8. Kapitel

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Eadlyn Cherleton

Nachdem Eadlyn schon das Gespräch mit ihren Freunden mitangehört hat, ist ihr schon klar gewesen, dass sie keine sonderlich großen Erwartungen hegen sollte. Trotzdem ist sie mehr als überrascht und vielleicht auch ein bisschen enttäuscht über die Abneigung ihrer Freunde ihr gegenüber. 

Gut, natürlich ist sie nicht blöd und ihr ist vollkommen klar, dass vor allem Alexandra versucht, die anderen gegen sie aufzuhetzen. Schon früher verlief ihre Freundschaft auf einem sehr schmalen Grat, wo meistens nur ein falsches Wort zum Streit gereicht hat. Doch nun sind sie nicht mehr befreundet und haben auch nicht mehr das Gefühl, zwischen einander Frieden zu wahren. 

Aber vor allem haben ihre eigenen Worte Eadlyn überrascht, die sie Alexandra letztens an den Kopf geworfen hat. Selbst, wenn Alexandra schlecht über sie geredet hat, hat es ihr immer noch nicht bereut, so mit ihr zu reden. Fast hätte sie sich sogar entschuldigt, doch in diesem Moment ist ihr Stolz ein bisschen zu groß gewesen. 

Während sie durch die Gänge geht, lässt sie ihren Blick an den Wänden entlanggleiten. In Amerika ist das Gebäude keineswegs so interessant gestaltet gewesen und noch immer wird sie schier übermannt von den vielen Details, die die Gänge säumen. 

So langsam fällt ihr das Orientieren sogar immer leichter, trotzdem braucht sie einige Sekunden um zu erkennen, dass sie sich in der Nähe der Bibliothek befindet. Dabei fällt ihr Blick auf eine Person, die gerade aus der Bibliothek kommt und ihre Nase in einem Buch vergraben hat. 

„Charlotte?", spricht Eadlyn sie an und die Angesprochene zuckt erschrocken zusammen. Als die beiden stehen bleiben und Charlotte sich ihr zuwendet, entspannt sie ihr Blick zumindest ein bisschen. „Können wir kurz reden?", beginnt Eadlyn das Gespräch, auch wenn ihr klar ist, dass sie dann höchstwahrscheinlich zu spät in den Unterricht kommen wird. Doch in diesem Moment erscheint ihr das Gespräch mit Charlotte wichtiger als jede Programmiersprache. 

„Ich werde dich vorher doch sowieso nicht los, oder?" Mit einem Seufzen klappt Charlotte das Buch zu und markiert ihre aktuelle Stelle dabei mit einem Zettel, der schon mehr als zerknittert ist. 

„Ich würde gerne noch einmal mit dir über gestern sprechen, beziehungsweise unser Gespräch von gestern fortführen", eröffnet Eadlyn ihr und Charlotte verdreht die Augen. 

„Worüber möchtest du denn bitte schön noch reden? Ich habe gestern alles gesagt, was ich sagen wollte." Um ihre Desinteresse an diesem Thema zu verdeutlichen ist Charlotte schon wieder dabei ihr Buch aufzuklappen, doch Eadlyn verhindert dies, als sie ihre Hand auf das Buch legt. 

„Aber ich habe noch nicht alles gesagt", widerspricht sie ihr, doch wieder kann Charlotte nur die Augen verdrehen. „Du hast gesagt, unsere Freundschaft wäre ein Fehler gewesen. Empfindest du wirklich so?" Gespannt mustert Eadlyn ihre alte Freundin und kann den Unmut über deren gestrigen Worte dabei nicht verbergen. 

Die ganze Nacht hat ihr Gespräch sie wachgehalten und immer wieder ist sie Charlottes Worte durchgegangen. Kann es vielleicht wirklich sein, dass sie die einzige von ihnen sieben ist, die ihre Freundschaft als etwas Gutes betrachtet? Sind die anderen mittlerweile auch so von dem Hass ihrer Eltern zerfressen, dass sie ihr damaliges Verhalten nicht mehr nachvollziehen können? 

