6. Kapitel

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Charlotte Godwins

Mit einem Seufzen lässt sie sich in der kleinen Küche nieder und schlägt endlich ihr Buch auf. Schon den ganzen Morgen sucht sie einen Ort, wo sie endlich ruhig lesen kann, doch irgendwie scheint heute nicht ihr Tag zu sein. Ihr Stammplatz in der Bibliothek ist belegt gewesen, der Speisesaal ist sowieso viel zu laut und auch auf den Fluren ist erstaunlich viel los. Zudem fällt es ihr schon die ganze Zeit viel schwerer, abzuschalten, da ihre Gedanken immer wieder zu dem Abendessen schweifen.
Sie selbst hat ihr Handy heute morgen sogar neugestartet, um zu überprüfen, ob sie sich die Nachricht ihres Vaters nicht nur eingebildet hat. Die Nachricht, in der er ihr mitteilt, dass er und ihre Mutter mal eben nach England kommen, weil ein gemeinsames Abendessen der sieben Familien stattfinden soll.
Das haben sie noch nicht einmal an ihrem Geburtstag gemacht, erinnert sie sich, doch verdrängt diesen Gedanken direkt wieder. Sie darf sich jetzt bloß nicht wegen heute Abend verrückt machen, schließlich wird schon alles gut gehen.
Hochkonzentriert beginnt sie damit, an der Stelle weiterzulesen, an der sie zuletzt aufgehört hat. Allerdings schafft sie es gar nicht erst, sich voll und ganz in das Abenteuer der Protagonistin hineinzufühlen, da mit einem Mal ein lautes Krachen ertönt. Erschrocken blickt sie sich um und ihr Griff um das Buch versteckt sich.
Augenblicklich entspannt sie sich allerdings wieder, als sie Raffaello entdeckt, dem scheinbar etwas hinuntergefallen ist. Ihr Blick landet auf dem Boden vor ihm, der von tausenden von Scherben bedeckt wird. Ohne ein Wort zu sagen, beugt er sich hinunter, greift genau in die Scherben und zieht laut fluchend wenig später seine Hand wieder nach oben. Wortlos beobachtet Charlotte den roten Blutstropfen der langsam seinen Finger hinunterrinnt und kann ihren Blick nicht abwenden. Nur am Rande bekommt sie mit, wie Raffaello seine Wortwahl wieder in den Griff bekommt, nach einem Handtuch greift und dieses auf seinen Finger presst.
Erst in diesem Moment kann sie ihren Blick wieder von seinem Finger abwenden und ihr Frühstück gerade noch bei sich behalten. Dabei bemerkt sie, wie Raffaello ihr einen Blick zu wirft, der ihr so viel sagen soll, wie das er versteht, wie es ihr geht. Sie verdreht jedoch nur die Augen und wendet sich wieder ihrem Buch zu.
Allerdings scheint Raffaello etwas dagegen zu haben, denn er lässt sich genau auf dem Platz neben ihr nieder und legt einen Arm um sie. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickt sie zu ihm, wobei sie so eine Nähe nicht mehr von ihm oder irgendjemand anderem gewohnt ist.
„Was willst du?" Streng sieht sie ihn an, unsicher, was sie erwartet.
„Ach, was soll ich schon wollen. Vielleicht möchte ich mich einfach mit dir unterhalten", spricht er ein bisschen zu laut und schenkt ihr dabei ein schiefes Lächeln. Sie jedoch versteht immer noch kein Wort und mit einem Mal bricht er in lautes Lachen aus. „Du kannst so abgehoben sein, ist dir das klar?", bringt er hervor und bricht wieder in erneutes Lachen aus. Langsam steigt ihr ein Geruch in die Nase, den sie von ihm nur zu gut kennt.
"Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist. Bist du wirklich heute betrunken?" Noch immer kann sie nicht fassen, wie er sich ausgerechnet heute betrinken musste. Weiß er nicht, wie wichtig der heutige Tag ist.
"Ach was, betrunken. Ich bin doch nicht betrunken." Während er spricht, zieht er die Wörter lang und bricht danach wieder in erneutes Lachen aus.
"Was ist in dem Glas gewesen?" Dabei deutet sie auf den Scherbenhaufen einige Meter entfernt und Raffaello scheint für einen kurzen Moment zu überlegen.
"Ein richtig bitterer Cocktail. Marcus meint, ich würde mich genauso fühlen." Bei seiner Antwort verdreht sie nur die Augen, ganz abgesehen davon, dass sie keine Ahnung hat, wer zum Teufel Marcus ist.
"Wie viele von denen hast du getrunken?", hakt sie weiter nach und er fängt an, sie an der Hand abzuzählen. Nach einigen Sekunden endet er und sie blickt ihn erwartungsvoll an.
"Ich habe ... absolut keine Ahnung." Danach bricht er wieder in Lachen aus, als hätte er gerade den besten Witz der Welt erzählt.
"Wie zum Teufel kannst du dich heute betrinken?", fragt sie ihn mit weit aufgerissenen Augen und wird dabei auch ein bisschen lauter, als man es von ihr gewohnt ist.
"Andere Frage: Wie willst du heute das Abendessen überstehen?" Mit einem Mal klingt Raffaello vollkommen nüchtern und lenkt das Gespräch genau auf das Thema, über das sie auf keinen Fall sprechen will.
"Ach was, so schlimm wird es nicht werden. Zumindest nicht, wenn du dich heute benimmst", streitet sie ab, doch Raffaello zieht nur eine Augenbraue hoch.
"Nicht so schlimm? In welcher Parallelwelt lebst du bitte schön?" In diesem Moment hat er keine Ähnlichkeit mehr mit dem Raffaello, der nur wenigen Minuten hier zur Tür hinein gekommen ist. „Erinnerst du dich etwa nicht mehr an das letzte gemeinsame Abendessen?"
