Kapitel 14: Die Gärten der Ewigkeit

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Als ich an diesem Morgen durch die goldbeschlagenen Korridore spazierte, war es bereits spät. Die Sonnenstrahlen hatten die Finsternis vertrieben und legten sich nun wie ein goldroter Schleier über das Land. Über das funkelnde Meer und die moosfarbenen Berge und Hügel, die daneben lagen. Über die Häuser, die wie zarte Miniaturbauwerke das Tal zierten. Allesamt wirkten sie aus der Ferne winzig und zerbrechlich, wie ein einzigartiges Kunstwerk, das sich perfekt in die Landschaft fügte.
Noch immer raubte mir die Aussicht schier den Atem, vor allem in den Morgen- und Abendstunden wenn die Sonne am wärmsten und schönsten war. Ich gähnte und streckte mich, hielt aber sogleich abrupt inne, als ich den Widerstand meiner Robe spürte.
Heute hatten mich die Hofdamen in ein dunkelgrünes Kleid gesteckt mit einem zwar breiten Rock aber einem eng anliegenden Korsett, das ich am liebsten abnehmen würde.
Ich wusste nicht einmal wozu sie mich so schick gemacht hatten. Heute war mein letzter freier Tag, bevor die Lehrstunden mit Cecilia beginnen würden. Und ausnahmsweise fand an diesem Tag auch kein Fechtunterricht statt. Ich hatte also gar keine Pflichten, die es zu erledigen galt - ausnahmsweise mal.

Zufrieden flanierte ich durch die Zimmer und blieb an so ziemlich jedem Fenster stehen, an dem ich vorbei lief.

Auf einmal hörte ich leises Gekicher hinter mir, das ganz bestimmt nicht von den Höflingen stammen konnte. Ein Dienstmädchen war ebenso unwahrscheinlich. Neugierig drehte ich mich also um und konnte hinter mir zwei Mädchen erkennen, die ungehalten lachten. Sie trugen weiße Spitzenkleider und ihre Haare glänzten, als bestünden sie aus Seide. Schleifen waren in ihre Frisuren verflochten, ebenso wie matte Perlen.

Auf meine Lippen schlich sich ein Grinsen, als ich sie erkannte. Das waren doch tatsächlich Sinula und Majvi. Ich fragte mich, was die beiden zusammen geführt hatte und vor allem was sie hier trieben. Wieso lachten sie?

Majvi sah mich als erstes und ihre Augen leuchteten sogleich auf. »Liva!«, begrüßte sie mich lauthals und rannte mir entgegen. Ich seufzte und rollte mit den Augen als ich zwei Schmuckkästchen in ihren Händen sah, in denen ganz sicher kein Schmuck steckte.

»Woher hast du nur auf einmal diese Energie?«, murmelte ich vor mich hin. Vor kurzem hatte sie noch kränkelnd und schwach in ihrem Bett gelegen und jetzt war sie auf einmal wieder der reinste Wirbelwind. Meine gute alte Majvi war wieder zurück. Was für ein Glück.

Der kleine Lockenschopf nahm meine beiden Hände und schüttelte mich einmal komplett durch. »Kommst du mit uns mit? Wir suchen Schmetterlings dort wo es diese Drachen gibt, die Wasser spucken.«

»Mit uns?«, schnaubte ich belustigt, befreite mich von ihrem Griff und drehte mich zu Sinula um, die sich verlegen die Schläfe rieb. Sie musste nicht einmal antworten, das übernahm meine kleine ungestüme Schwester für sie.

»Ja mit mir und deiner Freundin. Die ist voll hübsch, ich mag die.«

Mein Grinsen wurde breiter. »Ach weil sie hübsch ist, verstehe«. Es war wirklich interessant zu erfahren, worauf es aus Majvis Sicht ankam. Aber bei einer Sache hatte meine kleine Schwester Recht: Sinula war tatsächlich ziemlich ansehnlich.