„Nein, so habe ich es nicht gesagt. Unsere Freundschaft damals ist eine meiner schönsten Erinnerungen gewesen. Aber jetzt wäre es wahrscheinlich ein Fehler, schließlich haben wir uns alle weiterentwickelt. Ich habe kaum noch eine Gemeinsamkeit mit den anderen. Heute würde sie einfach nicht mehr funktionieren", erklärt Charlotte ihre Worte. Überrascht blickt Eadlyn sie an, unsicher, ob sie sich freuen soll, weil Charlotte ihre Freundschaft auch in guten Erinnerungen gehalten hat, oder eher traurig sein soll, dass sie sie heute als Fehler bezeichnen würde. 

„Aber wieso? Damals haben wir schließlich auch nur wenige Gemeinsamkeiten gehabt und trotzdem hat es funktioniert. Wir sind einfach offen gegenüber den Interessen der anderen gewesen und haben sie ausprobiert. Wieso soll das nicht heute auch funktionieren?", versucht Eadlyn, gegen zu argumentieren und für einen kurzen Moment keimt Hoffnung in ihr auf. Doch dieser Keim wird direkt wieder erschlagen, als Charlotte nur den Kopf schüttelt. 

„Nein. Du solltest es endlich einsehen, dass diese letzten drei Jahre an keinem von uns spurlos vorbeigegangen sind. Für dich mag es so wirken, als könnte man einfach dort fortfahren, wo wir vor drei Jahren hängengeblieben sind, doch für uns andere ist das nicht mehr möglich. 

Wir sind dabei gewesen, als unsere Freundschaft in die Brüche gegangen ist. Wir haben uns täglich gesehen und doch keine Worte miteinander gewechselt. Ich schätze, das ist der Moment gewesen, wo uns allen klar geworden ist, dass es sich wahrscheinlich nicht lohnt, für diese Freundschaft zu kämpfen, die so schnell zerbricht. 

Könntest du die Zeit zurückdrehen, sähe das Ganze wahrscheinlich noch einmal anders aus, aber das kannst du nicht. Niemand kann das und das sollten wir alle akzeptieren." Zum Schluss wird Charlottes Stimme immer leiser, bis es nur noch ein leises Flüstern ist, gerade so laut, dass Eadlyn sie verstehen kann. Doch mit ihren Worten hat Charlotte genau den Nagel auf den Kopf getroffen. 

Denn selbst, wenn Eadlyn es nicht wahrhaben möchte, so ist die Zeit in den letzten drei Jahren vergangen und nicht einfach stehen geblieben, nur weil sie auf einem anderen Kontinent gewesen ist. Doch diese drei Jahre erscheinen ihr nicht wie ihr Leben, sondern wie die einer anderen Person. 

In diesen drei Jahren hat absolut nichts an sie erinnert. Sie ist nicht von den Freunden umgeben gewesen, die sie liebt. Sie ist nicht an dem Ort gewesen, wo sie sich zu Hause fühlt. Nein, diese drei Jahre gehören nicht zu ihr. Aber hier einfach so weitermachen wie vorher, scheint auch nicht zu gehen. 

Am liebsten würde sie sich nun die Haare raufen und mit den Zähnen knirschen, doch beides hat ihre Mutter ihr schon sehr früh abgewöhnt. Ihre Mutter, die weder in den drei Jahren bei ihr gewesen ist, noch nun an ihrer Seite stehen wird. Stattdessen werden sie nun für immer voneinander getrennt sein, in zwei unterschiedlichen Welten, bis die Zeit auch Eadlyn einholt. 

In ihrem Kopf tauchen Bilder auf und verzweifelt schließt Eadlyn die Augen. Bilder, die sie in den drei Jahren auf der anderen Seite der Welt wunderbar verdrängen konnte. Doch hier kann sie es nicht mehr, hier gibt es zu viele Quellen, die mit diesen Bildern verbunden sind. 