„Gut, vielleicht ist das letzte Abendessen ein bisschen chaotisch gewesen", gibt sie zu Bedenken, doch er verdreht wieder nur die Augen. „Hey, wir sitzen dann später nur eine Stunde da und können dann wieder gehen. Was interessiert uns bitte der Streit unserer Eltern?", legt sie ihm ihren Standpunkt da.
„Eine Stunde? So wie ich unsere Eltern kennen wird es erstmal sieben Gänge zu essen geben und zwischen jedem Gang gibt es dann noch eine ausreichende Verdauungspause. Ich würde eher so vier Stunden rechnen, die wir dort heute verbringen müssen", widerspricht Raffaello ihr weiter und sie sieht ihn ungläubig an. Vier Stunden? Das Abendessen ist für 20 Uhr angesetzt und schon zwei Stunden später hat sie ihr Treffen mit Marvin.
„Ich habe aber keine vier Stunden Zeit", erwidert sie und lacht auf.
„Und glaubst du, das wird unsere Eltern interessieren. Für sie sind nur sie selbst wichtig sonst niemand." Während Raffaello spricht, fühlt Charlotte sich unglaublich dumm. Natürlich ist ihr klar gewesen, dass dieses Abendessen nicht einfach abgehakt sein wird, doch dabei hat sie völlig das Treffen mit Marvin vergessen, etwas, was ausgesprochen selten vorkommt. Irgendwie scheint in den letzten Tagen einfach alles schief zu laufen, was schieflaufen kann.
Ungefähr seit dem Zeitpunkt, als Eadlyn wieder hier aufgetaucht ist. Allerdings hilft es ihr nur sehr wenig, sich nun über Eadlyn aufzuregen, statt eine Lösung für ihr Problem zu suchen. Das Treffen mit Marvin abzusagen, wird ganz sicher ihre letzte Option sein. Marvin ist nun schon seit so langer Zeit einer ihrer besten Freunde und bisher hat sie noch nie ein Treffen abgesagt.
Das Abendessen sausen zu lassen ist aber auch keine Option, das ist ihr klar. Würde sie beim Abendessen fehlen, so ist sie sich sicher, mehr als nur Ärger von ihren Eltern zu bekommen. Nein, ihr Vater würde sie wahrscheinlich sogar umbringen. Obwohl dieses Treffen eigentlich privat ist und die Familien auch keinen großen Streit miteinander führen, so nutzt man doch jeden Fehler, der von einer anderen gemacht wird, voll aus.
Das Fehlen einer der Erben dieser Familien wäre ganz offensichtlich ein sehr gern gesehener Streitpunkt. Charlotte sieht schon die Schlagzeilen vor sich, die am Tag darauf in der Zeitung erscheinen würden. „Charlotte Godwins: Ist sie vielleicht krank oder etwas noch Schlimmeres?" oder „Gedenkt die Erbin des großen Bergbau-Imperium zurückzutreten?" Nein, fehlen ist ganz sicher keine Option, zumindest keine sonderlich schlaue.
Also gibt es nur noch eine Möglichkeit, sie muss beides unter einen Hut stecken und hoffen, dass sie es irgendwie schafft. Doch wenn das Abendessen eine komplette Katastrophe wird, wird sie garantiert noch länger dortbleiben müssen. Ihr Blick fliegt zu Raffaello, der mittlerweile aufgestanden ist und die Küche wahrscheinlich etwas essbarem durchsucht. Noch immer ist es ihr ein Rätsel, wie er sich ausgerechnet heute, wo er auch Angst vor dem Abendessen hat, betrinken konnte.
„Benimmt dich später oder ich bring dich um", durchbricht sie die Stille mit eiskalter Stimme und sieht ihn mit funkelenden Augen an.
„Wenn dir das Ganze so wichtig ist", meint er nur, als er sich erstaunt zu ihr umgedreht hat. Sie nickt einfach nur, ziemlich sicher, dass sie sich auf sein Wort verlassen kann, nimmt ihr Buch und verlässt den Raum auf der Suche nach einem Ort, wo sie nun endlich alleine, völlig alleine, sein kann.


Seit dem Gespräch mit Raffaello sitzt Charlotte nun auf heißen Kohlen und schon lange ist sie nicht mehr so aufgeregt gewesen wie heute, stellt sie nach genaueren Überlegungen fest. Ihre Schritte hallen durch den Gang, den sie gerade durchquert auf dem Weg zu dem kleinen Saal. Dieser befindet sich am äußersten Punkt des Ostflügels im ersten Stock und kann immer wieder zu bestimmten Feierlichkeiten genutzt werden, wie zum Beispiel ein Abendessen der sieben großen Familien.
Im Gegensatz zu heute Mittag hat sie sich ein bisschen aufgehübscht und anders als gewöhnlich ihre Haare geflochten. Beim Verlassen des Zimmers erlag sie dann fast ihrer Gewohnheit, schon ihr Buch in die Hand zu nehmen, hat es dann aber doch im Zimmer liegen gelassen, aus dem einfachen Grund, dass sie sich fast hundertprozentig sicher ist, dass sie nicht lesen wird. Während sie sich immer dem kleinen Saal nährt, wirft sie einen Blick auf die Uhr und stellt fest, dass sie mal wieder viel zu früh ist. Augenblicklich verlangsamt sie ihre Schritte und als sie um die nächste Ecke biegt, fällt ihr Blick auf eine weitere Person, die gerade ihr Zimmer verlässt.
„Charlotte", begrüßt Dante sie höflich, so wie in den letzten drei Jahren immer.
„Dante", erwidert sie die Begrüßung in genau dem gleichen Ton und schenkt ihm ein aufgesetztes Lächeln. Schweigend setzen sie ihren weg nebeneinander fort, sich darauf vorbereitend, was nun passieren wird. Nach viel zu wenig Zeit erreichen sie schließlich die Flügeltür am anderen Ende des Ganges und Dante öffnet er sie.
Mit einer Verbeugung gibt er den Vortritt an Charlotte ab und ein Lächeln taucht auf ihren Lippen auf. In dem Punkt wird Dante sich wohl nie ändern. Doch schon im nächsten Moment werden ihre Gedanken in eine andere Richtung gelenkt, als sie den Raum genauer in Augenschein nimmt, in dem sie sich nun befindet.
