMALT WIRD? Berüchtigter Massenmörder

oder unschuldiges Sangeswunder?

Diesen ersten Satz musste Harry mehrmals lesen, bis er sicher war,

dass er ihn nicht missverstanden hatte. Seit wann war Sirius ein

Sangeswunder?

- 212 -

Seit vierzehn Jahren gilt Sirius Black als verantwortlich für den

Massenmord an zwölf unschuldigen Muggeln und einem Zauberer.

Blacks waghalsige Flucht aus Askaban vor zwei Jahren löste die

größte Fahndung aus, die das Zaubereiministerium je in die Wege

geleitet hat. Niemand von uns hat jemals in Zweifel gestellt, dass er

wieder gefangen genommen und den Dementoren ausgehändigt

werden muss. ABER HAT ER DAS VERDIENT?

In jüngster Zeit kamen sensationelle neue Hinweise ans Licht,

wonach Sirius Black die Verbrechen, für die er nach Askaban

geschickt wurde, vielleicht gar nicht begangen hat. Tatsächlich, so

behauptet Doris Purkiss aus Little Norton, Bärenklauweg achtzehn,

war Black damals womöglich überhaupt nicht am Tatort.

»Die Leute wissen ja gar nicht, dass Sirius Black ein falscher

Name ist«, sagt Mrs. Purkiss. »Der Mann, den sie für Sirius Black

halten, ist in Wahrheit Stubby Boardman, Lead-Sänger der beliebten

Gesangsgruppe The Hobgoblins, der sich aus dem öffentlichen Leben

zurückzog, nachdem ihn vor fast fünfzehn Jahren bei einem Konzert

im Gemeindehaus von Little Norton eine Rübe am Ohr getroffen

hatte. Ich hab ihn sofort erkannt, als ich sein Bild in der Zeitung sah.

Nun kann aber Stubby unmöglich diese Verbrechen begangen haben,

weil er an dem fraglichen Tag zufällig ein romantisches Candlelight-

Dinner mit mir genossen hat. Ich habe an das Zaubereiministerium

geschrieben und erwarte nun jeden Tag, dass es sich bei Stubby alias

Sirius umfassend entschuldigt.«

Harry hatte zu Ende gelesen und starrte ungläubig auf die Seite.

Vielleicht ist es ein Witz, dachte er, vielleicht druckt das Magazin ja

regelmäßig Enten. Er blätterte ein paar Seiten zurück und fand den

Artikel über Fudge.

Zaubereiminister Cornelius Fudge bestritt bei seiner Wahl vor fünf

Jahren, dass er irgendwelche Pläne zur Übernahme der Zaubererbank

Gringotts habe. Fudge hat immer betont, er wolle mit den Wächtern

unseres Goldes nichts weiter als »friedlich zusammenarbeiten«.

ABER STIMMT DAS?

Dem Minister nahe stehende Quellen enthüllten kürzlich, dass

Fudge vor Ehrgeiz brennt, die Goldvorräte der Kobolde unter seine

- 213 -

Kontrolle zu bringen, und dass er nicht zögern wird, wenn nötig auch

Gewalt anzuwenden.

»Das wäre übrigens nicht das erste Mal«, sagte ein Kenner des

Ministeriums. »Cornelius ›Kobold-Killer‹ Fudge, so nennen ihn seine

Freunde. Wenn Sie ihn hören könnten in Momenten, da er sich sicher

glaubt, oh, andauernd redet er von den Kobolden, die er beseitigt hat;

er ließ sie ertränken, von Gebäuden stürzen, vergiften und zu Pasteten

verarbeiten …«

Harry hörte auf zu lesen. Fudge mochte viele Fehler haben, aber

Harry fiel es äußerst schwer, sich vorzustellen, er könnte befohlen

haben, Kobolde zu Pasteten zu verarbeiten. Er blätterte den Rest des

Magazins durch. Alle paar Seiten innehaltend, las er: eine

Anschuldigung, dass die Tutshill Tornados in der Quidditch-Liga

durch eine Mischung aus Erpressung, illegaler Besenmanipulation und

Folter den Meistertitel holen würden; ein Interview mit einem

Zauberer, der behauptete, auf einem Sauberwisch Sechs zum Mond

geflogen zu sein, und zum Beweis dafür einen Sack voll Mondfrösche

mitgebracht hatte; und einen Artikel über uralte Runen, der zumindest

erklärte, warum Luna den Klitterer verkehrt herum gelesen hatte. Dem

Magazin zufolge musste man die Runen nur auf den Kopf drehen,

dann gaben sie angeblich einen Zauberspruch preis, der die Ohren

eines jeden Feindes in Kumquats verwandelte. Tatsächlich war die

Behauptung, Sirius könnte in Wahrheit der Lead-Sänger der

Hobgoblins sein, im Vergleich zu den anderen Artikeln noch durchaus

vernünftig zu nennen.

»Steht da was Brauchbares drin?«, fragte Ron, als Harry das Heft

zuschlug.

»Natürlich nicht«, sagte Hermine verächtlich, noch bevor Harry

antworten konnte. »Der Klitterer ist totaler Mist, das weiß doch

jeder.«

»Entschuldige mal«, sagte Luna; ihre Stimme hatte plötzlich den

verträumten Ton verloren. »Mein Vater ist der Chefredakteur.«

»Ich – oh«, stammelte Hermine peinlich berührt. »Nun, da sind ein

paar interessante … ich meine, er ist durchaus …«

- 214 -

»Ich möchte ihn gern zurückhaben, danke«, sagte Luna kalt, beugte

sich vor und riss Harry das Heft aus der Hand. Sie überschlug es bis

Seite siebenundfünfzig, drehte es entschlossen erneut auf den Kopf

und verschwand dahinter, genau in dem Moment, als sich die

Abteiltür zum dritten Mal öffnete.

Harry wandte den Blick zur Tür, er hatte damit gerechnet, aber das

machte den Anblick Draco Malfoys, wie er da zwischen seinen

Kumpeln Crabbe und Goyle stand und ihn anfeixte, nicht gerade

erfreulicher.

»Was gibt's?«, sagte Harry angriffslustig, noch bevor Malfoy den

Mund aufmachen konnte.

»Benimm dich, Potter, oder ich muss dir eine Strafarbeit

verpassen«, sagte Malfoy genüsslich, der das glatte blonde Haar und

das spitze Kinn seines Vaters hatte. »Du siehst, dass ich im Gegensatz

zu dir zum Vertrauensschüler ernannt wurde, was heißt, dass ich im

Gegensatz zu dir die Befugnis habe, Strafen zu erteilen.«

»Ja«, sagte Harry, »aber du bist im Gegensatz zu mir ein Mistkerl,

also raus hier und lass uns in Ruhe.«

Ron, Hermine, Ginny und Neville lachten. Malfoys Lippen

kräuselten sich.

»Sag mal, wie fühlt man sich, wenn man Zweitbester nach

Weasley ist, Potter?«, fragte er.

»Halt die Klappe, Malfoy«, sagte Hermine scharf.

»Da scheine ich ja einen Nerv getroffen zu haben«, sagte Malfoy

grinsend. Ȇbrigens, sieh dich vor, Potter, weil ich dir auf den Fersen

bleibe wie ein Hund, falls du aus der Reihe tanzen solltest.«

»Raus hier!«, sagte Hermine und stand auf.

Malfoy kicherte und versetzte Harry noch einen bösartigen Blick,

dann ging er den Gang entlang davon und Crabbe und Goyle

trampelten hinter ihm drein. Hermine knallte die Abteiltür zu und

drehte sich zu Harry um. Sofort war ihm klar, dass auch sie gemerkt

hatte, was Malfoy gesagt hatte, und darüber nicht minder bestürzt war.

- 215 -

»Lass doch noch mal 'nen Frosch springen«, sagte Ron, der

offensichtlich überhaupt nichts mitbekommen hatte.

Vor Neville und Luna konnte Harry nicht offen reden. Er tauschte

noch einen unruhigen Blick mit Hermine und starrte dann aus dem

Fenster.

Dass Sirius mit ihm zum Bahnhof gekommen war, hatte er für

einen kleinen Spaß gehalten, doch plötzlich kam es ihm leichtsinnig,

wenn nicht gar gefährlich vor … Hermine hatte Recht gehabt …

Sirius hätte ihn nicht begleiten sollen. Wenn nun Mr. Malfoy der

schwarze Hund aufgefallen war und er es Draco gesagt hatte? Wenn er

nun den Schluss gezogen hatte, dass die Weasleys, Lupin, Tonks und

Moody wussten, wo Sirius sich versteckt hielt? Oder hatte Malfoy nur

rein zufällig die Worte »wie ein Hund« gebraucht?

