Mein Herz schlägt schneller als deins

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Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
03. Januar 2016

In der vergangenen Nacht war im Heim rein gar nichts passiert, darum hatte ich stundenlang Zeit gehabt, eine Pro- und Contra-Liste darüber zu erstellen, ob es nun gut oder schlecht wäre, bei Tim vorbei zu schauen. Erst hatte ich das nur in meinen Gedanken getan, später dann wirklich auch auf Papier. Genau ein Punkt mehr stand auf der Pro-Seite, darum entschied ich mich tatsächlich dafür, es nach Schichtende zu tun.
Ich räumte meine Sachen zusammen, steckte meine Listen vorsichtshalber in den Aktenvernichter und ging durch die Flure, um alle Bewohner, die noch schliefen, aus den Federn zu schmeißen. Es war zwar Sonntag, aber auch dann musste immer zu einer bestimmten Zeit aufgestanden werden, damit niemand den ganzen Tag lang nur in seinem Zimmer versackte. Wie oft hatte Timi mir hier deswegen damals die derbsten Schimpfwörter an den Kopf geworfen? Dagegen war das, was ich heutzutage hörte, der reine Kindergeburtstag.
Als ich die Runde relativ reibungslos beendet hatte, machte ich noch einen kleinen Abstecher in die Personaltoilette, um mein Aussehen zu checken. Ich sah in den Spiegel und war mehr als unzufrieden mit dem, was ich da zu sehen bekam. Mein grauer Hoodie ließ meine blasse Haut noch blasser aussehen, ich hatte leichte Augenringe und meine Augen waren durch das fehlende Make-Up auch nicht gerade ein Blickfang. Von meinen Haaren, die in einem lockeren, unförmigen Dutt herum hingen, ganz zu schweigen.
Ich musste dringend nochmal nach Hause, bevor ich zu Tim gehen würde. Er steht halt einfach auf ein hübsches Äußeres mit gemachten Haaren, Make-Up und was eben noch alles dazu gehört, da wollte ich ihm diesen Anblick nicht zumuten. Ich sollte ihm zwar heute gar nicht gefallen wollen, aber trotzdem fühlte es sich gerade so an, als hätten wir gleich unser erstes Date und es war mir ganz und gar nicht egal, was er von mir halten würde.
Ich ging ins Büro zurück, nahm meine Sachen und trank noch den letzten Schluck meiner Wasserflasche aus. Beim Blick auf das Etikett fiel mir schon wieder eine Situation mit Tim von damals ein.
Wochenlang waren die ständigen Gedanken an ihn eigentlich immer weniger geworden, aber seit ein paar Tagen schon erinnerte mich einfach wieder alles an ihn. Jede Kleinigkeit. Worte, die irgendjemand sagte. Gerüche, die ich irgendwo roch. Lieder, die irgendwo liefen. Filme im Fernsehen, ja sogar Werbung oder auch nur bestimmte Farben. Oder eben so etwas, wie dieses Etikett einer simplen Sprudelflasche. Es war einfach zum wahnsinnig werden.


Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
11. März 2005

„Zara, mach dich nicht so fertig", sagte mein Kollege Philipp und tätschelte mir sanft die Schulter.
„Boah, es ist einfach nur zum verrückt werden. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt schon wieder falsch gemacht habe. Es war alles gut und jetzt?", jammerte ich vor mich hin, während wir zusammen in der Küche standen und das Abendessen für die Wohngruppe vorbereiteten.
„Ich muss dir ganz ehrlich sagen, du solltest dich im Allgemeinen sowieso etwas distanzieren. Ich weiß, du willst das alles so gut machen, wie möglich. Aber du lässt ihn zu nah an dich heran. Das ist nicht gut..."
„Ich weiß. Ich denk oft an ihn, weißt du. Am Wochenende, oder wenn ich frei habe. Ständig frage ich mich, was er so macht, wenn ich nicht da bin."
„Du musst wirklich versuchen, die Tür physisch und psychisch zuzumachen, wenn du hier raus gehst. Ansonsten macht der Job dich kaputt. Erzähl mir doch mal, was jetzt schon wieder nicht stimmt."
Ich seufzte und lehnte mich mit dem Rücken an die Theke.
„In den letzten Wochen war es wirklich total gut gelaufen mit Tim. Seine Eltern waren ja da gewesen und das hat ihn so fertig gemacht. Danach hat er sich mir total geöffnet und ganz viele Sachen über sich erzählt. Er war extrem lieb und bemüht und ist nicht ein einziges Mal ausfällig geworden. Also es war schon schlimm, was er mir so erzählt hat. Zum Beispiel dass er sehr viel mehr und öfter Drogen nimmt, als wir das bisher gedacht hatten. Oder was er so über sich selbst denkt, so unglaublich negative Dinge. Und er hat mir seinen Oberkörper gezeigt. Die ganze linke Seite ist total verschnitten. Naja, dann hat er sich eben von mir überzeugen lassen, mit mir zum Arzt zu gehen, also zum Psychiater. Im Wartezimmer dort hat er schon fast nicht mehr mit mir geredet. Wir mussten fast vier Stunden warten, bis er dran kam. Ich habe ganz oft versucht, mit ihm ein Gespräch anzufangen, aber er ist kaum darauf eingegangen. Dann hab ich halt irgendwann eine Zeitschrift vom Tisch genommen und die durchgeblättert, daraufhin hat er mich total angefahren, ob ich ihn denn für so langweilig und unwichtig halte, weil ich jetzt lese, statt mit ihm zu reden. Als er dann aufgerufen wurde, wollte er dann, anders als vorher abgesprochen, alleine mit dem Arzt sprechen. Er war anderthalb Stunden im Sprechzimmer, kam total verheult und fertig raus und redet seitdem kein Wort mehr mit mir. Das war jetzt vor fünf Tagen."

Phillip legte das Messer, mit dem er eben Brot geschnitten hatte, auf die Seite. „Was der Arzt gesagt hat, weißt du nicht?"
„Nein."
„Ich frage ihn später mal, schon nicht schön, das Ganze. Komm, lass uns rausgehen, es wird Zeit", sagte er und drückte mir den Brotkorb in die Hand.
Tim war wie immer natürlich nicht im Essraum, sondern musste erstmal ewig von Phillip dazu überredet werden, bis er dann doch kam. Während des ganzen Essens schob er sein Essen von einer Seite auf die Andere und sah mich ständig an. Jedes Mal, wenn ich zu ihm rüber sah, sah er weg. Ich konnte mir überhaupt nicht erklären, was das alles sollte. Wartete er wieder darauf, dass ich auf ihn zuging, nur um mich dann wieder weg zu stoßen? In solchen Momenten wie diesen dachte ich ernsthaft darüber nach, einfach alles zu schmeißen und irgendeinen Beruf zu lernen, in dem man seine Arbeit ganz in Ruhe macht, kaum Menschenkontakt hat und mit erschöpftem Körper und leerem Kopf nach Hause geht.
Ein anderer Junge riss mich aus meinen Gedanken, indem er fragte, ob wir noch was zu Trinken hätten. Ich blickte auf den leeren Kasten und dann zu Phillip. Dieser war gerade so dermaßen vertieft in ein Gespräch, dass ich ihn nicht stören wollte und beschloss, selbst einen neuen Kasten aus dem Keller hier hoch zu schleppen, auch wenn ich ihn einfach so sehr hasste.
Das Gebäude, in dem sich meine Wohngruppe befand, war schon uralt und der Keller dementsprechend dunkel, verwinkelt und gruselig wie ein alter, riesiger Kerker. Hier ging ich wirklich nur rein, wenn es sich ganz und gar nicht vermeiden ließ, obwohl ich wusste, dass es hirnrissig war und mir dort unten natürlich rein gar nichts passieren konnte.
Ich nahm die Treppe und rannte den Weg unten schneller, als ich ihn ging. Darauf bedacht, dass ich so schnell wie möglich hier wieder raus kommen würde, flitzte ich in den Raum, in dem wir die Getränke lagerten und wollte mir gerade einen Kasten Wasser schnappen, als ich eine Stimme hinter mir vernahm.