Nur am Rande bekommt sie mit, wie Dante neben sie tritt, während sie den Raum mit offenem Mund bestaunt. Sir Audley hat sich mal wieder alle Mühe beim Dekorieren des Raumes gegeben. Alles ist eher schlicht und in dunkleren Farben gehalten, während man wahrscheinlich nicht einmal das kleinste Staubkörnchen finden könnte. Scheinbar setzt er alles daran, dass dieser Abend so gut wie nur möglich verläuft, und in diesem Moment könnte sie ihm nicht dankbarer sein.
„Dafür hat Sir Audley wirklich ein Händchen", merkt Dante neben ihr an und sie nickt immer noch sprachlos. Schritt für Schritt geht sie auf den Ebenholztisch zu, auf dem sich neben einem teuren Porzellangeschirr mit goldfarbenen Verzierungen, auch noch ein dunkelroter Läufer, sowie einige Blumen befinden. Ihr Blick fällt dabei auf die in allerschönster Schritt beschrifteten Sitzkärtchen und nach einem Gang um den Tisch muss sie feststellen, dass er selbst bei der Sitzordnung keine halben Sachen gemacht hat. So wie er sie alle gesetzt hat, ist es wahrscheinlich die am besten funktionierende Sitzordnung.
Ihr Blick fällt auf Dante, der neben dem Kopfende steht, wo Eadlyn sitzt. Als ihr Verlobter steht ihm natürlich der Platz an ihrer rechten Seite zu und hätte Sir Audley ihm diesen Platz verweigert, hätte es wahrscheinlich nur wieder Streitereien geblieben. Sie hingegen sitzt auf der anderen Seite mittig des Tisches. Mit einem Blick zur Seite stellt sie fest, dass sie neben Raffaello und ihrem Vater sitzt, Nachbarn, mit denen sie leben kann. Zudem kann sie Raffaello so um einiges besser im Auge behalten.
Sie will gerade noch etwas zu Dante sagen, als die Tür aufgeht und die nächsten Personen den Raum betreten. Diesmal sind es Nikolai und Avaline, auf die der Raum eine ähnliche Wirkung zu haben scheint, wie auf Charlotte, zumindest so, wie sie sich umsehen. Augenblicklich schließt Charlotte den Mund wieder und nimmt stumm ihren Platz ein, genau wie die anderen. Nach und nach füllt sich der Raum immer weiter, meistens betreten ein oder zwei Personen den Raum gleichzeitig und nehmen stumm ihren Platz ein.
Somit ist schon zu Beginn die Stimmung mehr als angespannt und diese Anspannung steigt mit jeder Sekunde. Schließlich, als die Uhr genau 20 Uhr schlägt, geht die Tür zum letzten Mal auf. Diesmal betritt die Familie de Lacy den Raum, angeführt von Alexandras Mutter, während Alexandra und ihr Vater dieser folgen.
Gebannt folgt Charlotte jeder Bewegung von Bethany de Lacy. Anders als ihre eigene Mutter trägt diese keinen pompösen Schmuck, der ihren Reichtum zeigt. Einzig und allein der Familienring an ihrer rechten Hand stellt die Macht ihrer Familie dar. Trotzdem ist sie mehr als nur einschüchternd. Neben ihr wirkt selbst Alexandra wie eine Ameise neben einem Löwen, dem König der Tiere. Ein anderes Tier käme für Bethany de Lacy wahrscheinlich gar nicht erst in Frage. Selbst als Charlotte noch klein gewesen ist, ist ihr aufgefallen, wie jedes Gespräch verstummt ist, sobald Bethany den Raum betreten hat, wie alle Augen ihren Bewegung gefolgt sind und jeder um ihre Gunst gebuhlt hat.
Es hat sogar einmal eine Zeit gegeben, da hätte Charlotte alles getan, um nur so zu sein wie Bethany de Lacy. Bis zu dem Zeitpunkt, wo sie immer älter geworden ist und ihr klar geworden ist, über wie viele Leichen Bethany de Lacy gegangen sein muss, um nun dort zu stehen, wo sie ist. Zielstrebig geht Bethany de Lacy auf ihren Platz am Ende des Tisches zu, wo sie direkt Eadlyn gegenüber sitzt und während sich die anderen beiden auch setzen, bleibt sie stehen.
„Es freut mich, euch alle endlich wieder zu einem der Treffen der sieben Familien zu begrüßen", beginnt sie das Treffen, so wie es das Vorrecht der mächtigsten im Raum ist. „Eine besondere Ehre ist es mir, dich, Eadlyn, wieder hier in London begrüßen zu heißen. Gleichzeitig möchte dir noch einmal mein Beileid zum Verlust deiner Eltern aussprechen. Ich habe niemanden gekannt, der deiner Mutter in Stärke und Macht gleichgekommen wäre. Auf Morgan und David Cherleton, mögen sie in Frieden ruhen." Zum Schluss hebt Bethany ihr Sektglas, das schon gefüllt auf dem Tisch steht, und alle anderen tun es ihr gleich.
„Vielen Dank für diese freundliche Begrüßung", erwidert Eadlyn nun, wobei es für jeden einzelnen klar ist, dass dies einfach nur leere Worte sind. Doch mehr sagt sie auch nicht und somit beginnen die Bediensteten der Schule den ersten Gang hinein zu tragen. Raffaello hat mit seiner Vermutung, wie der Abend ablaufen wird, gar nicht mal so falsch. Zwischen jedem Gang sind fünfzehn Minuten frei geblieben, die man damit verbracht hat, mit seinem Sitznachbarn zu plaudern, während beim Essen stur geschwiegen worden ist.