Die Prinzessin jedoch brachte das nur noch mehr in Verlegenheit. Kein Wunder, hier im Schloss war es schließlich nicht schicklich so offen seine Meinung zu sagen. Sie lächelte unsicher und kam auf mich zu. »Ich war deiner Schwester beim Ankleiden und Frisieren behilflich. Sie wollte sich unbedingt die Kleider von Prinzessin Paulina ansehen, meiner kleinen Cousine.«

Majvi kicherte und drehte sich vor mir im Kreis. »Hast du gehört, ich sehe jetzt wie eine Prinzessin aus. Wie eine echte Prinzessin.«

Mir fiel es schwer, nicht den Kopf über sie zu schütteln. Ich war es einfach nicht gewohnt, Majvi in einem derart edlen Kleid zu sehen. »Es ist schön« , murmelte ich und fügte zögernd hinzu, »nur naja... gewöhnungsbedürftig.«

Sinula lachte so herzhaft, dass sie sich an die Brust fassen musste. »Ja gewöhnungsbedürftig ist es allemal. Aber sie wollte unbedingt wie eine Prinzessin aussehen.«

Nur Majvi verstand nicht, was wir an der ganzen Sache derart lustig fanden. Sie blinzelte uns verwirrt an. »Was heißt gewöhnungsbedürftig?«

»Nichts«, besänftige ich sie und strich ihr über die Wange, wobei sie jedoch zurückwich und mich verstimmt anfunkelte. »Du siehst toll aus«, fügte ich unbeirrt hinzu.

Majvi sagte gar nichts mehr dazu, sondern nahm uns ohne ein weiteres Wort an der Hand und rannte los.
»Majvi, warte«, keuchte Sinula neben mir atemlos, »es gehört sich nicht, in diesem Teil des Schlosses zu rennen. Wenn uns jemand sieht.«

Verwirrt blinzelte ich sie an. Von der rebellischen Prinzessin, die noch vor wenigen Tagen vor ihren Hofdamen geflohen war, war wohl nicht mehr viel übrig. Aber woher kam auf einmal dieser Wandel? Ich drosselte mein Tempo und endlich sah Majvi ein, dass es keinen Sinn mehr ergab, weiter zu stürmen.

»Spielverderber«, murrte sie, »so toll bist du doch nicht.«

Sinula wirkte gekränkt, wofür ich meine Schwester mit einem bösen Blick strafte. »Sie meint es nicht so«, besänftigte ich die Prinzessin, »sie ist immer so zickig, wenn ihr etwas nicht passt.«

Um einiges langsamer liefen wir durch den Säulengang, bis sich vor uns die sogenannten »Gärten der Ewigkeit« ausbreiteten. Sinulas Miene entspannte sich wieder, als sie die vielen Beete, Springbrunnen und Teiche sah und auch Majvi hörte auf zu schmollen. Ihre großen braunen Augen leuchteten auf einmal wie zwei Monde. »Wow«, entfuhr es ihr. Sie drehte sich zu Sinula um und fragte neugierig: »Bist du hier immer?«

Das schlanke blonde Mädchen konnte den Blick kaum von den drei Gärten abwenden. »Gelegentlich«, murmelte sie gedankenverloren, »wenn ich Ruhe brauche, dann komme ich gerne hier her.«

Majvi hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Mit einem fröhlichen Aufschrei nahm sie die Prinzessin an der Hand und stürmte mit ihr über die Marmortreppen in einen der Gärten. Sinula hob eilig ihren Rock an und stolperte mit. »Langsamer«, bat sie, jedoch ohne sich ein Lachen verkneifen zu können, »ich falle gleich.«

Majvis Augen funkelten schelmisch auf und wie ich es erwartet hatte, rannte sie noch ein bisschen schneller - und blieb dann plötzlich abrupt stehen. Ich fing Sinula auf, die dadurch das Gleichgewicht verlor und ohne mich ganz bestimmt auf den Boden geknallt wäre. Wir taumelten beide nach hinten und versuchten unbeholfen, das Gleichgewicht irgendwie wieder zu finden. »Oh je«, lachte Sinula und befreite sich eilig von mir, »tut mir -«

»Schmetterlings!«, unterbrach sie Majvi fröhlich. »Da sind Schmetterlings, Liva!«

Ich hob den Kopf und tatsächlich - über einem Veilchenstrauch flatterten einige blauviolette Falter. Majvi sprang natürlich sofort in die Höhe und versuchte die Tierchen mit den Kästchen zu erhaschen - jedoch vergebens. Sie flogen zu hoch und waren zu schnell.