„Ich soll dir helfen", sagte Tim hörbar genervt. Ich drehte mich ruckartig und nach Luft schnappend zu ihm um und ließ dabei einen kleinen Angstschrei los, woraufhin er selbst mächtig erschrak.
„Alter, wer ist von uns beiden nochmal der Verrückte?", fragte er mich keuchend und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
„Ohje, sorry, ähm, es ist nur so, der Keller..."
Tim sah mich an und fing an zu lachen. „Naja, weißte, es ist eigentlich ganz nett ab und an zu sehen, dass ihr auch nur Menschen seid."
„Ja klar, was sollten wir denn sonst sein?", fragte ich und lächelte ihn zaghaft an.
Tim drückte sich von der Wand ab und ging einen kleinen Schritt auf mich zu. „Ja keine Ahnung, ihr kommt meistens so perfekt rüber, als ob ihr einfach alles könnt und alles wisst."
„Das ist aber wirklich Quatsch", sagte ich und griff nach dem Kasten.
„Warte mal bitte", sagte er, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und seufzte tief. „Ich muss mich mal wieder bei dir entschuldigen."
Ich sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur abwartend und interessiert an.
„Ich weiß, dass es Schwachsinn ist. Aber naja, ich habe dir diese ganzen... Sachen gesagt, diese ganzen... Gedanken und so weiter und ich hatte das Gefühl, du... verstehst wirklich, was ich sage. Es war Vertrauen da und alles. Also ich habe dir das anvertraut und dann hast du mir vorgeschlagen, zum Psychiater zu gehen. Ich weiß, dass du mir damit helfen wolltest, aber im Grunde genommen hast du mir doch damit durch die Blumen gesagt, dass du mich für verrückt hältst. Ich erzähl dir was von mir und alles was du sagst ist, Junge, du brauchst dringend einen Arzt. Weißt du, was ich meine?"
„Ja, jetzt wo du mir das so sagst, hätte ich damit wahrscheinlich ein paar Tage warten sollen. So habe ich das nicht gesehen. Das tut mir ehrlich Leid."
„Und das im Wartezimmer tut mir Leid. Ich war nur einfach so unglaublich aufgeregt, weil ich diese Ärzte einfach hasse. Die stellen ihre Fragen so, dass man so richtig über sich nachdenken muss. Und die wollen halt immer so hinten herum Dinge erfahren, ohne dass man das bewusst merkt. Ich mag das einfach nicht, wenn man so in meinem Kopf herum wühlt. Ach, eigentlich war es ja gut, dass ich dort war."
„Ich weiß, dass du nicht so gerne über dich redest."
„Der Arzt ist wirklich gut."
Sollte ich ihn jetzt fragen, was bei dem Termin besprochen wurde, oder fühlte er sich dann kontrolliert? Ich sah mich etwas unsicher in dem dunklen Kellerraum um und überlegte, dann sprach Tim aber bereits von alleine weiter.
„Das war schon ein krasser Termin, weil er meinte halt, das was im alten Arztbrief steht, würde so nicht ganz stimmen. Also die Diagnose. Er will, dass ich noch ein paar Termine mache, um das sicher abzuklären, aber auf meine Bitte hin, mir seine Vermutung zu sagen, meinte er, es wäre sehr wahrscheinlich dass ich ne Borderline-Persönlichkeitsstörung hätte. Er hat mir das dann über eine Stunde lang erklärt, was das bedeutet und es ist schon extrem mies."
„Wie geht es dir damit?", fragte ich und lehnte mich nach hinten an die Wasserkästen.
„Sehr gut."
Ich sah ihn erstaunt an. „Warum sehr gut?"
„Na, es ist schon sehr beschissen. Aber ich bin einfach total erleichtert. Weil... ich weiß nicht wie ich das erklären soll."
„Weil das alles jetzt einen Namen hat und du weißt, dass es noch viele andere gibt, denen es genau so geht?"
„Ja, genau!"
„Okay, das kann ich irgendwo nachvollziehen."