„Eadlyn, alles in Ordnung?", erkundigt Charlotte sich und sofern es ihr auch möglich ist, klingt ihre Stimme leicht besorgt. Besorgt um Eadlyn. Überrascht sieht Eadlyn ihre alte Freundin an. Zwar sagt sie die ganze Zeit, dass ihre Freundschaft vorbei ist und man die Zeit nicht zurückdrehen kann, doch nun klingt sie besorgt wegen jemandem, der ihr eigentlich egal sein sollte. Dieser kleine Unterton in Charlottes Stimme entfacht in Eadlyn einen kleinen Funken der Hoffnung. Hoffnung, dass sie irgendwann doch wieder in ihr Leben und zu sich selbst finden kann. Hoffnung, irgendwann alles zu vergessen, was sie vergessen möchte. 

„Ja, ich glaube schon, dass es mir gut geht", antwortet Eadlyn ihr und klingt dabei erstaunlich glücklich. 

„Gut, dann würde ich mich nun auf den Weg in den Unterricht machen", erwidert Charlotte eilig. Wahrscheinlich hat sie Angst, Eadlyn könne noch einmal das Gespräch von vorne beginnen. Doch diese ist in diesem Moment viel zu berauscht von der kleinen Hoffnung, die sich in ihr ausbreitet, als zu bemerken, wie Charlotte sich schnell aus dem Staub macht. Schließlich hat Eadlyn immer noch ein leichtes Lächeln auf den Lippen, als sie sich auf den Weg in ihren nächsten Unterricht macht.


Ihre Euphorie verschwindet auch nicht, als sie einige Stunden später ihren nächsten Klassenraum betritt und feststellt, dass sie die nächste Stunde nun mit Alexandra hat. Neben dieser sitzt ein Mädchen, das Eadlyn leicht bekannt vorkommt, bis ihr auffällt, dass sie die beiden in letzter Zeit schon öfter zusammen gesehen hat.

Eadlyn bleibt einige Sekunden im Türrahmen stehen, die Alexandra braucht, sie zu entdecken. Um ihr zu zeigen, dass dies hier ihr Gebiet ist, lehnt Alexandra sich entspannt in ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Eadlyn erwidert den Blick wütend und reckt ihr Kinn ein bisschen mehr in die Höhe. Ganz sicher wird sie sich nicht von Alexandra oder sonst jemand anderen unterkriegen lassen.

Entschlossen lässt Eadlyn ihren Blick durch den Raum schweifen und schließlich entdeckt sie sogar einen freien Platz in dem sonst sehr vollen Klassenzimmer. Zielstrebig geht sie auf diesen zu und lässt sich dort nieder. Dabei entgeht ihr auch nicht, wie der Junge, der nun neben ihr sitzt, noch ein Stückchen weiter von ihr wegrutscht und mit seinem Kumpel anfängt, zu tuscheln.

Da Eadlyn auch nicht dumm ist, ist ihr natürlich auch vollkommen klar, dass die beiden über sie reden, schließlich sehen sie immer wieder zu ihr. Allerdings sprechen sie so leise, dass sie kein Wort verstehen kann und nun ihre Kräfte zu benutzen, wäre nicht sonderlich nötig.

Sie kann sich auch so denken, worüber die beiden reden. Sie machen sich über sie lustig, reden schlecht über sie und fragen sich, wie sie noch leben kann. Auch die restlichen Schüler im Raum haben mittlerweile mit dem Tuscheln angefangen und die meisten haben wahrscheinlich auch kein anderes Thema als die zwei Jungen neben ihr.

Als Eadlyns Blick auf den von Alexandra trifft, verziehen sich Alexandras Lippen zu einem hinterhältigen Lächeln, wobei sie ganz klar und deutlich zeigt, dass ihr auch klar ist, worüber alle anderen reden. Sie und ihre Sitznachbarin sind hingegen still, was Eadlyn wirklich mehr als erstaunt.

Die ganzen Tuscheleien enden erst, als der Lehrer den Raum betritt und lautstark um Ruhe bitte, wofür Eadlyn ihm mehr als dankbar ist. Auch als er mit dem Unterricht beginnt, scheint wirklich erst einmal Ruhe zu sein, doch diese Ruhe dauert nur wenige Minuten, ehe die nächsten Tuscheleien schon wieder beginnen. Der Lehrer lässt sich dabei nicht aus der Ruhe bringen und arbeitet seinen Lehrstoff thematisch ab.