Es ging immer weiter nach Norden und das Wetter blieb

unbeständig. Mal benetzte halbherziger Regen die Fenster, dann

wiederum hatte die Sonne einen schwachen Auftritt, bis sie erneut von

Wolken verdeckt wurde. Als die Dunkelheit hereinbrach und die

Lampen in den Abteilen angingen, rollte Luna den Klitterer

zusammen, verstaute ihn bedächtig in ihrer Tasche und beschied sich

fortan damit, ihre Mitreisenden anzustarren.

Harry hatte die Stirn ans Fenster gedrückt und versuchte einen

ersten Blick auf das ferne Hogwarts zu erhaschen, doch es war eine

mondlose Nacht und das Fenster, über das sich Regenschlieren zogen,

war rußig.

»Wir sollten uns schon mal umziehen«, meinte Hermine

schließlich.

Sie und Ron steckten sich gewissenhaft das

Vertrauensschülerabzeichen an die Brust. Harry bemerkte, wie Ron im

schwarzen Fenster sein Spiegelbild prüfte.

Endlich verlangsamte der Zug seine Fahrt, und sie hörten gangauf

und gangab den üblichen Tumult losbrechen, als alle überstürzt ihr

Gepäck und ihre Tiere zusammensuchten und sich zum Aussteigen

bereitmachten.

- 216 -

Weil Ron und Hermine dies beaufsichtigen sollten, verschwanden

sie wieder aus dem Abteil und überließen es Harry und den anderen,

sich um Krummbein und Pigwidgeon zu kümmern.

»Ich trage diese Eule, wenn du willst«, sagte Luna zu Harry und

langte nach Pigwidgeon, während Neville Trevor vorsichtig in seine

Innentasche steckte.

»Oh – ähm – danke«, sagte Harry, reichte ihr den Käfig und

schloss den von Hedwig fester in die Arme.

Sie drängten sich aus dem Abteil, und als sie sich in die Menge auf

dem Gang einreihten, spürten sie den ersten Hauch der Nachtluft auf

den Gesichtern. Langsam ging es voran zu den Türen. Harry konnte

die Kiefern riechen, die den Weg zum See hinunter säumten. Er trat

auf den Bahnsteig, sah sich um und lauschte nach dem vertrauten Ruf:

»Erstklässler hier rüber … Erstklässler …«

Aber er kam nicht. Stattdessen rief eine ganz andere Stimme, eine

barsche Frauenstimme: »Erstklässler hierher in eine Reihe, bitte! Alle

Erstklässler zu mir!«

Eine Laterne schwang auf Harry zu, und in ihrem Licht sah er das

markante Kinn und den strengen Haarschnitt von Professor Raue-

Pritsche, der Hexe, die Hagrid letztes Jahr in Pflege magischer

Geschöpfe für eine Weile vertreten hatte.

»Wo ist Hagrid?«, fragte er laut.

»Ich weiß nicht«, antwortete Ginny, »aber wir sollten uns mal hier

wegbewegen, wir versperren die Tür.«

»Oh, ja …«

Harry und Ginny verloren einander, als sie über den Bahnsteig und

durch den Bahnhof gingen. Von der Menge hin und her geschubst,

spähte Harry durch die Dunkelheit nach einem Zeichen von Hagrid; er

musste hier sein, Harry hatte fest mit ihm gerechnet – darauf, Hagrid

wieder zu sehen, hatte er sich am meisten gefreut. Doch keine Spur

von ihm.

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Er kann nicht fort sein, sagte sich Harry, während er im Strom der

Menge langsam durch eine enge Tür und hinaus auf die Straße

drängte. Er ist bloß erkältet oder so …

Er hielt Ausschau nach Ron und Hermine, weil er wissen wollte,

was sie davon hielten, dass Professor Raue -Pritsche wieder

aufgetaucht war, aber von den beiden war nichts zu sehen, und so ließ

er sich die dunkle, regennasse Straße vor dem Bahnhof von

Hogsmeade entlangtreiben.

Hier standen die rund hundert pferdelosen Kutschen, in denen die

Schüler ab der zweiten Kla sse zum Schloss hochgebracht wurden.

Harry warf einen kurzen Blick auf sie, wandte sich ab, um weiter nach

Ron und Hermine Ausschau zu halten, stutzte und drehte sich wieder

um.

Die Kutschen waren nicht mehr pferdelos. Zwischen den Deichseln

standen Kreaturen. Hätte er ihnen Namen geben müssen, dann hätte er

sie wohl Pferde genannt, obwohl sie auch Reptilien ähnelten. Sie

waren vollkommen fleischlos, ihre schwarzen Decken klebten an

ihren Skeletten, von denen jeder Knochen sichtbar war. Sie hatten

drachenartige Köpfe und ihre pupillenlosen Augen waren weiß und

blickten starr. Aus den Widerristen ragten Flügel – gewaltige

schwarze ledrige Flügel, die aussahen, als würden sie

Riesenfledermäusen gehören. Grausig und Unheil bringend wirkten

die Geschöpfe, wie sie da still und ruhig in der Düsternis standen.

Harry konnte nicht begreifen, warum die Kutschen von diesen

schaurigen Pferden gezogen wurden, wo sie sich doch von allein

bewegen konnten.

»Wo ist Pig?«, sagte Rons Stimme direkt hinter Harry.

»Diese Luna trägt ihn«, antwortete Harry und wandte sich rasch

um, weil er unbedingt Ron nach Hagrid fragen wollte. »Wo, glaubst

du, ist …«

»… Hagrid? Keine Ahnung«, sagte Ron mit besorgter Stimme.

»Hoffentlich geht's ihm gut …«

Nicht weit von ihnen kam Draco Malfoy daher, gefolgt von einer

kleinen Schar seiner Spießgesellen, darunter Crabbe, Goyle und Pansy

Parkinson. Er stieß ein paar offensichtlich verängstigte Zweitklässler

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aus dem Weg, damit er und seine Freunde eine Kutsche für sich alle in

bekamen. Sekunden später löste sich Hermine keuchend aus der

Menge.

»Malfoy war dahinten absolut gemein zu einem Erstklässler. Ich

melde das, ich schwör's, jetzt hat er sein Abzeichen gerade mal drei

Minuten und schon schikaniert er die Leute noch schlimmer als sonst

… Wo ist Krummbein?«

»Ginny hat ihn«, sagte Harry. »Da ist sie …«

Ginny tauchte gerade aus der Menge auf, sie hielt den

widerspenstigen Krummbein an sich geklammert.

»Danke«, sagte Hermine und nahm Ginny den Kater ab. »Kommt,

wir nehmen uns zusammen eine Kutsche, bevor alle besetzt sind …«

»Pig fehlt noch!«, sagte Ron, aber Hermine war schon auf dem

Weg zur nächsten freien Kutsche. Harry hielt sich hinter Ron.

»Was, glaubst du, sind das für Wesen?«, fragte er Ron, während

die anderen Schüler an ihnen vorbeiwogten, und nickte zu den

grausigen Pferden hinüber.

»Was für Wesen?«

»Diese Pferd …«

Lima erschien mit Pigwidgeons Käfig in den Armen; wie immer

zwitscherte die kleine Eule aufgeregt.

»Da hast du ihn«, sagte sie. »Das ist ja 'ne süße kleine Eule, was?«

»Ähm … jaah … er ist schon in Ordnung«, sagte Ron schroff.

»Also, jetzt kommt, steigen wir ein … was wolltest du sagen, Harry?«

»Ich wollte wissen, was das für Pferdewesen sind«, sagte Harry,

während er, Ron und Lima auf die Kutsche zugingen, in der bereits

Hermine und Ginny saßen.

»Was für Pferdewesen?«

»Diese Pferdewesen, die die Kutschen ziehen!«, sagte Harry

ungeduldig.

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Immerhin waren sie nur etwa einen Meter vom nächsten entfernt,

das sie mit leeren weißen Augen beobachtete. Ron allerdings sah

Harry verdutzt an.

»Wovon redest du eigentlich?«

»Wovon ich rede – mach doch mal die Augen auf!«

Harry packte Ron am Arm und wirbelte ihn herum, so dass er von

Angesicht zu Angesicht dem geflügelten Pferd gegenüberstand. Ron

starrte eine Sekunde lang unverwandt hin, dann drehte er sich zu

Harry um.

