- Klippenspringen -

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

„So und was tun wir jetzt? Hast du einen Vorschlag?", sah Colliah mich nach einer kleinen Weile fragend an, während er aufstand und sich den Dreck von der Hose klopfte.

Einen?!

Mit der Zeit hatte sich eine Liste entwickelt mit Dingen, die ich tun wollte, bevor ich starb, denn wenn du manches nicht tust dann verpasst du was. Inspiriert von einem Buch, das ich einst gelesen hatte, hatte ich alle verrückten Ideen aufgeschrieben, die mir lebendig vorkamen, die für mich nach Freiheit klangen. Einfach, um zumindest in meinen Gedanken ein bisschen lebendig zu sein, auf eine Art, wie ich es in Realität nicht konnte.

Bücher boten mir die Möglichkeit mich von allem das gerade um mich herum vor sich ging loszusagen, Bücher stellten Paralleluniversen dar in denen man sich für eine Auszeit verstecken konnte. Manchmal ging diese Auszeit dann über ein zwei Tage, in denen ich weder sprach noch mein Zimmer verließ, weil eine Geschichte mal wieder Besitz von mir ergriffen hatte und die Spannung mich zwang weiterzulesen.

Außerdem, was sollte ansonsten schon Großartiges in diesen zwei Tagen in meinem Leben passieren, denn von den ganzen Dingen, die ich tun wollte, hatte ich bis jetzt keinen einzigen Punkt in Angriff genommen. Absolut und totale 0%.

101 Ideen waren es mittlerweile, aus den tiefsten, verborgensten Ecken zusammengekratzt.

„Also?", diese simple Frage holte mich in die Wirklichkeit zurück und die haute einen fast um.

Er sprach wirklich mit mir und das immer noch.

„Ich wüsste da was."

Denn manchmal entscheidest du dich etwas zu tun, aus welchen Gründen auch immer und manchmal handelst du einfach ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was richtig und was falsch ist. Ich für meinen Teil entschied mich dazu einmal „ja" zu sagen, „ja" zum Leben, „ja" zu Colliah. Ich entschied mich dazu ihm zu vertrauen und zugegebenermaßen, vielleicht wollte ich ihn auch ganz gerne ein bisschen beeindrucken.

„Wir springen", entgegnete ich schlicht, aber innerlich brodelte es.

War das mein Ernst? Hatte ich das wirklich gesagt. Mensch das ist verdammt hoch, seit wann bin ich so selbstmörderisch veranlagt?!

Für's Protokoll, nur um es an dieser Stelle einmal angemerkt zu haben: ich war nie, absolut nie ein Adrenalinjunkee gewesen, eher das genaue Gegenteil.

„Du bist ja verrückt", er schüttelte ungläubig den Kopf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich im 180° gewandelt, das selbstsichere Grinsen war ihm schlichtweg aus dem Gesicht gefallen.

„Ach fällt dir ja früh auf, gut wenn das das dann jetzt geklärt ist", aber ich konnte mir die fast schon zynische Bemerkung „wie dir bestimmt schon aufgefallen ist reden die Menschen nicht mit mir, dafür gibt's sicherlich Gründe" einfach nicht verkneifen.

Er schien wieder amüsiert.

„Nene, du redest nicht mit den Leuten so sieht's aus. Du bist, versteh mich nicht falsch", abwehrend hob er die Hände, eine Schutzhaltung, um mich oder ihn zu schützen, das wusste ich nicht, „aber recht unauffällig, fast schon abweisend, reserviert, unnahbar." Es war eine wirklich gute Frage, wer hier vor wem geschützt werden sollte, denn seine Aussage traf tief, die Wahrheit traf immer tief.

Er suchte nach Worten.

„Schon klar, Danke", entgegnete ich sarkastisch und verschränkte die Arme vor der Brust, ganz klar um mich zu schützen dieses Mal.