Als Eadlyn schließlich sogar etwas an der Schulte berührt, zuckt sie erschrocken zusammen. Nach wenigen Sekunden dreht sie sich zu der Person hinter ihr um, die ihr auf die Schulter getippt hat, und diese überreicht ihr einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Wortlos nimmt Eadlyn ihn entgegen und wendet sich wieder nach vorne. Trotzdem fällt ihr Blick immer auf das kleine Stück Papier in ihrer Hand, auf dem groß und in schönster Schrift ihr Name prangt.

Ohne zu zögern, lässt sie den Zettel in ihrer Hosentasche verschwinden. Vielleicht öffnet sie ihn später, vielleicht auch nicht, schließlich ist ihr vollkommen klar, was auf diesem Zettel steht. Wahrscheinlich auch das gleiche wie auf den hundert anderen, die sie in den letzten paar Tagen schon bekommen hat. Dabei ist sie mehr als überrascht, wie viel Hass ihr ihre englischen Mitschüler entgegenbringen.

In Amerika ist es keinesfalls so schlimm gewesen wie hier, doch vielleicht liegt es einfach daran, dass sie selber Engländerin ist und ihre Mitschüler sich verraten fühlen. Aber im Endeffekt hat sie keine Ahnung. Während der nächsten paar Minuten nimmt das Tuscheln immer weiter an,, sodass selbst der Lehrer es nicht mehr ignorieren kann.

„Meine lieben Schüler, ich bitte sie innigst, meinem Unterricht zu folgen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, worüber sie reden, doch ich bitte sie, Eadlyn Cherleton wie eine normale Schülerin zu behandeln", greift er irgendwann laut ein. In diesem Moment ist Eadlyn sich nicht sicher, ob sie ihn mögen oder hassen soll.

Auf der einen Seite hat er sich zwar auf ihre Seite gestellt und vor ihren Mitschülern verteidigt, was bis jetzt nicht viele Lehrer gemacht hat, doch auf der anderen Seite kennt sie den Blick, mit dem er sie dabei gemustert hat. Die Verabscheuung in seinem Blick ist dabei klar und deutlich sichtbar gewesen. Zudem hat er sie mit seinen Worten wahrscheinlich nur noch mehr an den Pranger gestellt, als vorher.

„Wir sollen sie wie eine normale Schülerin behandeln?" Mit einem Mal steht ein Junge in der hintersten Reihe auf und jeder sieht ihn an. Seine laute Stimme hallt durch den ganzen Raum und er sieht den Lehrer fassungslos an. „Wissen Sie denn nicht, was mit ihr los ist? Wahrscheinlich hat sie ihre Eltern selber umgebracht." Der Hass in der Stimme des Jungen erschrickt nicht nur Eadlyn, sondern auch ihre Mitschüler.

Doch viel erschreckender ist seine Anschuldigung an Eadlyn, sie solle ihre Eltern selbst ermordet haben. Nur am Rande bekommt sie mit, wie der Lehrer den Jungen wütend zu Sir Audley schickt. Wie die anderen Schüler laut zu tuscheln anfangen und hitzig über die Worte ihres Mitschülers diskutieren. Selbst der siegessichere Blick von Alexandra entgeht ihr.

Stattdessen hallen die Worte des Jungen in ihren Ohren nach und wieder tauchen die Bilder in ihrem Kopf auf. Ein Raum blitzt auf. Er ist in Dunkelheit gebettet. Rot ist das Einzige, was sie sieht. Rot, wie die Farbe des Lieblingskleides ihrer Mutter, dass sie so gerne getragen hat und auch jetzt trägt. Rot, wie die Wut, die sich in ihren Adern ausbreitet und sie jegliche Achtung vergessen lässt. Rot, wie das Blut, dass die Wände bespritzt hat und über den Holzboden fließt. Alles ist Rot.

Irgendwo in der Ferne hört sie Schreie. Schreie voller Wut, Schmerz und Trauer. Das einzige, was sie beruhigt, ist der Geruch nach dem Parfüm ihrer Mutter. Das Parfüm, mit dem sie den Salon immer wieder eingesprüht hat und das nun jegliche andere Gerüche überdeckt. Langsam lässt Eadlyn ihren Blick an sich hinunterschweifen.