Die Kleine zog eine Schnute. »Helft mal.«

»Zu Befehl«, meinte ich augenrollend und zog mir die Schuhe aus. Ich hatte nicht vor, erneut das Gleichgewicht zu verlieren. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass Sinula mir nachdenklich von der Seite aus dabei zusah. Ich nickte ihr zu. »Los, du auch!«

Ungläubig riss sie die Augen auf und stotterte. »Wie bitte? Du meinst... Ich soll ohne die Schuhe weitergehen?«

Warum nicht? War sie noch nie barfuß gewesen? »Wäre besser, wenn du mich nicht wieder umwerfen willst.«

Sinula knabberte wieder an ihrer Unterlippe herum, anscheinend war ihr dieses kleine Missgeschick unangenehm. »Es schickt sich nicht, ohne Schuhe herum zu laufen wie ein Bauerntrampel.«

Sie wirkte noch verlegener als sie bemerkte, was sie da so eben gesagt hatte. »Oh ich meine keinesfalls dass du so etwas bist, ich ähm... Ich bin es nur nicht gewohnt, meine Füße zu zeigen.«

Ich seufzte und drehte mich wieder zu meiner Schwester um, die von unserem kurzen Wortwechsel dem Anschein nach nicht viel mitbekommen hatte. Sie hatte sich bereits einige Meter von uns entfernt und suchte in einem neuen Beet weiter. Ich holte zu ihr auf und auch Sinula gesellte sich zu uns - jedoch nach wie vor mit Stöckelschuhen an den Füßen.

Auf ihrer Hand landete ein zarter Schmetterling, der die Farbe des Morgengolds hatte. Ich schnaubte. Es war so klar, dass er ausgerechnet auf unserer Prinzessin landen musste. Sinulas Lippen zuckten zufrieden und sie tippte das kleine Geschöpf vorsichtig an, sodass es geradewegs in Majvis geöffnetes Schmuckkästchen flatterte.

Gedankenverloren spazierte sie weiter, diesmal folgte ich Sinula. Majvi blieb noch bei den Sträuchern zurück und suchte weiter. Falls sie in den nächsten Minuten nicht mehr hinterherkam, dann würden wir eben umkehren müssen.
Sinulas abwesender Blick, mit dem sie den Balkon betrachtete, hatte mich neugierig gemacht.
Langsamen Schrittes und mit erhobenem Kopf lief sie über eine Rundbrücke, anmutig und elegant wie eine Ballerina. Ich sah sie nachdenklich von der Seite aus an. Was wohl gerade durch ihren Kopf ging?
Sie musste so wie ich irgendetwas besonderes an diesem Garten sehen. Etwas rätselhaftes, faszinierendes und gleichzeitig auch beängstigendes.
Dieser Ort war so geheimnisumwoben wie kaum ein anderer.

Ich versuchte, Fragen zu formulieren obwohl ich kaum wusste, wo ich da überhaupt anfangen sollte. Das erste, was mir an diesem Balkon seltsam erschien, was sein Name. »Wieso heißt dieser Ort eigentlich 'Garten der Ewigkeit'?«, fragte ich daher leise.

Sinula blieb nicht stehen, sah mich nicht einmal an, dennoch konnte ich Unruhe aus ihrem Gesicht lesen. Sie blinzelte ein paar Mal mehr als zuvor und ihre Lippen zuckten. Wir liefen über einen schmalen gepflasterten Weg, der an goldenen Wasserspeiern und blassblauen Rosen vorbeiführte.

»Das ist kompliziert«, antwortete die Prinzessin schließlich, »hinter dieser Bezeichnung steckt eine lange Geschichte.«

Sie führte mich durch einen Gang aus verwilderten Rosenhecken, der in einem weißen Pavillon endete. Dahinter ließ eine Trauerweide ihre müden Zweige in einen türkisblauen See hängen.

Wir beide blieben stehen und ich versuchte Blickkontakt mit Sinula aufzunehmen, diese jedoch sah jedes Mal zur Seite, wenn sich unsere Blicke streiften. »Wie lautet die Geschichte?«, fragte ich vorsichtig.