„Ich sagte doch versteh mich nicht falsch, aber zurück zum Anfang... springen... WARUM?"

Ich seufzte, blieb mir denn auch nichts erspart? Aber die Diskussion war begonnen und ich konnte sie zumindest bis zum bitteren Ende führen.

„Naja, es mag jetzt vielleicht freakig klingen, aber es gibt da eine Liste, die ich mal verfasst habe, genaugenommen hat sie sich über die Jahre entwickelt mit Dingen, die ich mal tun möchte, bevor ich sterbe, denn wer weiß wie lange man hat..."

Er war der erste Mensch, dem ich das erzählte. Sein Innerstes band man schließlich nicht jedem einfach so auf die Nase, aber irgendetwas, das ich nicht benennen konnte, sagte mir, dass Colliah das verstand. Trotzdem wurde ich nervös, zupfte an meinem Blusenaufschlag herum, während meine Arme weiterhin verschränkt blieben. Sicher war nun mal sicher.

„Wieso sterben?! Ich meine klar man weiß nicht wie lange man lebt, aber in der Regel... Wieso sterben?", er schien ehrlich schockiert, in seiner perfekten Welt waren die Tage anscheinend so schön, dass man nicht über den nächsten, oder letzten Tag nachdachte. Oder überhaupt über die Zukunft, wozu auch, seine war bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt gesichert.

„Lange Geschichte", ich winkte nervös ab und fixierte den plötzlich extrem spannenden Boden.

Klasse, läuft ja super gerade. Ich begann auf der Innenseite meiner Unterlippe herumzukauen, denn mein nutzloser Mund war außerstande mir weiterzuhelfen. Innerlich fluchte ich vor schlecht überspielter Peinlichkeit und Scharm.

Eine Pause entstand.

Meine geheimsten Hoffnungen erfüllten sich und Colliah verstand den Wink.

„So Bucket-List mäßig also?", versuchte er, mit den Händen in den Hosentaschen, dem ganzen einen lockereren Touch zu geben.

Ich knirschte innerlich die Zähne. Mir war auch bewusst, dass die Idee nicht gerade neu war, eher von duzenden anderen schon plattgetreten. Zu meiner Verteidigung war allerdings anzumerken, dass zu dem Zeitpunkt, an dem ich angefangen hatte mit dieser Liste, das Klischee noch nicht der Fall gewesen war. Außerdem starb ich ja nicht. Ich war mir nur manchmal selbst nicht sicher, ob ich leben wollte oder ob mein Leben lebenswert war. Das war etwas völlig anderes, als alle Menschen, die über den Tod schrieben, aber eigentlich kern gesund waren.

Mir fiel auf, dass zu einem Dialog zwei Menschen gehörten und ich meinen Part nicht erfüllte.

„Ein klares Jain zu Bucket-List."

Colliah lachte, wie mir schien leicht nervös: „Wie darf man das jetzt verstehen?"

„Ja es ist eine Liste, nein es ist keine Bucket-Liste."

„Aha."

„Mit anderen Worten, ich sterbe nicht", zumindest nicht ohne es selbst zu verschulden, dachte ich bitter. „Und ich habe auch keinen festgelegten Punkt, wann ich das alles getan haben will und vielleicht ändern sich die Wünsche oder Dinge darauf auch nochmal... Sie ist mehr so ein...", ich kaute auf meiner Unterlippe herum, ein was eigentlich? Gute Frage.

„Sie ist mehr so ein optionales Wunschdenken, eine Traummalerei an Idealsituationen", sehr gut, das klang nach viel und sagte gleichzeitig nichts. Perfekt, denn jeden Tag, an dem ich sie schrieb, aber nicht lebte, existierte sie zwar, aber ohne real zu sein. So, wie ich.

Colliah, anscheinend immer noch sichtlich erleichtert, an dem Punkt hängengeblieben, dass ich nicht starb, sah aus, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen.