Auch sie ist rot, ganz rot, obwohl sie diese Farbe hasst. Selbst ihre Hände sind rot und erschrocken keucht sie auf. Mittlerweile ist Eadlyn vollkommen in ihrer Erinnerung gefangen und bekommt rein gar nichts mehr von ihrer Umgebung mit. Das Nächste, was nun in diesem Raum entdeckt, sind die zwei Personen vor ihr.

Sie legen auf dem Boden vor ihr und ihre Mutter umschließt fest die Hand ihres Vaters. Wüsste sie es nicht besser, könnte man denken, sie würden friedlich schlafen, doch ihre seltsamen Positionen, sowie die offenen Augen sprechen ganz klar dagegen.

„Eadlyn, könntest du mir die Lösung der Aufgabe verraten?", reißt ihr Lehrer sie aus der Erinnerung und ein bisschen verwirrt sieht sie sich im Raum um. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Langsam gleitet ihr Blick wieder zu dem Lehrer, dem wohl wirklich aufgefallen ist, dass sie mit ihren Gedanken überall ist, nur nicht im Mathematikunterricht.

Doch die Zahlen an der Tafel verschwimmen vor ihren Augen, während ihr Herz rast. So real ist ihre Erinnerung schon lange nicht mehr gewesen und es fällt ihr schwer, ihre Gedanken wirklich von ihr wegzubringen. In diesem Moment trifft sie eine Entscheidung.

„Nein, tut mir leid, aber ich muss ganz schnell was erledigen." Noch bevor irgendjemand sie aufhalten kann, krallt sie sich ihre Schulsachen und flüchtet aus dem Raum, vor den Blicken und vor den Erwartungen, die alle an sie hegen.


Sie verlangsamt ihr Tempo erst wieder, als sie das Gebäude verlässt. Mit jedem Schritt, den sie zwischen sich und andere Schüler bringt, wird sie ruhiger, das Atmen fällt ihr immer besser, bis sie sich schließlich einen kleinen Steinpavillon erreicht.

Dieser ist gut versteckt von einigen Büschen, sodass man von dem Schloss keinen Blick auf ihn werfen kann. Vorsichtig lässt sie sich auf der Bank in diesem nieder und lässt ihre Sachen auf den Boden fallen, wo sie ein lautes Krachen erzeugen. Doch das ist ihr im Moment egal. Noch einmal lässt sie ihren Blick über den Park schweifen, doch weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.

Erst, als sie einen Tropfen auf ihrer Hand spürt, bemerkt sie die Tränen, die still und heimlich über ihre Wangen rollen. Doch nun nimmt sie sich die Freiheit, ihre Tränen fließen zu lassen. Früher wäre sie nie auch nur auf die Idee gekommen, aber mittlerweile ist sie ganz unten angekommen. Schließlich verebbt der Tränenstrom auf ihren Wangen und sie tastet in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.

Doch stattdessen zieht sie den kleinen Zettel hervor, den sie gerade zugesteckt bekommen hat. Obwohl es wahrscheinlich dumm ist und nicht sonderlich hilfreich, wieder auf die Beine zu kommen, beginnt sie damit, den Zettel auseinanderzufalten. Schließlich sind die Worte im Inneren lesbar, doch trotzdem braucht Eadlyn ein paar Sekunden, um sich zu konzentrieren und diese zu lesen.

„Teufel", steht dort genau so schön geschrieben, wie ihr Name auf der Außenseite. Als hätte sie sich an dem Zettel verbrannt, lässt sie ihn zu Boden fallen. Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass jemand sie beleidigt, doch bis jetzt ist niemand so weit gegangen. In dieser Gesellschaft ist es schon fast ein Verbrechen, jemand als Teufel oder Dämon zu bezeichnen.

Wieder denkt sie an die Tuscheleien der anderen und die Worte ihres Mitschülers gerade. Während sie immer wieder in ihren Ohren widerhallen, fühlt es sich an, als würde ihr Herz unter Pfeilbeschuss stehen und jeder Pfeil würde sie treffen. Wie eine Ehebrecherin, die man früher mit Steinen beworfen hat. Wie ein Mörder, der ausgepeitscht wird. Wahrscheinlich hätte irgendjemand sie aus Wut auch schon umgebracht, wäre Töten nicht strengsten untersagt.