»Was soll ich bitte schön angucken?«

»Das – hier, zwischen den Deichseln! Vor die Kutsche gespannt!

Direkt da vor deiner …«

Doch während Ron weiterhin verwirrt dreinsah, ging Harry ein

merkwürdiger Gedanke durch den Kopf.

»Kannst du … kannst du sie nicht sehen?«

»Was denn sehen?«

»Kannst du nicht sehen, von wem die Kutschen gezogen werden?«

Ron sah jetzt ernstlich besorgt aus.

»Alles in Ordnung mit dir, Harry?«

»Ich … jaah …«

Harry war völlig bestürzt. Das Pferd stand zum Greifen nah vor

ihm, es schimmerte unverkennbar im schwachen Licht, das aus den

Bahnhofsfenstern hinter ihnen drang, und stieß aus seinen Nüstern

Dampf in die kalte Nachtluft. Und doch, wenn Ron nicht flunkerte –

und das wäre ein ziemlich schlechter Scherz –, konnte er nichts davon

sehen.

»Steigen wir jetzt ein, oder was?«, fragte Ron verunsichert und

blickte Harry an, als würde er sich Sorgen um ihn machen.

»Ja«, sagte Harry. »Ja, geh schon …«

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»Alles in Ordnung«, sagte eine verträumte Stimme neben Harry,

als Ron ins dunkle Kutscheninnere verschwand. »Du wirst nicht

verrückt oder so. Ich kann sie auch sehen.«

»Wirklich?«, sagte Harry begierig und wandte sich zu Luna um. Er

sah, dass sich die Pferde mit ihren Fledermausflügeln in ihren weiten

silbrigen Augen spiegelten.

»O ja«, sagte Luna, »ich hab sie schon an meinem ersten Tag hier

gesehen. Die haben die Kutschen immer gezogen. Mach dir keine

Sorgen. Du bist genauso wenig verrückt wie ich.«

Mit einem matten Lächeln kletterte sie Ron hinterher in die

muffige Kutsche. Harry folgte ihr nicht sonderlich überzeugt.

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Das neue Lied des Sprechenden

Huts

Harry mochte den anderen nicht erzählen, dass Lima und er die

gleiche Halluzination hatten, wenn es denn eine war. So setzte er sich

in die Kutsche, schlug die Tür hinter sich zu und sagte kein Wort mehr

über die Pferde. Und dennoch sah er wie gebannt aus dem Fenster und

beobachtete, wie sich ihre Silhouetten bewegten.

»Habt ihr die olle Raue-Pritsche gesehen?«, fragte Ginny. »Was

hat die hier unten eigentlich zu suchen? Hagrid kann doch nicht weg

sein, oder?«

»Da war ich ganz froh drüber«, meinte Luna, »er ist kein guter

Lehrer, findet ihr nicht auch?«

»Doch, ist er!«, erwiderten Harry, Ron und Ginny wütend.

Harry sah Hermine streng an. Sie räusperte sich und sagte rasch:

»Ähm … doch … er ist sehr gut.«

»Nun ja, wir in Ravenclaw halten ihn für 'ne Art Witzfigur«, sagte

Luna ungerührt.

»Dann ist euer Sinn für Humor eben zum Kotzen«, fauchte Ron,

als die Räder unter ihnen sich knarrend in Bewegung setzten.

Luna ließ sich durch Rons Grobheit offensichtlich nicht aus der

Ruhe bringen, im Gegenteil. Sie betrachtete ihn nur ein Weilchen wie

eine mäßig spannende Fernsehsendung.

Die Kutschenkolonne ratterte und schwankte den Weg hoch. Als

sie die hohen Steinsäulen mit den geflügelten Ebern zu beiden Seiten

des Tores passierten und auf das Schulgelände fuhren, beugte sich

Harry vor, um nachzusehen, ob in Hagrids Hütte am Verbotenen Wald

Lichter brannten, doch auf den Ländereien herrschte vollkommene

Dunkelheit. Schloss Hogwarts jedoch rückte dräuend näher: ein hoch

aufragendes Massiv aus Türmen, pechschwarz gegen den dunklen

Himmel, und hie und da strahlte ein Fenster feuerhell in die Nacht

hinaus.

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Die Kutschen hielten klirrend an der Steintreppe, die zu den

Eichenportalen hinaufführte, und Harry stieg als Erster aus. Noch

einmal wandte er sich um und spähte nach einem beleuchteten Fenster

am Waldrand, doch aus Hagrids Hütte drang eindeutig kein

Lebenszeichen. Widerwillig wandte er den Blick erneut den

unheimlichen Skelettgeschöpfen zu, die ruhig und mit leeren,

schimmernd weißen Augen in der kalten Nachtluft standen, denn

halben Herzens hatte er gehofft, sie wären verschwunden.

Harry hatte schon einmal erlebt, dass er etwas sah, was Ron nicht

sehen konnte, aber damals war es ein Spiegelbild gewesen, etwas viel

Ungreifbareres als hundert sehr handfest aussehende Tierwesen, die

stark genug waren, eine ganze Armada von Kutschen zu ziehen. Wenn

er Luna Glauben schenken konnte, dann waren diese Tiere, wenn auch

unsichtbar, immer schon da gewesen. Warum also konnte Harry sie

plötzlich sehen und Ron nicht?

»Kommst du jetzt, oder was?«, sagte Ron neben ihm.

»Oh … ja«, gab Harry rasch zurück und sie schlossen sich den

Scharen an, die über die steinerne Treppe hoch ins Schloss eilten.

Die Eingangshalle stand in loderndem Fackellicht und hallte wider

vom Getrappel der Schüler, die den steingefliesten Boden nach rechts

überquerten, zur Flügeltür der Großen Halle hin, wo die

Begrüßungsfeier stattfand.

Allmählich bevölkerten sich die vier langen Haustische unter dem

sternlosen schwarzen Himmel der Großen Halle, der genau dem

Himmel glich, den sie durch die hohen Fenster noch erahnen konnten.

Kerzen schwebten über den Tischen und warfen ihr Licht auf die hie

und da verteilten silbrigen Gespenster und auf die Gesichter der

Schüler, die eifrig Neuigkeiten über ihre Sommerferien austauschten,

Freunden aus anderen Häusern Grüße zuriefen und neue Haarschnitte

und Umhänge mit flüchtigen Blicken bedachten. Wieder bemerkte

Harry, dass manche ihre Köpfe zusammensteckten und wisperten,

wenn er vorbeiging; er biss die Zähne zusammen und tat so, als ob es

ihm weder auffiele noch etwas ausmachte.

Am Ravenclaw-Tisch trennte sich Luna von ihnen. Kaum hatten

sie den Tisch der Gryffindors erreicht, wurde Ginny lauthals von ein

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paar anderen Viertklässlern begrüßt und setzte sich zu ihnen. Harry,

Ron, Hermine und Neville fanden etwa in der Mitte des Tisches

zusammen Platz, zwischen dem Fast Kopflosen Nick, dem

Hausgespenst der Gryffindors, und Parvati Patil und Lavender Brown,

die Harry allzu lebhaft und freundlich begrüßten, woraus er den

sicheren Schluss zog, dass sie noch einen kurzen Augenblick zuvor

über ihn geredet hatten. Allerdings gab es Wichtigeres, worüber er

sich Gedanken machte: Er spähte über die Köpfe der Schülerinnen

und Schüler hinweg zum Lehrertisch, der längs der Stirnseite der

Halle aufgestellt war.

»Er ist nicht da.«

Auch Ron und Hermine suchten den Lehrertisch ab, obwohl es

eigentlich nicht nötig war; Hagrid war so groß, dass er in jeder Gruppe

sofort ins Auge fiel.

»Er kann doch nicht weg sein«, sagte Ron beklommen.

»Natürlich nicht«, sagte Harry entschieden.

»Ihr glaubt nicht, dass er … verletzt ist oder so?«, meinte Hermine

bedrückt.

»Nein«, erwiderte Harry sofort.

»Aber wo ist er dann?«

Eine Pause trat ein, dann sagte Harry sehr leise, damit Neville,

Parvati und Lavender es nicht hören konnten: »Vielleicht ist er noch

nicht zurück. Ihr wisst schon – sein Auftrag – was er den Sommer

über für Dumbledore erledigen sollte.«

»Jaah … ja, das wird's sein«, sagte Ron und klang schon

zuversichtlicher, aber Hermine biss sich auf die Lippe und ließ den

Blick über den Lehrertisch wandern, als hoffte sie eine schlüssige

Erklärung für Hagrids Fehlen zu finden.