„Eine Liste also. Mit wie vielen Dingen?" Beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgeatmet, doch ich schaffte es den Seufzer zu unterdrücke und lediglich den Blick zu heben.

„101", mir wurde bewusst, wie utopisch und lächerlich das Ganze war und mir stieg die Röte ins Gesicht. Unangenehm berührt wandte ich den Blick erneut ab und zuckte mit den Schultern.

„101? Wow, das sind 'ne Menge, darf ich die Nicht-Bucket-Liste mal lesen oder hast du sie überhaupt dabei?", er zwinkerte mir über sein Wortspiel zu.

Ich lachte auf: „Das ist ein scheußlicher Name, bitte gewöhn ihn dir nicht an."

„Deal, aber nur, wenn ich sie sehen darf."

Colliah schien ehrlich interessiert.

Ihm mein Notizbuch zeigen? Ihn darin lesen lassen? Meine Gedanken überschlugen sich.


Woa woa woa, halt stopp das kannst du nicht machen, bist du verrückt, das geht ihn nichts an! Was ist, wenn er zu weit liest, was ist, wenn er zu viel sieht oder was ist, wenn er die Briefe findet?

Colliah ist ehrlich und nett, bis jetzt und er will sich tatsächlich immer noch mit dir unterhalten, obwohl du dich benimmst als hättest du mehr sozial unzulängliche Ticks als ein Igel Stacheln...

Es wäre klüger auf der Stelle umzudrehen und nicht noch weiter das Gesicht zu verlieren.

Welches Gesicht will ich den verlieren, das der Unsichtbaren? Außerdem habe ich beschlossen ihm zu vertrauen und daran halte ich mich jetzt.

Mein Entschluss stand fest.

Also nahm ich mein kleines Notizbuch mit dem bereits abgegriffenen Ledereinband aus meinem Rucksack, welches ich seit Jahren immer bei mir trug, egal wie und wo. Ich legte es ihm behutsam in die Hand, als wäre es viel zerbrechlicher als man sah, denn vielleicht war es das auch, bedachte man welche zerbrechlichen Teile meiner Seele darin aufgefangen wurden. Colliah fuhr sich mit einer Hand durch die Locken und begann zu lesen...