„Ein Mörder würde noch nicht einmal ein Platz in der Hölle verdienen", hört sie die Worte ihrer Mutter, die sie mal bei einer Rede sagte. Bei der Rede, wo es um den rätselhaften Tod eines jungen Mädchens ging, dass einen engen Kontakt zu den Cherletons gehabt hat. Eadlyns Schmerzen nehmen ins Unermessliche zu, als sie wieder an diesen Tag zurückdenkt.

Nun hassen die Menschen sie, wegen einer Sünde, die ihr unfreiwillig in die Wiege gelegt worden ist. Doch würden sie die Wahrheit über sie wissen, würden sie sie verabscheuen. Selbst ihre alten Freunde, ja sogar Dante, könnten nicht einmal mehr mit ihr sprechen, weil sie ein Monster ist. Ein Monster, das das Leben nicht verdient, im Gegensatz zu anderen Menschen. Ein Monster, das niemand lieben kann.

Wieder kämpft sich eine Erinnerung an die Oberfläche, die sie schon sehr lange verdrängt und die noch länger her ist. Das Zwitschern der Vögel ertönt in ihren Ohren und die wenigen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach der Bäume dringen, brennen auf ihrer Haut.

Diese Stimmung hat rein gar nichts damit zu tun, was jetzt gleich nun passieren wird. Es hat keinerlei Anzeichen gegeben, nichts, was sie hätte vorbereiten können. Vorbereiten, auf die Personen, die mit einem Mal aus dem umliegenden Gebüsch gestürmt kommen und sich auf die beiden Mädchen werfen, die einfach nur spazieren gegangen sind. In dem einen Moment haben sie miteinander gescherzt und im nächsten haben sie sich zu Tode gefürchtet.

Dabei sind sie noch nicht einmal auffällig gewesen. Die Kleidung aus keinem teueren Stoff und auch kein kostbarer Schmuck. Noch immer ist es Eadlyn ein Rätsel, was damals genau passiert ist. Noch immer verflucht sie den Tag, der nichts anderes als Unglück über ihr Leben gebracht hat.

Noch immer wünscht sie sich nur das Schlechteste für die Männer, die sie damals nicht nur Furcht gelehrt haben, sondern ihr auch ihre beste Freundin, ihre Seelenverwandte genommen haben. Zumindest teilweise. Der wirkliche Schuldige lebt immer noch und irgendwann wird er für alles bezahlen. Für alles, was er der Familie Cherleton angetan hat.

Eadlyns Hände sind mittlerweile zu Fäusten geballt und der Rand ihres Sichtfeldes ist in ein sanftes Rot getaucht, dass immer kräftiger wird. Eigentlich sollte sie dem Rot mehr Beachtung schenken. Ihr Warnschuss, dass es nun an der Zeit ist. Zeit, tief durchzuatmen und ruhiger zu werden. Doch in diesem Moment blendet sie das Rot einfach aus.

Stattdessen wird es immer gestärkt, genährt von ihrem Hass, auf die Männer von damals, auf den wahren Schuldigen und auf den Rest der Welt. Erst, als das Rot schon die Hälfte ihres Sichtfeldes bedeckt, bemerkt sie es. So weit ist es schon lange nicht mehr gekommen, bis jetzt hat sie sich immer gut unter Kontrolle gehabt.

Doch nun reichen schon wieder wenige Tage, ein Besuch von ihrem Peiniger und ein Wort auf einem Zettel, um alles zunichtezumachen, wofür sie die letzten drei Jahre gekämpft hat. Jegliche Entwicklung, die sie in den letzten drei Jahren vollzogen hat. Langsam konzentriert sie sich wieder auf ihre Umgebung. Sie atmet kontrolliert ein und aus.

Stück für Stück geht das Rot wieder weg. Gleichzeitig zieht sich die Wut in ihrem Körper wieder an die dunkelste Stelle ihrer Seele zurück. Die Stelle, an die Eadlyn sie vor drei Jahren verbannt hat. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde eine Leere übrigbleiben. Eine Leere, die Eadlyn nicht in der Lage ist, zu füllen. Ihr Blick fällt auf den Boden, der mit ihren Sachen übersät ist.