»Wer ist das denn?«, sagte sie spitz und deutete zur Mitte des

Lehrertisches.

Harry folgte ihren Augen. Sein Blick fiel zunächst auf Professor

Dumbledore, der auf seinem goldenen hohen Lehnstuhl in der Mitte

des langen Lehrertisches saß, in einem dunkelvioletten Umhang, der

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mit silbernen Sternen gesprenkelt war, und mit einem dazu passenden

Hut. Dumbledore hatte den Kopf seiner Nachbarin zugeneigt, die ihm

ins Ohr sprach. Sieht aus wie eine alte Jungfer, ging es Harry durch

den Kopf: untersetzt, mit kurzen, mausgrauen Locken, in die sie einen

fürchterlichen rosa Haarreif gesteckt hatte, passend zu der flaumigen

rosa Strickjacke, die sie über ihrem Umhang trug. Sie wandte leicht

den Kopf, um an ihrem Trinkkelch zu nippen, und erschrocken

erkannte er es wieder, das fahle, krötenartige Gesicht mit den

hervorquellenden Triefaugen.

»Das ist diese Umbridge!«

»Wer?«, sagte Hermine.

»Die war bei meiner Anhörung dabei, sie arbeitet für Fudge!«

»Hübsche Strickjacke«, sagte Ron grinsend.

»Sie arbeitet für Fudge!«, wiederholte Hermine stirnrunzelnd.

»Was um Himmels willen hat sie dann hier zu suchen?«

»Weiß nicht …«

Hermine kniff die Augen zusammen und suchte den Lehrertisch

ab.

»Nein«, murmelte sie, »nein, sicher nicht …«

Harry hatte keine Ahnung, wovon sie redete, fragte aber nicht

danach; sein Augenmerk war auf Professor Raue-Pritsche gerichtet,

die eben hinter dem Lehrertisch aufgetaucht war; sie drängte sich bis

ganz ans Ende durch und setzte sich auf den Platz, der eigentlich

Hagrids war. Also mussten die Erstklässler den See überquert haben

und im Schloss angekommen sein, und tatsächlich, nach wenigen

Augenblicken öffnete sich die Tür zur Eingangshalle. In einer langen

Reihe kamen die verängstigt wirkenden Neulinge herein, angeführt

von Professor McGonagall, die einen Stuhl trug, auf dem ein alter

Zauberhut lag, arg geflickt und gestopft und mit einem breiten Riss

über der ausgefransten Krempe.

Das Stimmengewirr in der Großen Halle erstarb. Die Erstklässler

stellten sich vor dem Lehrertisch auf, die Gesichter den anderen

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Schülern zugewandt, während Professor McGonagall den Stuhl

bedächtig vor sie hinstellte und dann beiseite trat.

Die Gesichter der Neuen schimmerten bleich im Kerzenlicht. Ein

kleiner Junge in der Mitte der Reihe schien zu zittern. Harry erinnerte

sich flüchtig, wie schrecklich es für ihn gewesen war, dort zu stehen

und auf die unbekannte Prüfung zu warten, die bestimmen sollte, zu

welchem Haus er gehörte.

Die ganze Schule wartete mit angehaltenem Atem. Dann öffnete

sich der Riss nahe der Hutkrempe weit wie ein Mund und der

Sprechende Hut begann zu singen:

In alter Zeit, als ich noch neu,

Hogwarts am Anfang stand,

Die Gründer unsrer noblen Schule

noch einte ein enges Band.

Sie hatten ein gemeinsam' Ziel

Sie hatten ein Bestreben:

Die beste Zauberschule der Welt,

Und Wissen weitergeben.

»Zusammen wollen wir bau'n und lehr'n!«

Das nahmen die Freunde sich vor.

Und niemals hätten die vier geahnt,

Dass ihre Freundschaft sich verlor.

Gab es so gute Freunde noch

Wie Slytherin und Gryffindor?

Es sei denn jenes zweite Paar

Aus Hufflepuff und Ravenclaw?

Weshalb ging dann dies alles schief,

Hielt diese Freundschaft nicht?

Nun, ich war dort und ich erzähl

Die traurige Geschicht'.

Sagt Slytherin: »Wir lehr'n nur die

Mit reinstem Blut der Ahnen.«

Sagt Ravenclaw: »Wir aber lehr'n,

Wo Klugheit ist in Bahnen.«

Sagt Gryffindor: »Wir lehr'n all die,

Die Mut im Namen haben.«

Sagt Hufflepuff: »Ich nehm sie all'

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Ohne Ansehen ihrer Gaben.«

Am Anfang gab es wenig Streit

Nur Unterschiede viele,

Denn jeder der vier Gründer hatte

Ein Haus für seine Ziele.

Sie holten sich, wer da gefiel;

So Slytherin nahm auf,

Wer Zauberer reinen Blutes war

Und listig obendrauf.

Und nur wer hellsten Kopfes war,

Der kam zu Ravenclaw.

Die Mutigsten und Kühnsten doch

Zum tapferen Gryffindor.

Den Rest nahm auf die Hufflepuff,

Tat allen kund ihr Wissen,

So standen die Häuser und die Gründer denn

In Freundschaft, nicht zerrissen.

In Hogwarts herrschte Friede nun

In manchen glücklichen Jahren,

Doch bald kam hässliche Zwietracht auf,

Aus Schwächen und Fehlern entfahren.

Die Häuser, die vier Säulen gleich

Einst unsre Schule getragen,

Sie sahen sich jetzt als Feinde an,

Wollten herrschen in diesen Tagen.

Nun sah es so aus, als sollte der Schule

Ein frühes Ende sein.

Durch allzu viele Duelle und Kämpfe

Und Stiche der Freunde allein.

Und schließlich brach ein Morgen an,

Da Slytherin ging hinfort.

Und obwohl der Kampf nun verloschen war,

Gab's keinen Frieden dort.

Und nie, seit unsere Gründer vier

Gestutzt auf dreie waren,

Hat Eintracht unter den Häusern geherrscht,

Die sie doch sollten bewahren.

Nun hört gut zu dem Sprechenden Hut,

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Ihr wisst, was euch beschieden:

Ich verteil euch auf die Häuser hier,

Wie's mir bestimmt ist hienieden.

Ja, lauscht nur meinem Liede gut,

Dies Jahr werd ich weitergehen:

Zu trennen euch bin ich verdammt,

Doch könnt man's als Fehler sehen.

Zwar muss ich meine Pflicht erfüllen

Und jeden Jahrgang teilen.

Doch wird nicht bald durch diese Tat

Das Ende uns ereilen?

Oh, seht das Verderben und deutet die Zeichen,

Die aus der Geschichte erstehen.

Denn unsere Schule ist in Gefahr,

Sie mag durch äußere Feinde vergehen.

Wir müssen uns stets in Hogwarts vereinen

Oder werden zerfallen von innen.

Ich hab's euch gesagt, ich habe gewarnt …

Lasst die Auswahl nun beginnen.

Der Hut erstarrte wieder, Beifall brandete auf, aber zum ersten

Mal, soweit sich Harry erinnern konnte, war dazwischen ein Murmeln

und Wispern zu hören. Überall in der Großen Halle tuschelten Schüler

mit ihren Nachbarn, und Harry, der wie alle anderen klatschte, wusste

genau, worüber sie sprachen.

»Ist dieses Jahr ein bisschen abgeschweift, was?«, sagte Ron mit

hochgezogenen Augenbrauen.

»Und völlig zu Recht«, erwiderte Harry.

Der Sprechende Hut beschränkte sich normalerweise darauf, die

unterschiedlichen Eigenschaften zu beschreiben, die von den vier

Hogwarts-Häusern verlangt wurden, und auf seine eigene Aufgabe,

die Schüler dementsprechend auf die Häuser zu verteilen. Harry

konnte sich nicht erinnern, dass der Hut je versucht hätte, der Schule

einen Rat zu erteilen.

»Hat er eigentlich überhaupt schon mal eine Warnung

ausgesprochen?«, fragte Hermine in leicht beunr uhigtem Ton.

