Du nimmst mir die Angst

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Bielefeld, Tims Haus
06. Januar 2016

„Timi? Wach jetzt langsam mal auf."
Von ganz weit weg vernahm ich eine leise Stimme, die mich schon seit geraumer Zeit zulaberte. Ich hatte große Schwierigkeiten damit, wieder in die Realität zu kommen und erst nach einer ganzen Weile gelang es mir dann, die Augen zu öffnen, da ich mich noch immer in einem leichten Schwebezustand befand, der sich sehr angenehm anfühlte und den ich eigentlich noch gar nicht hatte verlassen wollen. Ich sah neben mich auf den Boden und erblickte dort Gustavo, der vor dem Bett auf dem Teppich lag, weswegen ich direkt anfangen musste, zu lachen. Das war echt ein super Trip gewesen, bevor er dann zwischendurch unangenehm wurde.
„Ähm, Timi, alles okay?"
Ich setzte mich mühevoll auf, blinzelte gegen das helle Licht an und setzte meine Brille auf, die ich auf dem Tisch neben dem Bett fand.
„Oh. Hi Marcel, ja alles in Ordnung. Welchen Tag haben wir heute?", fragte ich ihn mit einem herzhaften Gähnen.
Marcel seufzte tief und klärte mich dann auf. „Mittwoch, sechster Januar, kurz nach elf Uhr am Abend."
Ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht und blickte mich im Zimmer um. Das ganze benutzte Geschirr war weg, keine Klamotten lagen mehr auf dem Boden, sämtlicher Müll und leere Flaschen waren weggeräumt worden und es roch sehr penetrant nach irgendeinem zitronigen Putzmittel. Soweit ich mich erinnern konnte, sah es hier vor meinem Rausch noch ganz anders aus. Entweder ich hatte das im Rausch in Ordnung gebracht, was ich allerdings nicht glaubte, oder Marcel hatte das hier alles getan. Ich ließ meinen Blick noch einmal rundum schweifen, dann fand mein Blick seinen und ich sah ihn entschuldigend an. Womit hatte ich diesen Menschen bloß verdient? Schon seit dem Kindergarten, den ich nur sehr selten besuchen konnte, kannten wir uns und waren seither ein Herz und eine Seele. Sogar als ich dann in den Pflegefamilien oder im Heim war, war er mindestens drei Mal in der Woche dort, um mir Beistand zu leisten. Später hatten wir sogar mal eine Zeit lang zusammen hier in meinem Haus gewohnt und auch heute verging kaum ein Tag, an dem ich nichts von ihm hörte.

Nachdem Marcel nach Uni oder Arbeit in den vergangenen Tagen jeden einzelnen Abend bei mir verbracht hatte, hatte ich ihn gestern dazu bringen können, zu dem Familienessen zu gehen, das er wegen mir eigentlich hatte absagen wollen. Er hatte sich zunächst heftig dagegen gewehrt, da er Benni versprochen hatte, nach mir zu sehen und weil er selbst ebenfalls der Meinung war, dass ich mich aktuell in einem bedenklichen Zustand befand.
Ich hatte ihn nur mit viel Anstrengung davon überzeugen können, dass er mich ruhig mal einen Abend alleine lassen konnte, ohne sich einen Kopf um mich zu machen. Es nervte mich tierisch und bereitete mir auch ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass alle Leute um mich herum ständig der Ansicht waren, dass man auf mich aufpassen müsste und sie ihr eigenes Leben deswegen vernachlässigten.
Elsa zum Beispiel, die Heiligabend nicht bei ihrer Familie verbracht hatte, sondern hier bei mir.
Lukas, der mit seinen Vorbereitungen für die kommende Tour total spät dran war, weil er eine knappe Woche bei mir verbracht hatte, damit ich mein Kind nicht aus Versehen umbringe.
Marcel jetzt, der jeden Abend bei mir sitzt, damit ich mich nicht aus Versehen umbringe.
Die Tage oder Abende mit diesen Menschen waren immer sehr schön, da sie sich natürlich extra viel Mühe gaben, um mich aufzuheitern. Trotzdem konnte ich das oft nicht so richtig genießen, weil sie oft für mich ihre Pläne über Bord warfen und ich deswegen große Schuldgefühle hatte.
Bei Zara hingegen war das ein bisschen anders. Ihre Zuwendung genoss ich zu ihrem Leidwesen viel zu sehr. Gerade am Anfang unserer Beziehung habe ich oft absichtlich Situationen herbeigeführt, in denen sie sich um mich kümmern musste oder mein Befinden viel dramatischer dargestellt, als es in dem Moment eigentlich war. Mit der Zeit hatte sie allerdings gelernt zu erkennen, was echt war und was ich ihr nur vorspielte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Heute schäme ich mich sehr für diese Spielchen und frage mich oft, wie sie es nur so lange mit mir aushalten konnte.