101 Dinge die ich tun will bevor ich sterbe (by Mina Landers)

1. Klippenspringen

2. Fallschirmspringen

3. Motorrad fahren

4. ein Buch schreiben & veröffentlichen

5. ein Lied schreiben & in der Fußgängerzone aufführen

6. bei einem Projekt in einem Entwicklungsland helfen

7. Modeln

8. Nachtbaden

9. allein um die Welt reisen

10. den Jungel sehen

11. mit Delfinen schwimmen

12. im Grand Canion übernachten

13. die Niagarafälle sehen

14. Pyramiden sehen

15. den Jakobsweg gehen

16. in der Politik mitmischen

17. heiraten & das perfekte weiße Kleid tragen

18. auf ein Konzert gehen

19. demonstrieren

20. surfen

21. Hawaii

22. einen Marathon laufen

23. vegetarisch leben

24. einen Berg besteigen

25. eine Stiftung gründen

26. im Regen tanzen

27. in einem Kinderheim helfen

28. Fremde ansprechen

29. Reporterin werden

30. New York

31. eine ungewöhnliche Sprache lernen

32. ein YouTube Video drehen

33. an einem See wohnen

34. Campen

35. ein Kleid selbst nähen

36. Menschen nach dem Sinn des Lebens befragen

37. einen ernstzunehmenden IQ- Test machen

38. die Frage nach dem Warum klären

39. die Route 66 auf einer Harley hinunterfahren

40. Geige lernen

41. Gesangsunterricht nehmen

42. mich bei allen Menschen entschuldigen, denen ich je Unrecht getan habe

43. einen Baum pflanzen

44. einen Brief an meinen Vater schreiben

45. einen Falken zähmen

46. an einem Fotowettbewerb teilnehmen und ihn bestenfalls gewinnen

47. nach Afrika reisen

48. buddhistisch leben

49. ein Tattoo stechen lassen

50. nach Australien reisen

51. mir die Haare färben

52. auf einen Ball gehen

53. einen Tanzkurs machen

54. einfach mal spontan sein

55. in Pfützen springen

56. in Harvard studieren

57. eine Wand besprayen

58. die Valedictorian-Rede hallten

59. bei einem Schauspielcasting teilnehmen

60. ein Feuerwerk machen

61. eine Nacht lang in ein Feuer starren

62. einen Brief an mich selbst in der Zukunft schreiben

63. unter den Sternen liegen

64. einen Wikipediaeintrag erstellen

65. Indien bereisen

66. in den norwegischen Fjorden schwimmen

67. London sehen

68. einen Luftballon fliegen lasen

69. einen Coca-Cola Truck karpern

70. in den Hollywoodhills joggen

71. in Alaska eine Schneeflocke fangen

72. eine Adlerfeder finden

73. eine Felswand erklimmen

74. ein Hundebaby aus dem Tierheim adoptieren

75. in ein Klassikkonzert gehen

76. die Bibel lesen

77. einen Tag lang zu allem „ja" sagen

78. Gebärdensprache lernen

79. ein Armband basteln

80. Nordkorea

81. Einen letzten Brief an Mom schreiben

82. Heißluftballon fliegen

83. Blütenpollen sammeln und verstreuen

84. Marmelade selbst kochen

85. im Great Barrier Reaf tauchen

86. schnitzen

87. auf der Golden Gate Bridge stehen

88. ein Schloss an eine Brücke hängen

89. einen Eingeborenenstamm besuchen

90. fliegen

91. mit Haien schwimmen

92. meine Angst vor Spinnen überwinden

93. nur mit einer Karte „planlos" reisen

94. einen Vulkan sehen

95. Island bereisen

96. Geysiere sehen

97. mich bei allen Menschen bedanken, die mir je Gutes getan haben

98. barfuß über eine Wiese laufen

99. mir ein eigenes Sternenbild ausdenken

100. alle Wut weg schreien

101. Glücklich sein!

Nach einer Weile blickte er auf, ich hatte beobachtet, wie seine Augen von Zeile zu Zeile sprangen, wie sich Grübchen um seine Nasenflügel bildeten, wenn er überrascht war und es zu verbergen versuchte.

„Du hast noch nichts davon getan?"

„Nein..."

„Klippenspringen also", er gab mir das Notizbuch vorsichtig zurück, zog seine Schuhe mit den Fersen voran aus und streifte seine Jacke von den Schultern, sein Hemd und T-Shirt über den Kopf.

Er wird doch nicht...

Oh doch, er tat es.

Es folgte die Jeans, mit dem Ledergürtel, alles ließ er achtlos zu Boden fallen, trat an den Rand der Klippe, sah mich an, salutierte zwinkernd und SPRANG, nur noch in karierter Boxershorts und Socken, mit einem lauten „Kampfschrei" in die Tiefe.

„Geronimo!".

Was zum Teufel?!

Hat er... ist er gerade wirklich, so mir nichts dir nichts dort hinunter gehüpft?

Ich blickte vorsichtig über den Klippenrand, exakt in dem Moment als Colliah mit einem Platschen auf dem Wasser auftraf. Zuerst sah man nichts, er war gänzlich vom Dunkelblau des Meeres verschluckt, nur Luftblasen und das ringförmige Kräuseln der Wellen deuteten auf seine Existenz hin. Erst als sein Haarschopf wieder aus den Tiefen emporschoss und er sich in einem Schwung das Wasser aus den Haaren schüttelte, wagte ich wieder zu atmen. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. Mit einer Hand fuhr er sich über das Gesicht, blinzelte und ließ seine Zähne aufblitzen. Er grinste verwegen zu mir hoch und hob beide Daumen aus dem Wasser, aber nicht einmal aus meiner Entfernung heraus entging mir wie stark er zitterte.