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»Ja, in der Tat«, sagte der Fast Kopflose Nick wissend und lehnte

sich durch Neville zu ihr hinüber (Neville zuckte zusammen; es war

nicht gerade angenehm, wenn sich ein Geist durch einen

hindurchlehnte). »Der Hut hält es für seine Ehrenpflicht, die Schule

geziemend zu warnen, wann immer er der Meinung ist …«

Aber Professor McGonagall, die Anstalten machte, die Liste mit

den Namen der Erstklässler zu verlesen, versetzte den flüsternden

Schülern einen Blick von der vernichtenden Sorte. Der Fast Kopflose

Nick legte einen durchsichtigen Finger auf die Lippen und setzte sich

wieder stocksteif hin, als plötzlich das Gemurmel verstummte.

Professor McGonagall ließ den Blick noch einmal finster über die vier

Haustische schweifen, dann senkte sie die Augen auf ihr langes Stück

Pergament und rief laut den ersten Namen auf.

»Abercrombie, Euan.«

Der verängstigt wirkende Junge, der Harry schon aufgefallen war,

stolperte nach vorne und setzte sic h den Hut auf; einzig seine weit

abstehenden Ohren verhinderten, dass er ihm sogleich auf die

Schultern rutschte. Der Hut überlegte einen Moment, dann öffnete

sich der Riss an der Krempe wieder und er verkündete:

»Gryffindor!«

Harry klatschte laut mit den anderen Gryffindors, während Euan

Abercrombie an ihren Tisch getaumelt kam und sich setzte. Er machte

den Eindruck, als würde er am liebsten im Boden versinken und nie

wieder einen Blick auf sich ziehen wollen.

Allmählich dünnte die lange Reihe der Erstklässler aus. In den

Pausen zwischen dem Aufrufen der Namen und den Entscheidungen

des Sprechenden Huts konnte Harry Rons Magen laut rumoren hören.

Schließlich wurde »Zeller, Rose« dem Haus Hufflepuff zugeteilt,

Professor McGonagall nahm Hut und Stuhl und schritt mit ihnen

davon, und Professor Dumbledore erhob sich.

Bei aller Bitterkeit, die Harry in der letzten Zeit gegenüber seinem

Schulleiter gehegt hatte, fühlte er sich nun, da er Dumbledore vor

ihnen allen stehen sah, einigermaßen besänftigt. Hagrid fehlte, dazu

noch diese Drachenpferde – das alles hatte ihm das Gefühl gegeben,

seine Rückkehr nach Hogwarts, die er so lange gespannt erwartet

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hatte, wäre voll leidiger Überraschungen, gleich Misstönen in einem

vertrauten Lied. Doch nun war es endlich so, wie es sein sollte: Ihr

Schulleiter erhob sich, um sie alle beim Empfangsessen zu begrüßen.

»An unsere Neuen«, sagte Dumbledore mit schallender Stimme,

die Arme weit ausgebreitet und ein strahlendes Lächeln auf den

Lippen, »willkommen! An unsere alten Hasen – willkommen zurück!

Es gibt eine Zeit, um Reden zu halten, aber dies ist sie nicht. Haut

rein!«

Es gab anerkennendes Gelächter, und Beifall brandete auf, als sich

Dumbledore elegant setzte und sich den langen Bart über die Schulter

warf, damit er ihm beim Essen nicht in die Quere kam – denn aus dem

Nichts waren Speisen erschienen, und die fünf langen Tische ächzten

unter Braten und Pasteten und Schüsseln mit Gemüse, unter Brot und

Soßen und Krügen voll Kürbissaft.

»Klasse«, sagte Ron mit einem hungrigen Stöhnen, griff sich die

nächstbeste Platte mit Koteletts und fing an, seinen Teller zu beladen,

unter den wehmütigen Blicken des Fast Kopflosen Nick.

»Was haben Sie vorhin noch gesagt?«, fragte Hermine das

Gespenst. »Von wegen, dass der Sprechende Hut Warnungen

ausspricht?«

»Oh, ja«, sagte Nick, offenbar froh über einen Grund, sich von Ron

abzuwenden, der inzwischen mit fast unanständiger Begeisterung

Bratkartoffeln aß. »Ja, ich habe den Hut schon mehrmals Warnungen

aussprechen hören, immer zu Zeiten, da er große Gefahr für die

Schule spürte. Und natürlich lautete sein Rat immer gleich: Steht

zusammen und seid stark von innen heraus.«

»Ui gan ein ut wischn da di schuhe ingefah isch?«, sagte Ron.

Er hatte den Mund so voll, dass Harry sich wunderte, wie er es

schaffte, überhaupt einen Mucks von sich zu geben.

»Verzeihung, bitte?«, fragte der Fast Kopflose Nick höflich,

während Hermine angewidert dreinsah. Ron schluckte seinen

gewaltigen Bissen hinunter und sagte: »Wie kann ein Hut wissen, dass

die Schule in Gefahr ist?«

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»Ich habe keine Ahnung«, sagte der Fast Kopflose Nick.

»Immerhin lebt er in Dumbledores Büro, also würde ich sagen, er

schnappt dort dies und jenes auf.«

»Und er will, dass alle Häuser untereinander befreundet sind?«,

sagte Harry und warf einen Blick hinüber zum Tisch der Slytherins,

wo Draco Malfoy Hof hielt. »Darauf kann er lange warten.«

»Nun, also, du solltest dir diese Haltung nicht zu Eigen machen«,

sagte Nick vorwurfsvoll. »Friedliche Zusammenarbeit, das ist die

Devise. Wir Gespenster pflegen freundschaftliche Bande, auch wenn

wir zu unterschiedlichen Häusern gehören. Trotz der Konkurrenz

zwischen Gryffindor und Slytherin würde ich nicht im Traum daran

denken, Streit mit dem Blutigen Baron zu suchen.«

»Nur weil Sie schreckliche Angst vor ihm haben«, entgegnete Ron.

Der Fast Kopflose Nick schien höchst entrüstet.

»Angst? Ich hoffe doch, dass ich, Sir Nicholas de Mimsy-

Porpington, mich während meines ganzen Lebens nie der Feigheit

schuldig gemacht habe! Das edle Blut, das in meinen Adern fließt …«

»Welches Blut?«, fragte Ron. »Sie haben doch ganz bestimmt kein

…?«

»Das ist eine Redensart!«, sagte der Fast Kopflose Nick,

inzwischen so verärgert, dass sein Kopf auf seinem nicht ganz

durchtrennten Hals bedrohlich zitterte. »Ich nehme an, es ist mir

immer noch erlaubt, jedwede Worte zu gebrauchen, die mir belieben,

selbst wenn mir die Genüsse des Essens und Trinkens versagt bleiben!

Aber sei versichert, ich bin durchaus an Schüler gewöhnt, die sich

über meinen Tod lustig machen!«

»Nick, er hat Sie wirklich nicht ausgelacht!«, sagte Hermine und

warf Ron einen zornigen Blick zu.

Unglücklicherweise war Rons Mund schon wieder gestopft voll

und alles, was er herausbrachte, war ein »Nö isch wollschi nisch

feraaschn«, was Nick offenbar nicht als angemessene Entschuldigung

zu würdigen bereit war. Er erhob sich in die Luft, rückte seinen

Federhut zurecht und entschwebte zum anderen Ende des Tisches, wo

er sich zwischen den Creevey-Brüdern Colin und Dennis niederließ.

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»Na toll, Ron«, fauchte Hermine.

»Was?«, sagte Ron entrüstet, der es endlich geschafft hatte, seinen

Bissen hinunterzuschlucken. »Darf man hier nicht mal einfache

Fragen stellen?«

»Ach, vergiss es«, erwiderte Hermine ärgerlich und den Rest des

Essens verbrachten die beiden in gekränktem Schweigen.

Harry kannte ihr Gekabbel nur zu gut und mühte sich gar nicht

erst, sie zu versöhnen; er hatte das Gefühl, seine Zeit besser zu nutzen,

indem er ordentlich Steak-und-Nieren-Pastete futterte und

anschließend einen großen Teller mit seiner Lieblings-Siruptorte

verschlang.

Als alle Schüler mit dem Essen fertig waren und der Lärm in der

Halle allmählich wieder anschwoll, erhob sich Dumbledore erneut.

Die Unterhaltungen verstummten schlagartig und alle wandten sich

dem Schulleiter zu. Harry fühlte sich inzwischen angenehm dösig.