Gestern hatte ich Marcel versprochen, dass ich keine Scheiße bauen würde und auch wirklich nicht vorgehabt, mich so dermaßen abzuschießen. Ich hatte mir ein paar Folgen Dexter angesehen, nur einen Joint währenddessen geraucht, eine komplette Pizza gegessen und war schon um 22 Uhr ins Bett gegangen, um mal so richtig lange zu schlafen.
Gerade bevor ich einschlief, war dann wieder mal eine Nachricht von Lukas gekommen. Kurz nach Silvester waren seine Nachrichten sehr fordernd und bedrängend gewesen, er wollte mich unbedingt dazu zwingen, mit ihm zu reden und meinte, wir müssten das so schnell wie möglich wieder klären. Vor drei Tagen etwa wurden seine Nachrichten dann angenehmer, denn er fragte mich bloß noch, wie es mir geht und wann ich mir ungefähr vorstellen könnte, mal wieder mit ihm zu reden.
In der Nachricht gestern schrieb er mir, dass es ihm Leid tut, was er alles gesagt hatte und dass er mich vermisst.
Das war ja eigentlich nichts Schlimmes, hat mich aber so dermaßen aus der Bahn geworfen, dass das Chaos ausbrach. Klar vermisste ich ihn auch, aber mit dem, was er mir da in der Silvesternacht gesagt hatte, hatte er mich sehr getroffen und ich fühlte mich total von ihm verraten. Ich wusste absolut nicht, was ich von der Nachricht halten sollte und wie ich auf sie reagieren sollte. Ich hatte ihm nicht geantwortet, genauso wie auf alle seine Nachrichten zuvor. Freude wechselte in Wut, Liebe wechselte in Hass und wieder zurück, ich vermisste ihn wahnsinnig und wollte ihn gleichzeitig auch nie wieder sehen. Ich überlegte mir schon seit Tagen unzählige Möglichkeiten, wie das alles weitergehen konnte, aber eine Antwort fand ich nie.

Irgendwann wollte ich das dann gestern alles stoppen, einfach nur mal schlafen und an nichts denken müssen. Da mir das nicht gelang, hatte ich eine Schlaftablette eingenommen. Diese half rein gar nichts, also folgten noch zwei weitere. Ich war davon lediglich ein bisschen müde geworden, aber die Gedanken wurden kein bisschen ruhiger, also hatte ich zusätzlich noch ein bisschen Bong geraucht. Da auch das nicht die gewünschte Wirkung hatte, beschloss ich, für ein paar Stunden aus allem auszusteigen und nahm Pilze, da ich damit bisher eigentlich nur angenehme Erfahrungen gemacht hatte. Die Vorstellung davon, eine Weile in einer anderen Welt zu sein, ohne Chaos und ohne Lukas, war sehr verführerisch. Leider machten mir die Schlaftabletten und das THC einen Strich durch die Rechnung. Ich hatte die Pilze, vermutlich durch Wechselwirkungen mit den anderen Substanzen, nicht so gut vertragen wie sonst, denn der zunächst angenehme Trip wurde zwischendurch sehr unangenehm.

