Du machst mich krank

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Berlin, Alexanderplatz
19. August 2004

„Bitte Tim, sei nicht sauer", schluchzte meine Schwester auf der anderen Seite des Telefons, welches mir Marcel gerade in die Hand gedrückt hatte. Ich war natürlich nicht sauer, schließlich hatte mich ihr Anruf gerade davon abgehalten, mich umzubringen. Auch wenn das, was sie sagte, nichts Gutes war.
„Nein Emma, ich bin nicht sauer. Bitte sag es nochmal, ruhig und langsam. Ich verstehe dich kaum."
„Ja, Papa ist wieder weg. Er hat ganz viele Sachen mitgenommen. Und Mama liegt seit vorgestern im Bett und steht nicht mehr auf. Sie hat nicht mit mir geredet, sie liegt einfach nur da und guckt an die Decke."
„Okay, wo bist du jetzt?"
„Ich hab meine alte Pflegefamilie angerufen. Ich bin seit gestern dort. Tim, ich kann nicht mehr nach Hause, ich will das nicht mehr. Es tut mir leid. Du musst heim kommen, die Polizei war da und alle suchen dich."
„Ich komm, so schnell ich kann", sagte ich und beendete das Gespräch.

Ich gab Marcel sein Handy zurück und fragte: „Was ist mit dir, kommst du wieder mit nach Bielefeld?"
„Auf jeden Fall, die ganze Sache hier war ne beschissene Idee, Mann. Meine Mutter wird wieder zurück sein, ich kann bestimmt wieder nach Hause kommen. Was hat deine Schwester gesagt?"
„Erzeuger weg, Mutter liegt seit Tagen in ihrer Scheiße. Emma ist wieder bei ihren Pflegeeltern von früher".
„Fuck. Was wird mit dir, wenn wir wieder zurück sind?"
„Ich habe keine verdammte Ahnung."

Bielefeld, Tims Elternhaus
19. August 2004

Eine halbe Stunde stand ich jetzt bereits, innerlich am überkochen vor Wut und Aggression, vor der schäbigen Haustür meines Elternhauses, starrte diese an und betrachtete den abgeplatzten Lack, die Kratzer und die Spuren eines früheren Einbruchs. Ich sah mir die versiffte Fußmatte an, die vor der Tür lag, das verblasste Klingelschild, auf dem in schnörkeliger Schrift unser Familienname Wessinger stand und ließ meinen Blick über den ungepflegten Vorgarten schweifen. Alles sah so ekelhaft heruntergekommen aus. Es passte eben genau zu den Menschen, die dieses Haus bewohnten.
Wir waren schwarz mit der Bahn zurück nach Hause gefahren und Marcel war gleich, nachdem wir angekommen waren, heim gegangen, wo er von beiden Elternteilen herzlich begrüßt wurde. Seine Mutter war schon seit einigen Tagen wieder daheim und hatte seinem Vater so stark ins Gewissen geredet, dass dieser nicht mal mehr sauer wegen Marcels Verschwinden war. Die beiden waren einfach nur besorgt und überglücklich, dass ihr Sohn wieder da war.

Während ich vor unserem Haus stand und versuchte, meine Wut in den Griff zu bekommen, um mich dem zu stellen, was auch immer mich da drin erwarten würde, fragte ich mich, ob meine Eltern mich wohl vermisst hatten. Ob es meinem Vater leid tat, dass er mich rausgeschmissen hat. Ob meine Mutter überhaupt gemerkt hat, wie lange ich weg war. Was hatte ich in meinem vorherigen Leben verbrochen, um das Alles zu verdienen? Warum musste mich dieses Schicksal treffen? Warum konnte ich keine normale Familie haben? Warum konnte mich niemand lieben?
Es vergingen nochmal zwanzig Minuten, dann schloss ich die Tür auf.

Das ganze Haus war abgedunkelt worden und es war totenstill. Im Flur lagen Jacken und Schuhe auf dem Boden, Schubladen von der Kommode standen offen, der Spiegel war zerbrochen. Als ich weiter ins Wohnzimmer ging, sah ich, dass auch dort sämtliche Schränke durchwühlt worden waren. Ich schätzte, dass mein Vater das Haus so verlassen hatte, als er seinen Kram packte und abgehauen war.
In der Küche stand ungefähr das ganze Geschirr, das wir besaßen, dreckig und versifft herum. Fliegen flogen über manchen Gefäßen, in denen vergammeltes Essen klebte. Auf dem Küchentisch stand der eingeschaltete Laptop meiner Mutter und daneben lagen jede Menge ausgedruckte Blätter. Außerdem befanden sich auf dem Tisch mehrere Gläser und leere Schnaps- und Weinflaschen, sowie ein paar Tabletten und ein Rest Kokain. Ja, meine Mutter hatte damals nicht nur schwere Depressionen, sondern war auch noch schwerst abhängig von Drogen und Alkohol.