Als schließlich der sechste Gang durch die Tür gebracht wird, ist sich Charlotte nicht mehr sicher, ob sie noch einen Bissen hinunterbekommen kann. Auf der anderen Seite steigt mit jeder Sekunde ihre Hoffnung, dass dieser Abend wirklich ohne Zwischenfälle verläuft. Zwar hat sie Marvin ihre Verspätung schon angekündigt, doch wenn das Essen bald beendet wird, kommt sie nur eine Stunde zu spät. Trotzdem plagt sie jetzt schon ihr schlechtes Gewissen und ihr ist klar, dass sie sich gleich tausendmal entschuldigen wird.
„Hast du eigentlich schon die Vollmacht über deine Firma zurückgefordert?", richtet Alberto di Angelis, Raffaellos Vater, sich auf einmal an Eadlyn, während das Lächeln auf Bethanys Lippen versiegt.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", erwidert Eadlyn möglichst neutral, um somit jeglichen Streitereien aus dem Weg zu gehen.
„Na ja, ich meine, eigentlich hätte man mir die Vollmacht übertragen sollen, schließlich bin ich schon einmal mit deiner Mutter verlobt gewesen", meint er und wirft Alexandras Mutter dabei einen wütenden Blick zu. Aus früheren Abendessen mit ihren Eltern erinnert Charlotte sich, dass er sich vor drei Jahren über diesen Punkt mehr als nur ein bisschen aufgeregt hat und damit jedem auf die Nerven gegangen ist.
„Genau, du bist mit ihr verlobt gewesen. Bis sie David getroffen hat und dich damit ersetzt hat. Dich hat das damals sehr getroffen, oder?", mischt sich nun auch noch Dantes Mutter ein und schlägt sich damit auf Bethanys Seite. Diese hat nämlich in Wahrheit vor drei Jahren die Vollmacht über die Firma der Cherletons erhalten, ehe Eadlyn diese wieder zurückfordert.
„Wenigstens weiß ich, was das Wort Liebe bedeutet. Für dich sind andere Menschen doch nur Spielzeuge, die du nach Belieben wegschmeißen kannst, sobald sie langweilig werden." Bei Albertos Worten versteift sich Dantes Mutter augenblicklich. Genau wie ihre alten Freunde verfolgt Charlotte das Gespräch nur stumm, unsicher, zu was sich das Ganze entwickelt.
Nur wenige Minuten später ist von der Stille, die zuvor hier geherrscht hat, nicht einen Funken mehr übrig. Stattdessen mischen sich auch die anderen Elternteile in die Diskussion ein. Dabei nimmt keiner ein Blatt vor dem Mund und nutzt jede auch nur erdenkliche Schwäche der anderen aus.
Immer wieder kreuzen sich dabei Charlottes Blicke mit den anderen und in jedem Gesicht findet sie den gleichen Schock wieder, der sich in ihrem Körper ausgebreitet hat. Solche Diskussionen zwischen den Erwachsenen sind für sie nichts neues, doch so hitzig, wie es heute zu läuft, hat keiner von ihnen es je erlebt.
„Mein Sohn ist wenigstens normal. Deiner schafft es ja nicht einmal, seine Hände von irgendeinem weiblichen Lebewesen zu lassen, selbst in der Öffentlichkeit", reißen Albertos Worte Charlotte aus ihren Gedanken, die er an Dantes Mutter gerichtet hat.
Augenblicklich blickt Charlotte zu Dante und hat dabei keine Ahnung, wie er auf diese Worte reagieren wird. Natürlich findet sie sein Verhalten manchmal einfach nur lächerlich, doch auf der anderen Seite hat er keine Wahl. Genauso wie sie und ihre Freunde. Zumindest nicht mit seiner Todsünde.
Als ihr Blick auf Dante fäll, blickt sie in eine völlig ausdruckslose Miene und kann sich wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Schmerz hinter dieser Maske lauern kann. Für etwas beschuldigt zu werden, wofür man in keiner Weise die Schuld tragen kann. Doch ihre Versuche, seine Aufmerksamkeit zu bekommen, scheitern in jeglicher Hinsicht.
Mit einem Mal bemerkt sie aus dem Augenwinkel einen Ruck neben sich und wie wahrscheinlich jeder andere im Raum beobachtet sie nun, wie Raffaello aufsteht und dabei ist den Raum zu verlassen.
„Raffaello, du bleibst gefälligst hier sitzen. Ich bin dein Vater und du musst tun, was ich dir sage", faucht sein Vater ihn schließlich an, als er die Tür erreicht, und steht dabei auch auf. Langsam dreht Raffaello sich um und ihn seinem Gesicht kann Charlotte einzig und allein reine Enttäuschung erkennen.
„Seltsam, dass du gerade von einem völlig anderen Sohn geredet hast." Seine Worte sind dabei nicht sonderlich laut, ehe er sich wieder der Tür zu wendet und diese hinter ihm mit einem lauten Krachen ins Schloss fällt. Danach kehren erst einmal einige Sekunden Schweigen ein und niemand wagt es, auch nur ein Wort zu der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn zu sagen.
Charlottes Blick verweilt dabei noch ein bisschen länger auf der Tür, als die der anderen. In diesem Augenblick ist ihr nicht klar, ob sie Raffaello als dumm oder mutig bezeichnen würde. Dumm, sich so gegen seinen Vater zu stellen, für den das Ganze sicherlich noch ein Nachspiel haben wird, oder mutig, sich wirklich gegen seinen Vater zu stellen und dabei alle Konsequenzen in Kauf zu nehmen.
Doch nur wenige Sekunden nach Raffaellos Verlassen durchbricht Dantes Mutter die Stille und kann es sich dabei natürlich nicht nehmen, sich über Raffaellos Verhalten gegenüber seinem Vater lustig zu machen. Mit einem Mal artet die Diskussion noch mehr aus, als sie eigentlich schon ist, und am liebsten würde Charlotte im Boden versinken.
Noch nie hat sie sich für die Kommentare ihres Vaters so sehr geschämt wie jetzt, während er keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Gefühle nimmt. Immer wieder wechselt sie dabei Blicke mit den anderen und kann genau erkennen, dass es ihnen nicht anders zu gehen scheint, als ihr selbst.