Ich streckte mich, wobei ein paar Gelenke laut knackten und stand dann auf. „Komm, lass runter gehen."
Marcel erhob sich ebenfalls von der Bettkante, auf der er die ganze Zeit neben mir gesessen hatte, ging vor in Richtung Treppe und ich folgte ihm.
Nach ein paar wenigen Schritten kam ich so dermaßen ins Schwanken, dass Marcel mich stützen musste, ansonsten wäre ich wohl einfach die Treppe runter gefallen.
„Ach Timi...", sagte er nur.
„Ich weiß. Es tut mir Leid, ok?"

Marcel führte mich in die angenehm warme Küche, drückte mich auf die Eckbank, ging zum Herd und stellte mir dann einen übervollen Teller Spaghetti Bolognese vor die Nase. „Iss das."
„Äh, danke. Wie lange bist du denn schon hier?", fragte ich ihn verwundert und fing halt an, zu essen.
Er nahm sich selbst auch einen Teller und setzte sich mir gegenüber. „So eine Stunde, ungefähr. Ich habe dich erst nicht geweckt, weil du irgendwie total zufrieden ausgesehen hast."
„Ich war auch ziemlich zufrieden. Also der Trip war schon echt irre. Heisenberg und Gustavo hatten mit mir gesprochen und sich total lustig darüber gestritten, wer von beiden das bessere Haustier ist. Ein totaler Krieg zwischen Hund und Katze. Dann war es auf einmal nicht mehr so schön, weil ein riesiger Schwarm Fledermäuse gekommen ist. Da war so eine ganz große dabei mit grauenhaften, roten Augen und ich dachte echt, die bringen mich jetzt um. Dann war es aber wieder schön, ich war irgendwie zeitweise aus meinem Körper raus und habe alles so von oben und weit weg gesehen. Das war toll."
Marcel legte seine Gabel hin und sah mich lange an. „Also, ich habe ja noch nie mehr gemacht, als kiffen. Für mich klingt das alles eher beängstigend, als schön."
„Je nachdem, was für einen Trip man hat, ist es auch beängstigend. Aber ich brauch ab und zu die Flucht vor der Realität, anders wäre mein Leben nicht auszuhalten. Da nehme ich eben solche Sachen in Kauf. Gestern war halt scheiße gelaufen, ich hätte nicht so viel mischen dürfen, aber normalerweise kann ich das ja besser abschätzen."
„Ich weiß und ich versteh es auch, aber trotzdem mache ich mir Sorgen. Iss weiter", sagte Marcel und sah auffordernd die Gabel an, mit der ich beim Reden in der Luft herumgefuchtelt hatte. Ich tat ihm den Gefallen, schluckte eine Nudel runter und redete dann weiter.