Ich lief in Richtung des Schlafzimmers, wo ich meine Mutter vermutete. Schon von weiter weg hörte ich sie schnarchen, was mich beruhigte. Immerhin lebte sie noch. Ich beschloss, darauf zu warten, dass sie von alleine aufwachte. Ich wusste noch nicht, was ich überhaupt zu ihr sagen sollte, also ging ich in die Küche zurück und setzte mich an den Tisch, da ich mir ansehen wollte, mit was sie sich die letzten Tage beschäftigt hatte.

Im Browser des Laptops war irgendein Internetforum geöffnet, in dem Eltern sich gegenseitig Erziehungstipps und so weiter gaben. Anhand des User-Namens war unschwer zu erkennen, dass meine Mutter den angezeigten Beitrag geschrieben hatte. Ich traute meinen Augen nicht, was ich da zu lesen bekam.

„Hallo liebe Community, bitte helft mir dringend!!! Ich habe ein großes Problem mit meinem Sohn. Schon seit er klein ist, macht er nur Probleme!!! Er ist daran Schuld, dass es bei meinem Mann und mir nicht klappt. Er hat noch nie gehört und macht nur was er will. Er geht nicht in die Schule und ich glaube mittlerweile, dass er auch nie arbeiten gehen will!!! Er ist jetzt sechzehn und nimmt auch viele Drogen und je älter er wird, um so schlimmer wird alles!!! Er schreit mich ständig an und rastet aus und lässt sich nichts von mir sagen, er hat meine Ehe kaputt gemacht und seine Schwester und ich werden immer kränker, weil er da ist!!! Ich hasse meinen Sohn und ich will ihn loswerden und am besten nie wieder sehen. Was soll ich tun???"

Fassungslos schlug ich den Laptop zu und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Was ging bitte in dieser Frau vor? Kein Wort schrieb sie darüber, dass mein Erzeuger ständig weg war und sie hunderte Male betrog. Kein Wort über ihre ständigen Klinikaufenthalte. Kein Wort darüber, dass Emma und ich manchmal tagelang alleine gelassen wurden. Sie glaubte also wirklich, dass ich der Ursprung von allem, was in ihrem Leben schief lief, war?
War ich das vielleicht sogar?
Zu meiner Wut und dem Bedürfnis, dieses ganze abgefuckte Haus niederzubrennen, gesellte sich nun auch noch eine tiefe Trauer, wegen dem, was meine Mutter offensichtlich über mich dachte.

Schluchzend blätterte ich durch die vielen Ausdrucke von Artikeln, die auf dem Küchentisch verstreut waren. Da lagen Sachen wie:
- Wie kann man mit einem psychisch kranken Kind umgehen?
- Ich kann mein Kind nicht lieben
- Drogensucht im Jugendalter
- Warum ich nie Mutter werden wollte
- Wie werde ich mein Kind los?
- Jugendheime für schwer erziehbare Kinder in NRW

Gerade, als ich fertig damit war, mir alles anzusehen, hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah das Gesicht meiner Mutter, die mich mit leerem Blick ansah.
„Du bist wieder da. Wo warst du denn?", fragte sie mich sehr langsam und leise.
„Was zur Hölle ist das hier alles?", schrie ich und schmiss beim Aufstehen den Stuhl nach hinten, so dass er an die Küchenzeile knallte und ein paar Gläser zu Bruch gehen ließ. „Das kann doch nicht dein verfickter Ernst sein, du gottverdammte Fotze!"
„Genau das meine ich Tim. Wie du mit mir redest..."
„Ich mache dich krank, ja? Das glaubst du wirklich? Guck doch lieber mal, was du mit deinen Kindern gemacht hast, was du uns angetan hast, was aus uns geworden ist! Ich bin ein Kind verdammt, was aus mir geworden ist, ist nicht meine Schuld! Du bist dafür verantwortlich, nicht ich!"
„Ich hasse dich, Tim. Du hast mein Leben kaputt gemacht. Geh und komm nie wieder zurück."
Da verlor ich die Kontrolle. Ich stieß meine Mutter auf den Boden und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht. An das, was danach folgte, habe ich keine Erinnerung mehr.

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