Als ihr Blick zu Avaline gleitet, taucht ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen auf, als sie sieht, wie diese schon dabei ist aus Langeweile auf ihrer Serviette herumzukritzeln. Völlig in diesen Anblick versunken, der das einzig normale hier ist, hört sie gar nicht mehr den Streitereien der Erwachsenen zu.
Diese erregen ihrer Aufmerksamkeit erst wieder, als mit einem Mal jemand an ihr zur Tür vorbeirauscht und ihr Blick auf Dantes leeren Platz fällt. Seine Mutter versucht hingegen nicht, ihn hierzubehalten, aber wahrscheinlich auch nur, da ihr klar ist, dass er nicht hören würde.
Sehnsüchtig blickt sie die Tür an und mit einem Mal wünscht sie sich, auch einfach aufstehen und gehen zu können. Die Meinung ihrer Eltern dabei völlig ignorieren und einfach das tun, was man will.
Doch gleichzeitig taucht das Gesicht von ihrem Vater vor ihrem inneren Auge auf, wie er sie enttäuscht anblickt. So enttäuscht, wie er sie immer ansieht, wenn sie einen Fehler gemacht hat. So angesehen zu werden ist alles andere als angenehm. Doch kann sie es hier drinnen wirklich noch weiter aushalten? Nachdenklich lässt sie ihren Blick durch die Runde streifen und dabei hört sie, wie ihr Vater ihren Namen erwähnt.
„Charlotte hat wenigstens schon etwas zum Familienunternehmen beigetragen. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein, im Gegensatz zu anderen Personen hier im Raum." Dabei blickt ihr Vater zu Nikolais Vater, der ihn genauso eisig mustert. Charlotte hingegen sieht ihren Vater erstaunt an, überrascht, dass das Wort stolz in seinem Vokabular vorzufinden ist. Denn davon hat sie bisher nur sehr wenig gemerkt.
„Also bitte, dass einzig, was deine Tochter kann, sind Glücksspiele und die gewinnt sie auch nur, weil sie sehr viel Glück hat", erwidert Nikolais Vater nur und wirft Charlotte dabei keinen einzigen Blick zu. Langsam macht sich in ihr ein dunkles Gefühl breit und in diesem Moment fühlt sie sich mehr als nur verletzt. Vielleicht sind Glücksspiele ihre Spezialität, doch sie kann bei weitem mehr. Zum Beispiel ist nicht mal Nikolai in den naturwissenschaftlichen Fächern besser als sie.
Langsam blickt sie zu ihrem Vater, der neben ihr blickt, in der Erwartung, dass er nun irgendetwas erwidern wird. Doch er bleibt still und in diesem Moment macht sie das Gefühl von Verrat in ihrer Brust breit. Verraten von ihrem Vater, der sie scheinbar auch nicht anders als eine Spielsüchtige sind. Ein bitterer Geschmack macht sich in ihrem Mund breit und ihre Kehle ist mit einem Mal vollkommen trocken.
Ihr Blick landet auf Avaline, die sie just in diesem Moment anblickt und sie verständnisvoll anblickt. Langsam formt Avaline mit ihren Lippen einen Satz, wobei Charlotte das noch nicht einmal braucht, um zu wissen, was sie ihr nun sagen würde. Trotzdem lässt der Satz nicht das schwere Gefühl auf ihrer Brust verschwinden und erleichtert ihr auch nicht das Atmen.
Stattdessen geht ihr nun nur ein Satz durch den Kopf. Ihr Atem geht immer schneller, während sie verzweifelt versucht, Luft zu bekommen. In diesem Augenblick wird ihr klar, dass sie nicht mehr hierbleiben kann. Wortlos steht sie und ohne einen Blick zu ihrem Vater stürmt sie aus der Tür heraus.

Erst, als sie diese wieder hinter sich geschlossen hat, schnappt sie nach Luft und langsam füllen sich ihre Lungen wieder. Sekunde für Sekunde die verstreicht, fällt die Last von ihr ab, bis sie sogar eigenständig stehen kann und sich nicht mehr an die Tür lehnen muss. In diesem Augenblick denkt sie an den Satz, den Avaline ihr früher immer gesagt hat, wenn irgendjemand meinte, sie könne nichts.
„Du bist schlicht und ergreifend besser als sie. Doch das wollen sie nicht wahrhaben", hallt Avalines Stimme in ihrem Kopf wieder und ein Lächeln taucht auf ihren Lippen auf. Schon immer ist Avaline diejenige gewesen, der sie von den anderen sechs am nächsten stand, auch wenn ihre Unordnung sie nicht nur einmal in den Wahnsinn getrieben hat.
Völlig in ihre Gedanken versunken schweift ihr Blick zu der Uhr an ihrem Handgelenk und mit einem Mal erinnert sie sich an das Treffen mit Marvin. Sie unterdrückt ein Fluchen, ehe sie sich eilig auf den Weg macht.


Die Luft im Raum ist mehr als nur stickig und hinzu drückt auch noch die Maske auf ihre Nase, so dass das Atmen ihr zunehmend schwerer fällt. Doch würde sie die Maske abziehen, würde alles zerstört werden, wofür sie jahrelang gekämpft hat. Also bleibt ihr keine andere Möglichkeit, als es so hinzunehmen, wie es ist, während sie sich ihren Blick durch die vielen Tische bahnt.
Immer wieder spürt sie die Blicke einiger Männer auf sich, obwohl die meisten ihren Anblick schon gewohnt sein sollten. Suchend lässt sie ihren Blick im Raum umherschweifen und hofft dabei einfach nur, dass Marvin ihr ihr Zuspätkommen einfach nicht übel nimmt. Mit einem Mal spürt sie ein schweres Gewicht auf ihren Schultern.
„Das du einmal in deinem Leben zu spät kommst, dass ich das noch erlebe", hört sie eine Stimme nahe ihrem Ohr und blickt nun vollständig zu Marvin, der einen Arm um sie gelegt hat.