Sinula atmete einmal tief durch. »Vater wird es nicht mögen, wenn ich dir davon erzähle. Er mag solche Märchen nicht.«

Ich wollte sie nicht bedrängen, doch die Neugier hatte mich gepackt. »Ich werde ihm nichts erzählen«, versprach ich ihr daher, »wieso sollte ich auch.«

Sinula seufzte schwer und blickte zum See. »Einige Legenden besagen, dass unsere Göttin Novalie vor nicht allzu langer Zeit gelebt hat«, begann sie schließlich mit rauer Stimme.

Ich setzte mich auf eine kleine weiße Bank und hörte ihr gebannt zu. Sonnenschein fiel auf unsere Haut. »Das Schloss soll damals ihr Zuhause gewesen sein, bis sie nach einem tragischen Ereignis, das in Vergessenheit geraten ist, in ihr Himmelsreich zurückkehren musste.«

Sie setzte sich nun zu mir und sah mir nachdenklich in die Augen. »Ihr liebster Ort zu jener Zeit war dieser Balkon hier. Täglich spazierte sie in der Gestalt einer jungen wunderschönen Frau durch die Gärten und genoss die Vielfalt und das Leben, die sie hier erwarteten. Sie hatte schon immer ein Herz aus Gold und kümmerte sich um jedes Lebewesen, das in diesen Gärten Schutz fand. Sie pflanzte die größten und schönsten Sonnenblumen an, dessen Samen sie an die Vögel verfütterte, die sie jeden Abend mit ihrem Gesang anlockte. Mit den Schmetterlingen funkelte sie um die Wette.«

Sinula seufzte verträumt und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. »An diesem Ort hing ihr Herz und ihre Seele, weil er so wunderschön und wunderbar ist wie die Göttin selbst. Es wird gesagt, dass ein Teil von ihrer Seele hier geblieben ist und in diesen Gärten Wurzeln geschlagen hat. Sie soll hier weiterhin leben, auf Ewig. Deshalb der Name.«

Ich hing der Geschichte noch für einen kurzen Augenblick nach. Novalie soll hier gelebt haben... Interessant.

»Das ist ein sehr schönes Märchen«, bemerkte ich leise.

Sinula lächelte. »Das ist es. Es ist einer der Gründe, wieso ich ständig diesen Ort aufsuche. Wenn ich traurig bin oder Angst habe, dann komme ich hier her. Der Gedanke, dass ein Teil von Novalie hier sein könnte, gibt mir Kraft und Mut.«

Mitfühlend nickte ich. Deshalb also verkroch sie sich immer hier, wenn sie Probleme hatte. Weil sie unserer Göttin nahe sein wollte. Der Schlossbalkon war also eine Art Tempel für sie.

Doch die Antworten, die ich soeben bekommen hatten, warfen neue Fragen auf. Ich musste nun wieder an die geheimnisvolle Geigerin denken, deren Turm sich direkt neben den Gärten der Ewigkeit befand. Konnte das Zufall sein?

»Befindet sich Cecilias Zimmer deshalb hier? Wegen der Göttin?« Irgendetwas stimmte mir dieser Geigerin nicht, das spürte ich genau. Ihre geheimnisumwobene Musik, die Art wie sie sich benahm wenn sie spielte - all das erinnerte mich an Rituale. Dass sie gläubig war, konnte ich mir also gut vorstellen.

Sinula jedoch blinzelte nur ratlos. Anspannung lag in der Luft, als sie murmelte: »Wer ist Cecilia? Ich kenne keine Cecilia.«

***

Als wir zu Majvi zurückkehrten, wartete diese bereits mit leuchtenden Augen und einem frechen Grinsen im Gesicht auf uns. So wie es aussah war sie bei ihrer Schmetterlingsjagd erfolgreich gewesen. Eines der Kästchen, die sie hielt, stand jedoch noch offen, weshalb ich davon ausging, dass sich ihre Ausbeute lediglich in dem anderem befand.