Sein Himmelbett wartete irgendwo da oben auf ihn, wunderbar warm

und weich …

»Nun, jetzt, da wir alle ein weiteres herrliches Festessen verdauen,

bitte ich für einige Momente um eure Aufmerksamkeit für die

üblichen Bemerkungen zum Schuljahrsbeginn«, sagte Dumbledore.

»Die Erstklässler sollten wissen, dass der Wald auf dem

Schlossgelände für Schüler verboten ist – und einige unserer älteren

Schüler sollten es inzwischen auch wissen.« (Harry, Ron und Hermine

tauschten ein künstliches Lächeln.)

»Mr. Filch, der Hausmeister, hat mich, wie er sagt, zum

vierhundertzweiundsechzigsten Mal gebeten, euch daran zu erinnern,

dass Zauberei zwischen den Unterrichtsstunden auf den Gängen nicht

erlaubt ist, ebenso wenig wie eine Reihe anderer Dinge, die alle auf

der erschöpfenden Liste nachzulesen sind, die jetzt an Mr. Filchs

Bürotür hängt.

Dieses Jahr haben wir zwei Veränderungen im Kollegium. Wir

freuen uns sehr, Professor Raue-Pritsche erneut willkommen zu

heißen, die Pflege magischer Geschöpfe unterrichten wird; wir freuen

uns ebenfalls, Professor Umbridge vorstellen zu können, unsere neue

Lehrerin für Verteidigung gegen die dunklen Künste.«

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Es gab höflichen, wenn auch kaum begeisterten Beifall und Harry,

Ron und Hermine warfen sich leicht panische Blicke zu; Dumbledore

hatte nicht gesagt, wie lange Raue-Pritsche unterric hten würde.

Dumbledore fuhr fort: »Auswahlspiele für die Quidditch-

Mannschaften der Häuser finden statt am …«

Er unterbrach sich und sah Professor Umbridge fragend an. Da sie

im Stehen nicht viel größer war als im Sitzen, begriff einen Moment

lang niemand, warum Dumbledore aufgehört hatte zu reden, doch

dann räusperte sich Professor Umbridge, »chrm, chrm«, und es war

klar, dass sie aufgestanden war und die Absicht hatte, eine Rede zu

halten.

Dumbledore wirkte nur einen Moment lang verdutzt, dann setzte er

sich munter und sah Professor Umbridge aufmerksam an, als ob er

sich nichts sehnlicher wünschte, als ihrem Vortrag zu lauschen.

Andere Mitglieder des Kollegiums konnten ihre Überraschung nicht

so geschickt verbergen. Professor Sprouts Augenbrauen waren in

ihrem zerzausten Haar verschwunden und Professor McGonagalls

Mund war so dünnlippig, wie ihn Harry noch nie gesehen hatte.

Niemals zuvor hatte ein neuer Lehrer Dumbledore unterbrochen. Viele

Schüler grinsten; diese Frau wusste offensichtlich nicht, wie es in

Hogwarts zuging.

»Danke, Direktor«, sagte Professor Umbridge geziert, »für diese

freundlichen Willkommensworte.«

Sie hatte eine hohe, hauchzarte Kleinmädchenstimme, und Harry

spürte erneut eine mächtige Woge der Abneigung, die er sich nicht

erklären konnte; er wusste nur, dass er alles an ihr verabscheute, von

ihrer albernen Stimme bis zu ihrer flauschigen rosa Strickjacke.

Erneut ließ sie ein kleines hüstelndes Räuspern hören (chrm, chrm),

dann fuhr sie fort.

»Nun, es ist wunderbar, wieder in Hogwarts zu sein, muss ich

sagen!« Sie lächelte und offenbarte dabei sehr spitze Zähne. »Und

solch glückliche kleine Gesichter zu mir aufblicken zu sehen!«

Harry ließ den Blick umherschweifen. Keines der Gesichter, die er

sehen konnte, wirkte glücklich. Im Gegenteil, sie wirkten eher

verblüfft, wie Fünfjährige angesprochen zu werden.

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»Ich freue mich sehr darauf, Sie alle kennen zu lernen, und ich bin

sicher, wir werden sehr gute Freunde werden!«

Die Schüler sahen sich verwundert an, manche unterdrückten kaum

noch ein Grinsen.

»Meinetwegen bin ich ihre Freundin, solange ich mir diese

Strickjacke nicht ausleihen muss«, wisperte Parvati Lavender zu und

beide brachen in stummes Kichern aus.

Professor Umbridge räusperte sich erneut (chrm, chrm), doch als

sie fortfuhr, war ihre Stimme nicht mehr ganz so zart. Sie klang

weitaus geschäftsmäßiger und ihre Worte hatten jetzt einen drögen

Ton, als würde sie etwas auswendig Gelerntes vortragen.

»Das Zaubereiministerium hat der Ausbildung junger Hexen und

Zauberer immer die größte Bedeutung beigemessen. Die seltenen

Gaben, die Sie von Geburt an besitzen, könnten verkümmern, wenn

wir sie nicht durch sorgfältige Anleitung fördern und hegen würden.

Die uralten Fähigkeiten, die der Gemeinschaft der Zauberer

vorbehalten sind, müssen von Generation zu Generation

weitergegeben werden, wenn wir sie nicht für immer verlieren wollen.

Der Schatz magischen Wissens, den unsere Vorfahren

zusammengetragen haben, muss bewahrt, erweitert und vertieft

werden von jenen, die zum ehrenvollen Dienst des Lehrers berufen

sind.«

Hier legte Professor Umbridge eine Pause ein und machte eine

kleine Verbeugung hin zu ihren Kollegen, von denen keiner sie

erwiderte. Professor McGonagalls dunkle Augenbrauen hatten sich

dermaßen zusammengezogen, dass sie nun eindeutig wie ein Falke

wirkte, und Harry sah deutlich, wie sie mit Professor Sprout einen viel

sagenden Blick tauschte. Umbridge ließ wiederum ein leises Chrm,

chrm hören und fuhr mit ihrer Rede fort:

»Jeder Schulleiter, jede Schulleiterin von Hogwarts hat etwas

Neues zu der schweren Aufgabe beigetragen, diese geschichtsträchtige

Schule zu führen, und das ist auch gut so, denn ohne Fortschritt treten

Stillstand und Verfall ein. Und doch muss dem Fortschritt um des

Fortschritts willen eine Absage erteilt werden, denn häufig bedürfen

unsere erprobten und bewährten Traditionen nicht des

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Herumstümperns. Ein Gleichgewicht also zwischen Altem und

Neuem, zwischen Dauer und Wandel, zwischen Tradition und

Innovation …«

Harry spürte, dass seine Aufmerksamkeit verebbte, dass sein

Denken sich abwechselnd trübte und wieder schärfte. Die Stille, die

stets den Raum beherrschte, wenn Dumbledore sprach, verflog, seine

Mitschüler steckten flüsternd und kichernd die Köpfe zusammen.

Drüben am Ravenclaw-Tisch plauderte Cho Chang angeregt mit ihren

Freundinnen. Ein paar Plätze von Cho entfernt hatte Luna Lovegood

erneut ihren Klitterer herausgeholt. Am Hufflepuff-Tisch indes war

Ernie Macmillan einer der wenigen, die immer noch Professor

Umbridge anstarrten, wenn auch mit glasigen Augen, und Harry war

sicher, dass er nur so tat, als würde er zuhören, ganz bestrebt, dem

neuen Vertrauensschülerabzeichen, das auf seiner Brust schimmerte,

gerecht zu werden.

Professor Umbridge schien die Unruhe im Publikum nicht

wahrzunehmen. Harry hatte den Eindruck, eine ausgewachsene

Randale hätte direkt vor ihrer Nase losbrechen können und sie hätte

ihre Rede weiter durchgezogen. Die Lehrer jedoch lauschten immer

noch sehr aufmerksam, und Hermine schien jedes von Professor

Umbridges Worten einzusaugen, auch wenn sie, ihrer Miene nach zu

schließen, überhaupt nicht nach ihrem Geschmack waren.