„Nachdem die Fledermäuse dann weg waren, schwebte ich noch ein bisschen herum. Also nicht mehr im Zimmer, sondern irgendwo anders, ich weiß nicht mehr wo. Dann wurde alles wieder ein bisschen normaler und ich dachte erst, dass ich wieder bei normalem Bewusstsein wäre. Ich lag dann auf einmal mit Zara im Bett, aber das ist natürlich nur eine Einbildung gewesen. Es hat sich aber so echt angefühlt. Ich war immer mal wieder wach und zwischendurch lange weg. Sie lag mal neben mir, mal lag ich in ihrem Arm, mal sie in meinem, dann lag sie mal ganz auf mir... das ging bestimmt stundenlang. Die meiste Zeit hätte ich irgendwie nichts sagen können, aber auch, als ich es konnte, habe ich es nicht getan, weil ich dachte, die Phase ist dann vorbei und es kommt wieder was Schlimmes."
„Denkst du noch oft an sie?"
„Gott ja. Jeden Tag", sagte ich und aus heiterem Himmel lief mir schon die erste Träne das Gesicht runter.
Marcel sah mich mitfühlend an und schob mir eine Serviette über den Tisch. „Oh, Sorry, hätte ich das jetzt nicht fragen sollen?"
„Schon okay, ich hab doch von ihr angefangen", antwortete ich ihm und schluckte schwer. „Es wird einfach nicht weniger. Ich vermisse sie so und es hört nicht auf. Es wird nie aufhören".
„Es kommt mir auch schon wie eine Ewigkeit vor, aber guck mal Timi, sie ist doch erst vor fünf Monaten gegangen. Es ist vollkommen normal, dass es jetzt noch so ist."
„Sie ist ja früher auch schon mal für anderthalb Jahre zu ihrer Verwandtschaft nach Schweden vor mir geflüchtet, als ich mich mal wieder wie das größte Arschloch verhalten hatte und nicht mal da war es so schlimm wie jetzt. Da wusste ich irgendwie, dass sie wieder kommt. Aber jetzt kommt sie bestimmt nicht mehr zurück." Mittlerweile hatte ich mein Essen von mir geschoben, meine Stirn auf meinen Unterarmen abgelegt und zu der ersten Träne gesellten sich noch unzählige neue.
„Marcel, ich pack das nicht ohne sie. Wirklich nicht. Ich kann ohne sie nicht leben. Das meine ich jetzt nicht auf diese teenagermäßige, pseudoromantische Hollywood-Art. Sie fehlt mir so, dass ich spüre, wie mein Herz ausblutet. Ich vermiss sie so, dass ich körperliche Schmerzen habe, wenn ich an sie denke."
Ich merkte am leichten senken der Bank, dass sich Marcel neben mich gesetzt hatte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
„Du musst gar nichts sagen", schluchzte ich und lehnte mich an ihn. Er legte einen Arm um mich und so saßen wir eine Stunde lang, bis ich mich wieder etwas beruhigen konnte.

Als wir später gemeinsam das Geschirr gespült und weggeräumt hatten, guckte Marcel auf die Uhr, die mittlerweile kurz nach eins in der Nacht anzeigte. „Lass uns noch ein bisschen raus gehen, du hast ja den ganzen Tag geschlafen, fit dafür müsstest du jetzt sein."
Ich öffnete das Fenster, setzte mich auf die Fensterbank und zündete mir eine Zigarette an. Besonders begeistert von dem Vorschlag war ich nicht. „Können wir das nicht morgen machen?"
„Nein. Komm jetzt mit mir raus. Ablenken, bisschen was trinken. Vielleicht finden wir ja ein paar ansehnliche Frauen."
„Pff. Das hilft auch nichts. Ich habe mich in den letzten Monaten schon durch mein komplettes Telefonverzeichnis gefickt."
„Dann lassen wir den Teil mit den Frauen eben weg", sagte mein Freund mit einem schiefen Lächeln.
„Okay. Ich muss aber noch duschen. Ich kann mich an die letzte Dusche nicht mal mehr erinnern."
Marcel stieß mir seinen Zeigefinger in den Bauch. „Das sieht man. Los, mach."
Trotz diesem dezenten Hinweis, dass mein hygienischer Zustand nicht der angenehmste war, umarmte ich ihn und drückte ihn für einige Sekunden fest an mich. „Danke Marcel. Danke für Alles. Ich sage dir das wirklich viel zu selten."

Während ich unter der Dusche stand, beschloss Marcel, noch ein wenig mehr Ordnung in meinem Haus zu schaffen. Er ging nach oben ins Gästezimmer und wechselte die Bettwäsche, die ich zuletzt vor etwa drei Monaten ausgetauscht hatte. Dabei sah er eine Spur von rotem Lippenstift auf dem Kopfkissenbezug, dachte sich nichts weiter dabei und vernichtete damit zunächst den winzigen Hinweis, der mir hätte verraten können, dass Zara tatsächlich hier gewesen war.



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