»Wie viele sind es?«, rief ich ihr zu, »zehn oder zwanzig?«

Sinula lächelte verhalten bei meinen Worten, Majvi hingegen grinste selbstbewusst. »Fünf Stück.« Ihre Brust war vor Stolz geschwellt. »Habe nur leider keine Drachen gefunden«, fügte sie enttäuscht hinzu und ich hatte Mühe, mein Lächeln zu halten. Autsch. Ich hatte gehofft, sie hätte diese kleine Unwahrheit vergessen. Dass es wasserspuckende Drachen gab, war schließlich nicht ganz gelogen gewesen. Es gab hier tatsächlich Wasserspeier, nur hatte ich nicht hinzugefügt, dass sie aus Silber und Gold bestanden und nicht aus Fleisch und Blut.

Tja, das wird sie eines Tages wohl selbst herausfinden müssen. »Immerhin hast du die Schmetterlinge«, tröstete ich sie und sah mich um. »Wir können noch welche suchen, wenn du willst.«

Majvi nickte sofort.

Sinula schien ebenfalls einverstanden. Sie lächelte fröhlich, doch dieses Lächeln hielt nicht lange an. Binnen weniger Minuten schaffte es Majvi ihre Fröhlichkeit in Verzweiflung umzuwandeln. Sie nahm sie an beiden Händen und zog sie kichernd von Strauch zu Strauch, während Sinula so aussah, als würde sie vor Schwindel gleich umfallen. Sie hatte offensichtlich Mühe, sich mit ihren spindeldürren Absätzen auf den Beinen zu halten. Pech gehabt, dachte ich mit einem Hauch voll Schadenfreude, du wolltest ja nicht auf mich hören, Prinzessin.

Mit einem Seufzer rannte ich zu ihnen, wobei ein ganzer Falterschwarm vor mir panisch in alle Richtungen aufstob. Vergnügt scheuchte ich die Viecher eine kleine Brücke hinab, direkt in Majvis Arme. Als ich bei den beiden ankamen, nahm ich Sinula atemlos an ihrer noch freien Hand und versuchte sie irgendwie zu stützen. Das Mitleid hatte mich also doch noch gepackt.
Majvi ließ sofort von uns beiden ab und sprang in die Höhe. Zwei der Falter fing sie mit ihrem Kästchen ein, der Rest flüchtete in den Himmel.

»Deine Schwester ist ein wirklich lebhaftes Kind«, keuchte Sinula neben mir. Lebhaft. Das war eine schöne Bezeichnung für Majvi. Mich erinnerte sie mehr an ein Unwetter, als an ein Kind. An einen Sturm, einen Orkan.

Ich behielt meine Gedanken lieber für mich, entriss meiner kleinen Naturkatastrophe eine ihrer Schmetterlingsschachteln und rannte damit davon. Wie vermutet reagierte Majvi direkt lauthals. »Hey, gib die wieder her!«, schrie sie und raste hinterher.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wollte lieber gar nicht erst wissen, was sie mit mir anstellen würde, wenn sie mich erreichte. Nun konnte ich also nur noch fliehen. Vergnügt passierte ich einen Steg, unter dem mir ein dunkelblauer See entgegenfunkelte, der von unzähligen Rosen übersät war. Hinter einem großen Springbrunnen aus Marmorstein, kam ich schnaufend zum Stehen und ließ mich erschöpft zu Boden sinken. Das sollte für's erste als Versteck reichen.

Mir fiel auf, dass ich mich in der Nähe des geheimnisvollen Turms befand, der sich über meinem Kopf erhob. Efeuranken waren um ihn geschlungen, so als würden sie ihn an diesen Garten fesseln wollen. Vor Neugier vergaß ich ganz, wieso ich eigentlich hier war und stand auf. Das Zimmer der Geigerin befand sich nur einen Stockwerk über mir und hatte einige große Fenster, durch die ich aus dieser Entfernung allerdings nichts erkennen konnte.