„Ja ja, mach du dich nur über mich lustig", erwidert sie nur, wobei ihr das Ganze in diesem Moment mehr als unangenehm ist. „Spielen wir eine Runde?", erkundigt sie sich und will dabei eigentlich nur das Thema wechseln. Er nickt nur und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem geeigneten Platz.
Schließlich scheint er gefunden zu haben, was er sucht, und lotst sie bestimmend zum Tisch in der Mitte hin. Ihr entfährt dabei ein kleines Seufzen, als ihr klar wird, wo er hin möchte, wehrt sich aber nicht dagegen. Am mittleren Tisch sitzen nur die Besten der Besten. Nicht, dass das für Charlotte ein Problem beim Gewinnen darstellen würde, allerdings hasst sie dieses Machogehabe. Zudem kann der Hauptteil dieser Leute nur ganz schlecht gegen ein Mädchen verlieren. Als sie den Tisch erreichen, lassen sie sich auf den beiden nebeneinanderliegenden Plätzen nieder.
„Du spielst mit?", erkundigt sich der Croupier, ein Mann mittleren Alters, der gerade dabei ist, die Karten zu mischen. Dabei richtet er sich mit seinen Worten ganz klar an Marvin, auf dessen Lippen ein Lächeln auftaucht.
„Wir spielen mit", kommt Charlotte ihm zuvor und starrt den Mann wütend an. Dies ist nicht das erste Mal, dass sie in so eine Situation gerät und jedes Mal steigt ihre Wut. Mit ihren Worten hat Charlotte auch die Aufmerksamkeit der anderen Männern am Tisch auf sich gezogen, die sie argwöhnisch mustern. Der Croupier zuckt einfach nur mit den Schultern, ehe er damit beginnt, offene Karten auszuteilen, die die Reihenfolge bestimmen. Dabei lässt Charlotte ihren Blick durch die Runde gleiten, um wenigstens ein kleines Bild von ihren Gegenspielern zu bekommen. Insgesamt spielen sie nun zu sechst.
Drei ihrer Gegner sind Männer mittleren Alters, die sie mehr als herablassend ansehen. Genau diese Menschen kann Charlotte am wenigsten leiden, die sie direkt verurteilen, nur weil sie eine Frau ist.
Bei der letzten Person am Tisch bleibt sie hingegen ein bisschen länger hängen. Der junge Mann scheint kaum älter als sie zu sein und obwohl er genau das Gleiche wie alle anderen trägt, passt er hier irgendwie nicht rein. Die braunen, strubbeligen Haare lassen ihn noch jünger wirken, als er wahrscheinlich ist, und die blasse Haut erzeugt eine gewisse Unschuld. In diesem Moment hebt er den Blick und eilig wendet sie ihren ab. Meistens starren die Leute sie an und nicht sie andere Leute, dementsprechend unangenehm ist es ihr nun. Doch irgendwas hat er, was ihren Blick anzuziehen scheint.
Nachdem nun bestimmt worden ist, wer Dealer ist, beginnt der Croupier damit, die Karten auszuteilen, und währenddessen starrt Charlotte stur auf die Mitte des Tisches. Während der vier Wettrunden führen die Männer an ihrem Tisch angeregte Gespräche über irgendwelche Nichtigkeiten. Marvin, Charlotte, sowie der Unbekannte beteiligen sich an diesen nicht, sondern lassen das Ganze still über sich übergehen. Im Laufe der Gespräche kann Charlotte nicht verhindern, dass ihre Abscheu gegenüber ihren drei Gegenspielern nur noch weiter steigt.
„Nun bin ich doch einmal gespannt, wie ihr das überbieten wollt", meint schließlich der erste der drei, als seine Karten offen vor sich auslegt und somit ein Drilling von neunen hat. In den Gesichtern der anderen zwei kann Charlotte sofort erkennen, dass sie den Drilling nicht überbieten können.
„Tja, ich kann es aber", meint nun Marvin zum ersten Mal, als es an ihm ist, seine Karten offen auszulegen. Bei dem Anblick seiner einfachen Straße taucht ein Lächeln auf ihren Lippen auf. Wortlos legt nun auch Charlotte ihre Karten offen hin und bei dem Anblick ihres Straight Flush reißen ihre Mitspieler die Augen auf. Nur der Unbekannte, der immer noch kein Wort gesagt hat, blickt die Karten teilnahmslos an, als wäre das gar nichts. Auffordernd verschränkt Charlotte die Arme vor der Brust, sie nun noch zu schlagen, würde an ein Wunder grenzen.
„Du bist an der Reihe", wird der letzte am Tisch von Marvin aufgefordert. Während der Braunhaarige seine Karten vor sich auf den Tisch legt, hebt er seinen Blick und sieht direkt zu Charlotte. Diese starrt aber mehr als überrascht den Royal Flush an, der nun dort auf dem Tisch liegt, und kann nicht glauben, was passiert ist.
Bei ihrem Anblick taucht ein Grinsen auf den Lippen des Unbekannten auf und in diesem Moment verliert er jegliche Sympathiepunkte, die er je bei ihr gehabt hat. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, räumt sie ihre Sachen zusammen und steht auf. Während sie sich immer weiter vom Tisch entfernt, lauscht sie den Gesprächen am mittleren Tisch.
„Super gemacht. Du hast es dieser eingebildeten Zicke gezeigt", hört sie einen der unfreundlichen Mitspieler sagen, scheinbar redet er mit dem Unbekannten. Eigentlich rechnet sie nun mit einer ähnlichen Antwort, doch was sie nun hört, lässt sie innehalten.
„Sie ist immer noch sehr viel besser als du. Ich habe nur reines Glück gehabt." Bei dem Klang seiner Stimme läuft ihr ein Schauer über den Rücken und am liebsten würde sie sich nun umdrehen, um mehr über ihn zu erfahren. Doch beherrscht bleibt sie stehen und setzt sich nach einigen Sekunden wieder in Bewegung. Wer wäre sie denn, wenn sie das tun würde? Sie ist Charlotte Godwins, niemand anderes. Ihre Füße tragen sie fast schon automatisch zu dem Tresen, der am Rande des Raumes steht.