»… weil manche Änderungen zum Besseren ausschlagen, während

andere im Urteil der Geschichte sich als Fehlentscheidungen erweisen

werden. Desgleichen werden manche alten Gewohnheiten bewahrt

werden, und das ganz zu Recht, während andere, veraltet und

überholt, aufgegeben werden müssen. Gehen wir also voran in eine

neue Ära der Offenheit, der Effizienz und der Verantwortlichkeit,

bestrebt, das zu bewahren, was bewahrenswert ist, zu

vervollkommnen, was vervollkommnet werden muss, und zu säubern,

wo wir Verhaltensweisen finden, die verboten gehören.«

Sie setzte sich. Dumbledore klatschte. Die Lehrer folgten seinem

Beispiel, allerdings fiel Harry auf, dass einige von ihnen ihre Hände

nur ein- oder zweimal zusammenschlugen und dann innehielten. Ein

paar wenige Schüler schlossen sich dem Beifall an, doch die meisten,

die nicht mehr als einige Worte lang zugehört hatten, waren vom Ende

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der Rede überrascht worden, und bevor sie ordentlich applaudieren

konnten, hatte sich Dumbledore bereits wieder erhoben.

»Ich danke Ihnen vielmals, Professor Umbridge, das war eine

höchst aufschlussreiche Rede«, sagte er und verbeugte sich vor ihr.

»Nun, wie gesagt, die Quidditch-Auswahlspiele finden statt am …«

»Ja, das war wirklich aufschlussreich«, sagte Hermine mit

gedämpfter Stimme.

»Willst du sagen, du fandest sie gut?«, fragte Ron leise und wandte

sich mit trüben Augen Hermine zu. »Das war so ziemlich die

langweiligste Rede, die ich je gehört habe, und ich bin immerhin mit

Percy aufgewachsen.«

»Ich hab gesagt aufschlussreich, nicht gut«, sagte Hermine. »Sie

hat vieles erklärt.«

»Tatsächlich?«, sagte Harry überrascht. »Mir kam's vor wie ein

Haufen Geschwafel.«

»In dem Geschwafel waren einige wichtige Hinweise versteckt«,

sagte Hermine grimmig.

»Wirklich?«, sagte Ron mit ratloser Miene.

»Was ist mit: ›Dem Fortschritt um des Fortschritts willen muss

eine Absage erteilt werden‹? Oder mit: ›Säubern, wo wir

Verhaltensweisen finden, die verboten gehören‹?«

»Naja, was soll das heißen?«, sagte Ron ungeduldig.

»Ich will dir erklären, was das heißt«, sagte Hermine unheilvoll.

»Das heißt, das Ministerium mischt sich in Hogwarts ein.«

Ringsum begann ein großes Stühlerücken und Fußgetrappel;

offenbar hatte Dumbledore die Feier aufgelöst, denn alle standen auf

und machten sich bereit, die Halle zu verlassen. Hermine sprang hoch,

in heller Aufregung.

»Ron, wir müssen den Erstklässlern den Weg zeigen!«

»Ach ja«, sagte Ron, der es offensichtlich vergessen hatte. »Hey –

hey, ihr da! Ihr Knirpse!«

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»Ron!«

»Naja, das sind sie doch, Winzlinge …«

»Das weiß ich, aber du kannst sie nicht Knirpse nennen! –

Erstklässler!«, rief Hermine gebieterisch über den Tisch hinweg.

»Hier lang, bitte!«

Eine Gruppe von Neulingen ging schüchtern zwischen dem

Gryffindor- und dem Hufflepuff-Tisch hindurch, alle äußerst bemüht,

auf keinen Fall als Anführer dazustehen. Tatsächlich schienen sie sehr

klein; Harry war sich sicher, dass er nicht so jung gewirkt hatte, als er

hier angekommen war. Er grinste ihnen zu. Ein blonder Junge neben

Euan Abercrombie schien vor Schreck zu erstarren; er stupste Euan an

und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Euan Abercrombie war offenbar nicht

minder erschrocken und warf Harry einen angsterfüllten Blick zu.

Harry spürte das Grinsen von seinem Gesicht tröpfeln wie Stinksaft.

»Bis später dann«, sagte er zu Ron und Hermine und verließ allein

die Große Halle, er war entschlossen, unterwegs nicht mehr auf

Geflüster, Gestarre und auf ihn deutende Finger zu achten. Er blickte

stur geradeaus und schlängelte sich durch die Menge in der

Eingangshalle, dann eilte er die Marmortreppe hoch, nahm ein paar

verborgene Abkürzungen und hatte bald das größte Gedränge hinter

sich gelassen.

Es war dumm von ihm gewesen, nicht mit so etwas zu rechnen,

überlegte er zornig, während er durch die viel ruhigeren Korridore in

den oberen Stockwerken ging. Natürlich starrten ihn alle an; er war

zwei Monate zuvor aus dem Trimagischen Irrgarten aufgetaucht, die

Leiche eines Mitschülers an sich gepresst, und hatte behauptet, er habe

Lord Voldemort an die Macht zurückkehren sehen. Im vergangenen

Schuljahr war keine Zeit gewesen, alles zu erklären, bevor sie nach

Hause gefahren waren – selbst wenn er sich imstande gefühlt hätte,

der ganzen Schule einen genauen Bericht über die schrecklichen

Ereignisse auf jenem Friedhof zu liefern.

Harry hatte das Ende des Korridors zum Gemeinschaftsraum der

Gryffindors erreicht und blieb vor dem Porträt der fetten Dame stehen,

da fiel ihm ein, dass er das neue Passwort nicht kannte.

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»Ähm …«, sagte er verdrießlich und starrte zur fetten Dame hoch,

die die Falten ihres rosa Seidenkleides glatt strich und seinen Blick

streng erwiderte.

»Kein Passwort, kein Zutritt«, sagte sie hochmütig.

»Harry, ich weiß es!« Jemand keuchte von hinten auf ihn zu, und

als er sich umwandte, sah er Neville herantraben. »Rat mal, wie es

heißt! Ich kann's mir nämlich endlich mal merken …« Er fuchtelte mit

dem mickrigen Kaktus, den er ihnen im Zug gezeigt hatte. »Mimbulus

mimbeltonia!«

»Richtig«, sagte die fette Dame, und ihr Porträt schwang ihnen

entgegen wie eine Tür und gab den Blick auf ein rundes Loch in der

Wand dahinter frei, durch das Harry und Neville jetzt kletterten.

Der Gemeinschaftsraum der Gryffindors, der unverändert gastlich

wirkte, war ein behagliches rundes Turmzimmer voll zerschlissener

knuddliger Sessel und wackliger alter Tische. Im Kamin prasselte ein

munteres Feuer und ein paar Schüler wärmten sich daran die Hände,

bevor sie zu ihren Schlafsälen hinaufstiegen; auf der anderen Seite des

Zimmers pinnten Fred und George Weasley etwas an das schwarze

Brett. Harry wünschte ihnen mit einer Handbewegung gute Nacht und

ging flugs auf die Tür zum Jungenschlafsaal zu; momentan war ihm

nicht sonderlich nach Gesprächen zumute. Neville folgte ihm.

Dean Thomas und Seamus Finnigan waren schon im Schlafsaal

und gerade dabei, Poster und Fotos an die Wände neben ihren Betten

zu hängen. Sie hatten sich unterhalten, als Harry die Tür öffnete,

verstummten aber jäh, kaum dass sie ihn sahen. Harry fragte sich, ob

sie über ihn geredet hatten, und gleich darauf, ob er unter

Verfolgungswahn litt.

»Hi«, sagte er, ging hinüber zu seinem Koffer und öffnete ihn.

»Hey, Harry«, sagte Dean, der sic h gerade seinen Pyjama in den

Farben von West Harn anzog. »Schöne Ferien gehabt?«

»Ging so«, murmelte Harry, da ein wahrheitsgetreuer Bericht über

seine Ferien den größten Teil der Nacht in Anspruch genommen hätte

und er dazu keine Lust hatte. »Und du?«

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»Ja, war okay«, kicherte Dean. »Besser als bei Seamus jedenfalls,

er hat's mir gerade erzählt.«

»Warum, was ist passiert, Seamus?«, fragte Neville und stellte den

Mimbulus mimbeltonia liebevoll auf sein Nachtschränkchen.

Seamus antwortete nicht gleich; zunächst sorgte er penibel dafür,

dass sein Quidditch-Poster der Kenmare Kestrels auch ja gerade hing.

Dann sagte er, Harry immer noch den Rücken zugekehrt: »Meine

Mum wollte nicht, dass ich wieder zurückkomme.«

»Was?«, sagte Harry und hielt beim Ausziehen seines Umhangs

inne.

»Sie wollte nicht, dass ich nach Hogwarts zurückkomme.«

Seamus wandte sich von seinem Poster ab und zog seinen

Schlafanzug aus dem Koffer, noch immer ohne Harry anzusehen.