»Hab dich!«, rief plötzlich jemand hinter mir und ich wirbelte erschrocken herum. Meine Schwester stand atemlos neben dem Brunnen und sah mich aus leuchtenden braunen Augen an. Sie nutzte meine Verblüffung aus und entriss mir das Kästchen. »Du hast verloren und jetzt darf ich mir eine Strafe überlegen.«

Hinter ihr nahm ich eine Bewegung wahr. Es war Sinula, die um einiges langsamer zu uns schritt und sich neben Majvi stellte. Sie hatte ihre Haare geöffnet und glättete sie vorsichtig mit den Händen.

»Ihr müsst mir jetzt beide einen Schmetterling fangen«, entschied das rothaarige Mädchen, auch wenn wir ihr nur mit halbem Ohr zuhörten.

»Wir?«, schnaubte ich, »ich dachte ich wäre diejenige, die verloren hat. Sinula aber nicht.«

Majvi verschränkte herausfordernd die Arme. »Mir doch egal. Sie soll mir auch einen fangen.«

Ich seufzte. Mit Majvi zu diskutieren ergab in etwa so viel Sinn wie einem Höfling zu erklären, dass ich in den Korsetten, die sie mir tagtäglich zumuten, keine Luft bekam.

Majvi kicherte ungehalten und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Schmetterling, der sich auf einer goldenen Kugel niedergelassen hatte, die sich an dem höchsten Punkt des Springbrunnes befand. »Den da.«

»Natürlich«, lachte ich ironisch und hob eine Augenbraue. »Sonst noch Wünsche?«

Sinula sah mit großen Augen den Brunnen hinauf. »Wie soll man da bloß hin gelangen?«, überlegte sie laut.

Majvi nutzte ihre Unsicherheit natürlich direkt aus. Mit einem vergnügten Funkeln in den Augen, tätschelte sie ihr die Schulter. »Du bist 'ne Prinzessin und die können alles.« Fragend drehte sie sich zu mir um. »Ist doch so, oder?«

Ich rollte mir den Augen. »Natürlich.« Eigentlich war das sarkastisch gemeint, doch Majvi verstand das natürlich nicht und fühlte sich bestätigt.

Sie setzte ihren Hundeblick auf, den sie nur zu gut hinbekam mit ihren großen braunen Eulenaugen.

Sinula zögernd, dann nickte sie unsicher und kletterte auf den Brunnenrand, ohne sich zu beschweren. Ich schüttelte den Kopf über sie. Sie ließ sich doch tatsächlich von meiner aufmüpfigen Schwester herumkommandieren. Als sie jedoch noch einen weiteren Schritt wagte, schwankte sie bedrohlich und ihr Körper verspannte sich. »Liva, hilf mir doch bitte«, rief sie mit einer Spur von Panik in der Stimme.

Ich seufzte und sprang ebenfalls auf den Rand, bis ich sie am Rücken erwischte.

»Oh je, was mache ich hier bloß«, jammerte sie.

»Du lässt dir Befehle von einer Achtjährigen erteilen«, zog ich sie auf. Sinula schnaubte nur verzweifelt. »Sag mir doch bitte, was ich tun soll.«

»Komm zurück.«

»Ich kann nich -«

Schon machte es platsch und sie landete im Wasser. Verzweifelt planschte sie prustend durch den Brunnen, mit den Armen wie wild um sich schlagend. Ihr Gesicht war vor Angst verzogen und sie spuckte immer wieder Wasser. »Hilfe«, japste sie, »ich ertrinke.«

Ich konnte mir nun kaum mehr das Lachen verkneifen. Das Bild war derart witzig und unpassend, dass ich es mir wohl nicht einmal hätte erträumen können. Prinzessin Sinula, die in einem Brunnen ertrank. Welch dragisches Schicksal.

»Du musst schwimmen«, zog ich die auf, Sinula fluchte jedoch nur zur Antwort, was mich noch mehr überraschte. Die Worte, die ihre Lippen verließen, hätte ich mir noch weniger erträumen können. »Die Arme bewegen - langsamer.«
Wusste sie wirklich nicht, wie man schwamm? Die Prinzessin konnte nicht schwimmen?

Ich gluckste in mich hinein.

»Herrjemine! Meine Kleider werden ja ganz nass und meine Haare!«, jammerte sie weiter.