Er seufzte tief und machte einen weiteren Schritt auf mich zu. „Ach Mann, jetzt hab ich wieder viel zu viel erzählt. Obwohl ich weiß, dass es gut für mich ist. Ich... bin es einfach nicht gewohnt, dass man sich so sehr für mich interessiert. Ich war den Leuten, die sich eigentlich um mich kümmern sollten, einfach immer scheißegal. Das hier ist alles so ungewohnt. Ich versuche, jetzt wirklich ein bisschen netter zu dir zu sein. Zu deinen Kollegen natürlich auch..." Tim kam mir noch ein wenig näher und sah mich sehr lieb an. Fast zu lieb sogar.
„Ich...", sagte ich und stoppte, da er mittlerweile viel zu dicht vor mir stand.
Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich total verändert und ich sah etwas darin, das ich nicht einordnen konnte. Ich ging etwas weiter zurück und wurde von der kalten Wand hinter mir gestoppt.
Tim kam noch näher zu mir, wir berührten uns gerade so nicht. „Du bist sehr hübsch", flüsterte er, grinste mich an und beugte sich zu mir herunter. Er versuchte gerade tatsächlich, mich zu küssen! Total vor den Kopf gestoßen und überfordert, drehte ich meinen Kopf etwas zur Seite, so dass er sein Ziel verfehlte, zog ihn aber in eine Umarmung, weil ich ihn zum einen nicht verletzen wollte und zum anderen nicht wusste, wie ich aus der Nummer wieder herauskommen sollte. In dem Moment spürte ich es zum ersten Mal und erschrak mich vor mir selbst.
Es war moralisch höchst verwerflich. Es war verboten, es war nicht erlaubt und es war total unangebracht. Es durfte nicht sein, aber mein Herz schlug ein paar Takte schneller, als es in dieser Situation schlagen sollte.


Gütersloh, Zaras Wohnung
03. Januar 2016

An meiner Wohnung angekommen, parkte ich das Auto auf der anderen Straßenseite und machte die Tür so leise wie nur möglich zu, da ich Valentin auf keinen Fall aufwecken wollte. Er schlief gerne sehr, sehr lange wenn er mal, so wie heute, frei hatte. Ich zog meine Schuhe schon vor der Wohnungstür aus und schlich ganz leise auf Socken hinein. Es war noch leise drinnen, also nahm ich an, dass er tatsächlich noch am Schlafen war. Ich ging langsam ins Schlafzimmer hinein und blieb einen Moment lang prüfend im Türrahmen stehen. Er atmete tief, gleichmäßig und schnarchte leise, also ging ich zur Kommode und holte mir absolut geräuschlos etwas Schickes heraus. Seitdem ich Mutter war, hatte ich es perfektioniert, Dinge absolut unbemerkt zu tun, um niemanden aufzuwecken.

Ich verbrachte eine halbe Ewigkeit im Badezimmer, bis ich halbwegs zufrieden mit mir war und benutzte sogar das Parfum, das ich nur zu ganz besonderen Anlässen auflegte, weil es ein Vermögen kostete. Und weil Tim es mir mal geschenkt hatte und es fast schon leer war.
„Was machst du hier? Was willst du damit bezwecken?", sagte ich zu meinem Spiegelbild und sah es eindringlich an, so als könnte ich von ihm tatsächlich eine sinnvolle Antwort erwarten.
Ich verließ das Bad, warf nochmal einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer hinein, dann griff ich mir ein paar höhere Schuhe vom Regal und ging wieder Richtung Ausgang. Ich verfluchte mich, als mir einfiel, dass ich keine Zähne geputzt hatte, also ging nochmal zurück in die Küche, um wenigstens ein paar Kaugummis zu suchen.
Beim Blick auf den Küchentisch stellte ich fest, dass dieser gedeckt war. Nicht nur diverse Brötchen und Gebäck waren darauf verteilt, sondern auch Rosen, Teelichte und irgendwelche Glitzerherzchen. Ich seufzte laut auf, als ich einen kleinen Minikuchen entdeckte, auf den mit rotem Zuckerguss folgender Schriftzug geschrieben worden war : „2 Monate, ich liebe dich"
„Ach Fuck", entfuhr es mir und ich starrte fassungslos die Szenerie an. Warum musste man ein zweimonatiges Irgendwas so groß feiern? Zwei Monate waren doch nun wirklich nichts, das man feiern musste. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich Schritte hinter mir hörte, die näher kamen.
„Na Schatzi, du hättest dich für mich aber nicht so schick machen müssen", hörte ich Valentins Stimme und spürte im nächsten Moment auch schon seinen warmen Körper, den er an mich drückte.
Ich warf noch einen Blick auf den Tisch, mit dem er sich offenbar sehr viel Mühe gegeben hatte, drehte mich dann um und sah ihm in die Augen.
„Ich muss..."
Valentin legte mir beide Hände auf die Schultern und drückte mich auf einen Stuhl.
„Nein mein Herz, du musst dich nicht bedanken. Das mache ich doch liebend gern für dich."
Ich lächelte ihn leicht gequält an und schnitt mir resigniert ein Brötchen auf. Timi musste wohl noch warten.




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