Um wenigstens etwas zu machen, beginnt sie damit, alles aufzusammeln, zu sortieren und danach fein säuberlich in ihren Rucksack zu packen, den sie sich eben einfach nur über die Schulter geworfen hat. Doch scheinbar sind es nicht genug Sachen gewesen, als das es länger dauern könnte, sodass schließlich dort nur noch ein kleiner Zettel liegt.

Vorsichtig hebt Eadlyn ihn auf, als wäre er giftig. In diesem Moment fragt sie sich mal wieder, wofür ihre magische Kraft eigentlich nützlich ist. Alexandra könnte diesen Zettel nun einfach in Flammen aufgehen lassen oder Nikolai in den Wind werfen und einfach irgendwohin wehen kann.

Da sie aber über solche Fähigkeiten nicht verfügt, knüllt sie den Zettel einfach nur zusammen und stopft ihn sich in die Hosentasche. Dabei schwört sie sich, ihn so schnell wie nur möglich wieder loszuwerden. Ihr ist vollkommen klar, dass sie sich so eine Schwäche wie heute nicht noch einmal erlauben darf.

Sollte sie nicht angemessen auf solche Anschuldigungen reagieren, könnte irgendjemand ihrem Geheimnis viel zu nahe kommen. Und damit meint sie garantiert nicht den Part, dass sie immer noch bei sich zu Hause gewesen ist, als ihre Eltern ermordet worden sind, statt in Amerika, wie man es später der Allgemeinheit erzählt hat. Doch auch das wäre eine Information, die mehr als nur gefährlich werden könnte.

Ihr Blick fällt auf ihr Handy, das ihr klar und deutlich anzeigt, dass sie sich in den nächsten paar Minuten auf den Weg in ihren Fähigkeitsunterricht machen sollte, doch dieser Gedanke widerstrebt ihr voll und ganz. Für den Rest des Tages kann sie auf all die verabscheuenden Blicke und das lästige Getuschel gut und gerne verzichten. Zudem kann ihr Lehrer sie in keiner Weise leiden, auch wenn ihr nicht klar ist, wieso.

Stattdessen durfte sie in ihren ersten paar Stunden in England Aufsätze schreiben und Bücher über die Kraft humanis, die Kraft der Menschen schreiben. Mittlerweile kann sie die Namen aller bedeutenden Menschen mit dieser Kraft auswendig, so wie jegliche Möglichkeiten von Anwendungen. Somit nimmt sie nicht wirklich an, dass ihr Lehrer sie heute endlich mal an die praktischen Arbeiten lässt, wofür diese fünf Stunden die Woche eigentlich da sind.

Aber wenn sie nicht kommt, wird er erstens zu Sir Audley gehen und zweitens ihr wahrscheinlich auch noch etwas anhängen, obwohl sie daran keine Schuld trägt. Mit einem Seufzen schultert sie ihren Rucksack und will sich gerade auf den Weg machen, als ein Vogel vor ihr auf dem Geländer des Pavillons landet.

Überrascht sieht sie ihn an und braucht einige Sekunden, um den Zettel an seinem Fuß zu erkennen, der ganz dünn zusammengerollt ist. Ein Lächeln erscheint auf ihren Lippen, schließlich gibt es nur eine Person, die sie kennt, die diese Art der Nachrichtenübertragung noch viel lieber nutzt, als jegliche elektronische. Vorsichtig macht sie sich daran, den Zettel an sich zu nehmen und die Nachricht zu lesen.

„Komm sofort zur Küche. D", hat irgendjemand einfach hingekritzelt, ein weiteres Indiz dafür, dass die Nachricht ganz eindeutig von Dante stammt. Als sie von dem Zettel wieder aufblickt, ist der Vogel schon wieder verschwunden. Allerdings ist sie mehr als froh über diese Nachricht, so hat sie eine Ausrede, um wenigstens einige Minuten des Fähigkeitsunterrichts zu verpassen und macht sich sofort auf den Weg.

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