Schon klar, dass ihre Kleider nass wurden, wenn sie im Wasser war.
Sie war eitler, als ich es vermutet hatte. Ich grinste, Sinula jedoch verstand mein Vergnügen an ihrem Leid nicht. Sie wirkte schon fast verärgert. »Nun tu doch was!«

Das Karma kam in Form meiner kleinen Schwester, die sich noch während ich vor mich hingackerte an mich anschlich und mich von hinten zu Sinula ins Wasser stieß.

Mir verging schlagartig das Lachen, als die Kälte von oben bis unten über mich hinwegschwabbte. Nun war Majvi die einzige, die noch grinste.
Sinula hielt sich sofort an mir fest und versuchte sich zum Brunnenrand vor zu angeln.

Daraus wird nichts, meine Liebe, dachte ich voller Schadenfreude und schlug auf das Wasser, sodass es ihr in die Augen spritzte. Augenblicklich ließ Sinula los und strampelte wieder wie wild. »Das ist nicht witzig«, jammerte sie und griff beleidigt wieder nach meinen Schultern.

Ich fand es sehr wohl witzig. Doch irgendwie tat mir Sinula auch leid, so sehr wie sie zitterte und verzweifelt gegen das Wasser ankämpfte. Erst jetzt, wo sie direkt neben mir stand, spürte ich wie viel Angst sie hatte.

»Schon gut«, besänftigte ich sie und half ihr aus dem Wasser. Sinula wirkte ziemlich durchgefroren. Ich wollte sie nicht länger dieser Affenkälte aussetzen.
Zähneklappernd hievte ich mich neben ihr aus dem Brunnen und wir ließen uns beide müde auf eine Bank fallen. Was für ein merkwürdiger Tag!

Sinula zitterte zwar, doch auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Anscheinend hatte sie auch Spaß gehabt - und Majvi erst recht. Die kleine Rothaarige quetschte sich mit leuchtenden Augen zwischen uns und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer an Sinula. »Gruppenkuscheln«, murmelte sie und schlang die Arme um meinen Oberkörper.

Ich strich ihr eine kupferfarbene Locke hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war und fragte mich, woher sie nach all dem, was geschehen war, nur diese Lebensfreude hatte. Majvi war anscheinend ebenso eine Kämpferin wie ich. Zwar ohne Schwert und Rüstung, dennoch war sie stark wie kaum ein anderer Mensch.

Als wie trocken waren, stand Sinula auf, schaffte es aber nicht, Majvi loszuwerden. Die Kleine klammerte sich immer noch an ihrem Arm fest. »Ich sollte dann mal meine Gemächer aufsuchen und mich umkleiden.«

»Ich komme mit«, sagte Majvi sofort.

Ich ließ die beiden gehen und entschied, noch einmal zu diesen Fenstern zu gehen, die ich vorhin entdeckt hatte. Vielleicht konnte ich durch sie einen Blick in Cecilias Zimmer werfen.

Der Gedanke, dass schon morgen der Geigenunterricht beginnen würde, beunruhigte mich. Es war äußerst merkwürdig, dass sich Cecilia in diesem Turm versteckte, Lieder spielte, die sie angeblich verabscheute und jedes Mal entsetzt war, wenn ich auftauchte. Ebenso wenig verstand ich, warum Cifan dann wiederum so begeistert davon war, dass ich mich ständig zu ihr geschlichen hatte.
Und warum kannte Sinula sie nicht? Sie verbrachte doch nahezu jeden Tag in diesem Garten, da musste sie Cecilia doch zumindest einmal über den Weg gelaufen sein.
Vielleicht hatte sie auch gelogen... Doch wieso?

Fragen über Fragen häuften sich in meinem Kopf an, die mich immer mehr beunruhigten. Ich hatte nicht vor, mich auf den Unterricht einzulassen ehe ich wusste, was es damit auf sich hatte.

Auf leisen Sohlen stahl ich mich zu dem Turm. Hier war zum Glück niemand. Keine Bediensteten, keine Höflinge, keine Adeligen - und vor allem nicht der König.
Ich schlich geduckt an den Fenstern entlang, bis zum hinteren Teil des Turms. Dort hatte Cecilia schließlich immer gesessen. Rastlos sah ich mich um, schreckte bei jedem Knacken und Rascheln hoch. Doch es waren nur die Vögel.
Ich atmete einmal tief durch und wiederholte in meinem Kopf: Da ist niemand. Es sind bloß Tiere.