„Irgendwas mit Alkohol", bestellt sie beim Barkeeper, während sie sich auf einen der Hocker niederlässt. Dabei verfolgt sie mit ihren Augen, wie der Barkeeper ihr ein Getränk zusammenmischt, um ihren Blick bloß nicht durch den Raum schweifen zu lassen. Denn dann würde sie garantiert wieder bei dem Unbekannten hängen bleiben und genau diesen will sie gerade einfach nur noch vergessen.
„Dein Lieblingsgetränk", meint der Barkeeper und schiebt ihr ein Glas hinüber. Dankend nimmt sie es an und trinkt einen kleinen Schluck. Mittlerweile kennt er sie so genau, um zu wissen, wie viel Alkohol genug ist, denn im Gegensatz zu den meisten Menschen reicht schon nur ein bisschen, um sie herumtorkeln zu lassen.
„Wenn du willst, kann ich dir seine Nummer besorgen, damit er dir Nachhilfe gibt", schlägt Marvin vor, als er sich neben ihr niedergelassen hat. Sie verdreht dabei einfach nur die Augen und bereut es mittlerweile, dieses Treffen nicht einfach abgesagt zu haben, statt herzukommen. Erst macht er sich über ihr Zuspätkommen lustig, dann verliert sie auch noch und wieder macht er sich darüber lustig.
„Wenn du gegen mich gewinnst, darfst du mir Nachhilfe geben. Doch vorher will ich kein Wort hören", erwidert sie, ehe sie noch einen Schluck ihres Getränkes nimmt. Zwar hat er sie schon einmal geschlagen, doch dass ist mittlerweile Jahre her. Jedes andere Mal darauf hat sie gewonnen. Aber hätte er damals nicht gewonnen, hätten die beiden wahrscheinlich gar nicht miteinander geredet und wären nie so gute Freunde geworden.
„Ist ja gut, ich bin ja schon still." Abwehrend hebt Marvin die Hände und schenkt ihr ein Lächeln.
„Kennst du ihn?", entweicht Charlotte die Frage nach einigen Sekunden Schweigen, bevor sie es verhindern kann. Obwohl sie es eigentlich nicht möchte, interessiert die Antwort sie mehr als es eigentlich sollte.
„Nein, ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Allerdings wollte ich dir gerade die gleiche Frage stellen, da er dich fast durchgehend anguckt", erwidert Marvin. Da er seitlich zu ihr sitzt, wandert sein Blick zwischen Charlotte und dem Raum immer hin und her. Überrascht wendet sie sich ihrem besten Freund zu und hebt die Augenbrauen hoch. Aber bevor sie ein Wort sagen kann, beginnt ein Handy zu klingeln und Marvin holt seines hervor. Er wirft einen kurzen Blick aufs Handy und seufzt auf.
„Es tut mir leid. Aber der Anruf ist wichtig und ich weiß nicht, wann dieser verdammte Typ noch einmal erreichbar ist", entschuldigt er sich bei Charlotte und diese nickt einfach. Mit einem schnellen Danke steht er auf und verschwindet durch eine Tür in den Nebenraum. Wahrscheinlich geht es bei diesem Telefonat um irgendwelche Geschäfte. Schon öfter ist es passiert, dass sie ihre Treffen unterbrechen mussten, weil Marvin sich um gewisse Sachen kümmern musste.
Trotzdem hat Charlotte es bis jetzt noch nicht bereut, ihren Vater zu beten, Marvin die Aufsicht des Kasinos zu übertragen. Für ihren Vater ist dies kein sonderlich großes Problem gewesen, schließlich besitzt ihre Familie den Hauptteil aller legalen und illegalen Kasinos. Das wissen aber nur die wenigsten, für alle anderen kommt der Reichtum der Godwins aus dem Steinbau, wo sie die führende Firma sind.
„Hallo Charlotte", wird sie mit einem Mal angesprochen und aus ihren Gedanken gerissen. Erschrocken blickt sie zur Seite und überlegt fieberhaft, wer herausgefunden haben könnte, wer sie in Wirklichkeit ist. Sie hat es rein niemanden hier erzählt, nicht einmal Marvin, was immer wieder zum Streitpunkt zwischen ihnen beiden wird. Als sie aber das Gesicht neben sich erkennt, weiß sie nicht, ob sie erleichtert oder abweisend sein soll.
Denn niemand Geringeres als Eadlyn sitzt neben ihr, ohne jegliche Maske. Somit ist es auch nicht erstaunlich, dass die meisten Besucher des Kasinos zu ihnen sehen und am liebsten würde Charlotte nun im Boden versinken.
„Nenn mich hier verdammt nochmal nicht so", zischt sie ihrer alten Freundin zu und spürt, wie sich ihre Wangen rot färben. Um das unangenehme Gefühl zu vertreiben, greift sie noch einmal zu ihrem Getränk, das sie danach leer auf der Theke abstellt. „Noch eins", sagt sie nun lauter an den Barkeeper gerichtet, der so eine Trinklust von ihr gar nicht gewohnt ist.
„Du trinkst Alkohol? Früher ist dir doch richtig schnell davon übel geworden. Sicher, dass das gut ist?" Die Sorge in Eadlyns Stimme versucht Charlotte so gut wie möglich zu ignorieren, ehe sie über ihre nächsten Worte nachdenkt.
„Es ist total egal, was früher gewesen ist. Deswegen sollten wir dieses Gespräch nun auch eigentlich gar nicht führen, da wir nur Fremde sind. Ist das klar, Cherleton?" Wütend mustert Charlotte ihre alte Freundin und um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, betont sie vor allem Eadlyns Nachname.
„Super, dass du es ansprichst, denn genau darüber wollte ich mit dir reden", fährt Eadlyn fort, als hätte Charlotte nicht gerade gesagt, dass sie nicht reden will. „Als wir noch Freunde gewesen sind, ist vieles sehr viel schöner gewesen und ich würde mich freuen, wenn wir das wieder sein könnten, also Freunde meine ich. Ich vermisse schließlich die alten Zeiten." Bei Eadlyns Worten hebt Charlotte nur die Augenbrauen hoch und kann nicht fassen, was ihre alte Freundin da gerade sagt.