»Aber – wieso?«, sagte Harry erstaunt. Er wusste, dass Seamus'

Mutter eine Hexe war, deshalb konnte er nicht verstehen, warum sie

sich so wie die Dursleys aufgeführt hatte.

Seamus antwortete erst, als er seinen Schlafanzug ganz zugeknöpft

hatte.

»Nun ja«, sagte er in gemessenem Ton, »ich vermute … wegen

dir.«

»Was soll das heißen?«, fragte Harry rasch.

Sein Herz schlug ziemlich schnell. Er hatte das vage Gefühl, als ob

etwas bedrohlich auf ihn zunicken würde.

»Nun ja«, sagte Seamus wieder und mied weiterhin Harrys Blick,

»sie … ähm … nun ja, es ist nicht nur wegen dir, auch wegen

Dumbledore …«

»Sie glaubt dem Tagespropheten?«, sagte Harry. »Sie denkt, ich sei

ein Lügner und Dumbledore ein alter Narr?«

Seamus blickte zu ihm auf.

»Ja, so ungefähr.«

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Harry schwieg. Er warf seinen Zauberstab auf den Nachttisch, zog

seinen Umhang aus, stopfte ihn zornig in den Koffer und schlüpfte in

seinen Pyjama. Es widerte ihn an; er hatte es satt, der zu sein, der

angestarrt wurde und über den man die ganze Zeit redete. Wenn nur

einer von ihnen wüsste, wenn nur einer die leiseste Ahnung hätte, wie

es war, wenn einem all diese Dinge passierten … Mrs. Finnigan,

schoss es ihm wutentbrannt durch den Kopf, diese dumme Frau, sie

hatte doch keine Ahnung.

Er stieg ins Bett und wollte gerade die Vorhänge zuziehen, als

Seamus sagte: »Hör mal … was ist denn jetzt in dieser Nacht passiert,

als … du weißt schon, als … das mit Cedric Diggory und so?«

Seamus klang nervös und wissbegierig zugleich. Dean, der sich

über seinen Koffer gebeugt hatte und einen Pantoffel herauszuklauben

versuchte, wurde merkwürdig still, und Harry wusste, dass er mit

gespitzten Ohren lauschte.

»Was willst du von mir?«, erwiderte Harry. »Warum liest du nicht

einfach den Tagespropheten wie deine Mutter? Da steht alles drin,

was du wissen musst.«

»Hör auf, meine Mutter zu beleidigen«, fauchte Seamus.

»Ich beleidige jeden, der mich einen Lügner nennt«, entgegnete

Harry.

»So redest du nicht mit mir!«

»Ich red mit dir, wie es mir passt«, sagte Harry und seine Wut

kochte so schnell hoch, dass er seinen Zauberstab vom Nachttisch

schnappte. »Wenn du ein Problem damit hast, dass du mit mir in

einem Schlafsaal bist, dann geh und frag McGonagall, ob du

umziehen kannst … dann braucht sich deine Mami keine Sorgen mehr

zu machen …«

»Lass meine Mutter aus dem Spiel, Potter!«

»Was ist hier los?«

Ron stand in der Tür. Er hatte die Augen aufgerissen und sah von

Harry, der auf dem Bett kniete und mit dem Zauberstab auf Seamus

zielte, zu Seamus, der mit erhobenen Fäusten dastand.

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»Er beleidigt meine Mutter!«, rief Seamus.

»Was?«, sagte Ron. »Das würde Harry nie tun – wir haben deine

Mutter kennen gelernt, wir fanden sie ganz nett …«

»Da hat sie noch nicht jedes Wort geglaubt, das dieser stinkende

Tagesprophet über mich schreibt!«, sagte Harry laut.

»Oh«, sagte Ron und allmählich begann es auf seinem

sommersprossigen Gesicht zu dämmern. »Oh … verstehe.«

»Weißt du was?«, erhitzte sic h Seamus und versetzte Harry einen

giftigen Blick. »Er hat Recht, ich will nicht mehr in einem Schlafsaal

mit ihm sein, er ist verrückt.«

»Das ist voll daneben, Seamus«, sagte Ron, dessen Ohren

inzwischen rot glühten – immer ein Zeichen von Gefahr.

»Voll daneben, ja?«, rief Seamus, der im Gegensatz zu Ron bleich

wurde. »Du glaubst den ganzen Käse, den er über Du-weißt-schonwen

erzählt hat, du meinst, er sagt die Wahrheit?«

»Ja, allerdings!«, sagte Ron zornig.

»Dann bist du auch verrückt«, sagte Seamus verächtlich.

»Jaah? Tja, Pech für dich, Mann, dass ich zufällig auch

Vertrauensschüler bin!«, sagte Ron und stupste sich mit dem Finger

auf die Brust. »Also pass auf, was du sagst, außer du willst

Strafarbeiten verpasst kriegen!«

Seamus schaute ein paar Sekunden lang drein, als wären

Strafarbeiten ein annehmbarer Preis dafür, sagen zu können, was ihm

durch den Kopf ging; aber dann drehte er sich mit einem verächtlichen

Schnauben auf dem Absatz um, hechtete ins Bett und zog die

Vorhänge mit solcher Wut zu, dass sie abrissen und zu einem

staubenden Haufen auf den Boden niedersanken. Ron blickte Seamus

böse an, dann wandte er sich Dean und Neville zu.

»Hat noch jemand Eltern, die ein Problem mit Harry haben?«,

sagte er angriffslustig.

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»Meine Eltern sind Muggel, Alter«, sagte Dean achselzuckend.

»Die wissen gar nichts von irgendwelchen Toten in Hogwarts, weil

ich nicht so blöd bin und es ihnen auch noch erzähle.«

»Du kennst meine Mutter nicht, die quetscht alles aus jedem

raus!«, fauchte ihn Seamus an. »Außerdem krie gen deine Eltern nicht

den Tagespropheten. Die wissen gar nicht, dass unser Schulleiter aus

dem Zaubergamot und aus der Internationalen Zauberervereinigung

rausgeschmissen wurde, weil er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat

…«

»Meine Omi sagt, das ist Kokolores«, meldete sich Neville zu

Wort. »Sie sagt, es ist der Tagesprophet, der den Bach runtergeht, und

nicht Dumbledore. Sie hat ihr Abo gekündigt. Wir glauben Harry«,

sagte er schlicht. Er stieg ins Bett, zog die Decke hoch bis ans Kinn

und äugte wie eine Eule zu Seamus hinüber. »Meine Omi hat immer

gesagt, Du-weißt-schon-wer wird eines Tages zurückkommen. Sie

glaubt, wenn Dumbledore sagt, er ist zurück, dann ist er auch zurück.«

Harry spürte einen jähen Anflug von Dankbarkeit gegenüber

Neville. Niemand sonst sagte ein Wort. Seamus holte seinen

Zauberstab hervor, reparierte die Bettvorhänge und verschwand hinter

ihnen. Dean legte sich ins Bett, drehte sich um und schwieg. Neville,

der offenbar auch nichts weiter zu sagen hatte, betrachtete zärtlich

seinen mondbeschienenen Kaktus.

Harry lehnte sich in seine Kissen zurück, während Ron am

Nachbarbett damit beschäftigt war, seine Sachen zu verstauen. Der

Streit mit Seamus, den er immer sehr gemocht hatte, hatte Harry

erschüttert. Wie viele Leute würden ihm noch unterstellen, er würde

lügen oder sei durchgeknallt?

Hatte auch Dumbledore den ganzen Sommer über so gelitten, als

ihn erst der Zaubergamot, dann die Internationale

Zauberervereinigung aus ihren Reihen verstoßen hatten? War es

vielleicht Zorn auf Harry, der Dumbledore seit Monaten davon

abhielt, mit ihm Kontakt aufzunehmen? Schließlich waren sie beide in

diese Sache verstrickt; Dumbledore hatte Harry geglaubt, der ganzen

Schule seine Version der Ereignisse mitgeteilt und dann der gesamten

Zaubererschaft. Jeder, der Harry für einen Lügner hielt, musste auch

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Dumbledore für einen Lügner halten oder aber glauben, dass man

Dumbledore hinters Licht geführt hatte …

Eines Tages werden sie wissen, dass wir Recht hatten, dachte

Harry niedergeschlagen, als Ron ins Bett stieg und die letzte Kerze im

Schlafsaal löschte. Doch er fragte sich, wie viele Angriffe ähnlich dem

von Seamus er noch aushalten musste, bevor dieser Tag kam.

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