Leider konnte ich nicht direkt ins Zimmer sehen, da dieses ungefähr einen Kopf über mir lag. Deshalb entfernte ich mich ein wenig von dem Turm. Schnell und geduckt huschte ich hinter einen Rosenstrauch, der jedoch klein war und nur einen Teil meines Körpers verdeckte.
Ich spähte vorsichtig nach oben, zu den Fenstern. Zu meiner Enttäuschung musste ich nun feststellen, dass das Innere des Raumes hinter dunklen Gardinen verschwand. Deshalb hatte ich also von der Ferne aus nichts erkennen können.

Zähneknirschend stand ich auf und suchte nach einer Lösung. Ich lief vor dem Turm auf und ab und auf und ab - bis mir ein kleiner Spalt zwischen den Vorhängen auffiel. In meinem Kopf formte sich eine Idee.
Ich sah mich um und entdeckte einen weißen Gartentisch neben einem Wasserspeier. Zufrieden borgte ich mir einen Stuhl und trug ihn zu dem Turm. Er wackelte ein wenig, als ich mich auf ihn stellte und ins Zimmer spähte.

Mein Herz schlug schneller, als ich die junge rothaarige Frau erkannte, die wie erwartet neben einem Bogenfenster saß, während Notenpapiere wie aufgewehte Herbstblätter durch das Zimmer wirbelten. Cecilia merkte davon nichts, sie spielte nur konzentriert weiter und hatte wie immer die Augen geschlossen. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas war diesmal anders, das spürte ich. Ich brauchte eine Weile um diesem Gefühl auf die Schliche zu kommen. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über den Raum schweifen und überlegte, was an dem Bild, das sich vor mir abzeichnete, nicht passte.
Wie immer trug Cecilia die Haare offen, wie immer hatte sie ein weißes Spitzenkleid an. Nichts daran war ungewöhnlich. Auch die Tatsache nicht, dass sie Geige spielte.

Mein Blick schweifte weiter. In diesem Zimmer befand sich rein gar nichts bis auf die Notenblätter. Es war also nichts neues dazugekommen, das mich irritierte.
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ich erkannte, dass diesmal die Fenster geschlossen waren.
Mein Blick fiel wieder auf die Noten, die trotz allem weiterhin durch die Luft wirbelten und zählte eins und eins zusammen.

Dass sie sich bewegten lag nicht am Wind. Es war auch nichts im Raum, der das verursachen konnte. Das Lied war magisch. Alles andere ergäbe keinen Sinn.

Angst kroch mir den Nacken hinauf. Bloß weg von hier! Ich wollte schon aufspringen und davonrasen, doch eine plötzliche Bewegung im Rauminneren erlangte meine Aufmerksamkeit. Mir wurde schwindelig, als ich sah, dass sich die Blätter aufeinander zubewegten und wie ein Wirbelsturm im Kreis geworfen wurden. Sie bewegten sich um etwas, das ich nur verschwommen erkennen konnte.
Ich wusste nicht direkt, was es war, doch mir war klar, dass es eben noch nicht dagewesen war.

Auf einmal fielen die Blätter und ich erkannte, dass es ein Mann war, der inmitten des Zaubers stand. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, weshalb ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Der Fremde hatte blonde Haare und eine breite Statur. Er trug dunkle aber edle Kleidung, die zum Teil aus Leder, ebenso wie aus Fellen bestand. Ob er nun wirklich fremd war oder nicht, konnte ich nicht erkennen.

Cecilia schien ihn bereits erwartet zu haben, denn sie empfing ihren Gast mit einem Nicken und schritt zu ihm vor. Die beiden redeten offensichtlich miteinander, da sich Cecilias Mund bewegte. Was sie sagen, konnte ich durch die Scheiben jedoch nicht verstehen.

Ich wollte mich schon aufmachen und das Weite suchen, rennen so schnell ich konnte, doch im letzten Moment huschte Cecilias Blick in meine Richtung und ich realisierte, dass sich mich gesehen hatte.

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