Alte Zeiten vermissen, wieder so wie früher, wieder Freunde sein. Diese Worte schwirren ihr die ganze Zeit im Kopf herum und sie unterdrückt ein lautes Auflachen. In ihren Gedanken fühlt sie sich auf einmal drei Jahre zurückversetzt. Das kleine Mädchen, dass sich hinter ihren Freunden versteckt hat, taucht vor ihrem inneren Auge auf. Das Mädchen, das niemand ernst genommen hat. Das Mädchen, das nur davon geträumt hat, so zu sein, wie Charlotte nun ist.
„Du willst, dass alles so wie früher ist? Dafür kommst du ein bisschen zu spät, meinst du nicht auch? Unsere Freundschaft ist vor drei Jahren zerbrochen, als du gegangen bist. Wegen dir befinden wir uns nun in dieser Lage. Doch vor allem ist nicht alles damals schöner gewesen. Unsere Freundschaft ist auf jeden Fall kein Fehler gewesen, doch wir alle haben uns weiterentwickelt und nun wäre es einer. Aus diesem Grund werde ich dich also enttäuschen müssen." Während Charlotte spricht, umgreift sie ihr Glas fest und ist erstaunt darüber, wie schnell der Alkohol doch seine Wirkung entfaltet hat. Normalerweise hätte sie noch nicht einmal daran gedacht, so mit jemanden umzugehen, und nun scheint die Wut über Eadlyns Verhalten in ihr überhand zu nehmen. „Tut mir leid, aber ich denke, ich sollte nun noch eine Runde spielen", bringt sie einige Sekunden später hervor, wobei Eadlyn immer noch die Worte zu fehlen scheinen.
Eilig trinkt sie nun ihr zweites Getränk in einem Zug aus, doch der bittere Geschmack des Alkohols bleibt aus. Das kann nur bedeuten, dass der Barkeeper sein Versprechen, ihr nie zwei alkoholische Getränke zu geben, gehalten hat und in diesem Momente könnte sie ihm nicht dankbarer sein. Um das Gespräch nun wirklich für beendet zu erklären, steht sie auf und bahnt sie ihren Weg zu den Tischen, einfach nur weg von Eadlyn. Während der ersten paar Schritte wankt sie noch leicht, doch schon in der Mitte des Raumes schafft sie es wieder, eine gerade Linie zu gehen.
Dabei fällt ihr Blick auf zwei junge Männer, die einen Tisch am Rande des Raumes für sich beanspruchen und miteinander spielen. Interessiert, wieso Marvin mit dem Unbekannten von eben so hitzig diskutiert, geht sie auf die beiden zu und lässt sich schließlich neben ihrem besten Freund nieder. Ein Blick auf den Tisch genügt, um festzustellen, dass die beiden miteinander pokern, doch keiner der beiden schenkt dem Spiel große Aufmerksamkeit.
„Worüber redet ihr genau?", erkundigt sie sich bei den beiden, die sie überrascht anstarren.
„Über dich", antwortet Marvin ihr nach einigen Sekunden und der Unbekannte gibt ihm nickend Recht.
„Um genau zu sein, über deine fantastischen Pokerkünste. Eben habe ich wirklich nur riesiges Glück gehabt, sonst hätte ich garantiert gegen dich verloren", fügt der Unbekannte noch hinzu und bei dem Klang seiner Stimme kann sie die Gänsehaut auf ihren Armen nicht verhindern. Als wäre er ein Magnet, zieht er ihren Blick auf sich und immer wieder muss sie sich ermahnen, auch einmal zu Marvin zu schauen.
„Wie heißt du eigentlich?", versucht sie unauffällig, ein bisschen mehr über ihn zu erfahren.
„Die meisten nennen mich Gabriel", stellt er sich ihnen vor und Marvin bricht in Gelächter aus.
„Warte ... Deine Eltern haben dich ... Gabriel genannt? Gabriel, wie der ... Erzengel", bringt er Stück für Stück hervor, doch wird immer wieder von einer erneuten Lachsalve unterbrochen. Dabei sehen sowohl Gabriel, als auch Charlotte ihn verwirrt an, die nicht nachvollziehen kann, was er daran so witzig findet.
„Ja?" Bei Gabriels Antwort ist Charlotte sich nicht sicher, ob es nicht doch eher eine Frage ist und nach einigen Sekunden hat Marvin sich wieder beruhigt, so dass er sich die Lachtränen aus den Augen wischt.
„Erinnere doch mal an unser erstes Treffen." Bei seinen Worten stupst er Charlotte an, die daraufhin angestrengt nachdenkt. Es dauert einige Minuten, doch schließlich geht ihr wirklich ein Licht auf und sie versteht, was Marvin an der ganzen Sache so witzig gefunden hat.
„Marvin hat mich bei unserem ersten Treffen besiegt, doch danach nie wieder. Generell gibt es wenige, die mit mir mithalten können, und irgendwann hat Marvin gemeint, dass nur einer der Erzengel in der Lage wäre, mich zu schlagen", erklärt sie Gabriel und bei dieser Erinnerung taucht ein Lächeln auf ihren Lippen auf. Auch seine Mundwinkel bewegen sich nach oben, was das Lächeln von Charlotte nur noch breiter werden lässt. Erst als ihr das wirklich bewusst wird, schüttelt sie den Kopf und kann ihr eigenes Verhalten nicht mehr verstehen.
„Leute, tut mir leid, aber ich sollte nun gehen", sagt sie abrupt. Ohne auf eine Antwort zu warten, steht sie auf und verlässt schnellen Schritten das Kasino. Gabriel hat eine Wirkung auf sie, doch bis jetzt ist sie sich einfach noch nicht sicher, ob diese Wirkung positiv oder negativ ist.

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