Das Wasser musste eiskalt sein.

Und jetzt soll ich?

Dafür musste ich mich aber...

Komm schon Mina, du kannst das auch, vielleicht nicht ganz so lässig... gut ziemlich wahrscheinlich nicht ganz so lässig, aber es ist auch nicht weniger Kleidung als im Schwimmbad.

Richtig und wie oft gehst du ins Schwimmbad? Die Wahrheit war, ich hasste es, hasste den Schwimmunterricht, weil man gezwungen war sich zu entblößen. Auch wenn ich die Leichtigkeit im Wasser genoss gab es nur eine Sache, in der ich wirklich gut war, ausgezeichnet wahrscheinlich.

Tauchen.

Ich konnte ewig die Luft anhalten und von der Oberfläche verschwinden. Damit hatte ich Carol schon den ein oder anderen Schrecken eingejagt. Sich so still verhalten, dass die Welt einen vergaß und man beobachten konnte, wie alles um einen herum geschah, ohne selbst Anteil zu nehmen tat ich sehr gerne, oh ja die Opossum-Taktik hatte ich perfektioniert.

Hinzu kam, dass die wenigsten unter die Wasseroberfläche schauten, so kam es mir zumindest vor, wenn ich tauchte war ich allein, allein und unbeobachtet, sicher.

In meinem Kopf wechselten sich die alte und die neue Mina weiter in ihrem Schlagabtausch ab, eine seltsame Version der Engelchen Teufelchen Metapher, nur dass diese Facetten nicht auf meiner Schulter saßen, sondern beide zu mir gehörten.

Derzeit hatte ich eine zaghafte Präferenz. Außerdem erfror Colliah mit ziemlicher Sicherheit gerade da unten.

Ehe ich es mir anders überlegen und auf meine schrillenden Alarmglocken hören konnte trat ich vom Klippenrand zurück, zog Bluse, T-Shirt, Schuhe, Hose und Socken aus und verstaute mein Notizbuch sicher im Rucksack. Zusammen mit meiner, im Gegensatz zu Colliahs, sorgfältig aufgefalteten Kleidung, legte ich meinen Rucksack einige Meter vom Klippenrand entfernt ab.

Mich fröstelte, ich fühlte mich ausgeliefert und war heilfroh, dass Colliah schon vor mir gesprungen war. Ihm schien es nichts auszumachen sich zu entblößen.

Er hat wohl auch keinen Grund dazu, musste ich mir eingestehen. Doch er würde mich sehen, sobald ich sprang und dann erneut, wenn wir aus dem Wasser traten, aber meine Kleidung konnte ich nicht nass werden lassen. Sonst würde es anschließend doch ziemlich kalt werden. Und wenn ich mit nassen Sachen nach Hause kam müsste ich das mit Sicherheit rechtfertigen.

Ach verdammt!

Unwirsch fischte ich mir mein T-Shirt zurück aus dem Stapel und zog es über den Kopf. Ich konnte eben doch nicht vollends aus meiner Haut. So war zumindest mein Oberkörper und Hüftansatz verdeckt.

Einatmen. Ausatmen.

Besser als nichts.

Nachdem die Bekleidungsfrage nun geklärt war konnte ich mich dem wohl größeren Problem stellen.

Die Höhe.

Wenn ich nach unten sah kamen mir der steile Klippenabhang und die Entfernung zum Wasser schier endlos vor. Immerhin brach sich die Klippe so steil, das ich keine Angs haben musste, wenn ich mich nicht besonders weit davon abstoßen konnte, was mit Sicherheit der Fall sein würde.

Wo wir gerade bei „Fall" sind...

Stur verdrängte ich den Gedanken und wandte mich weiter dem durchaus positiven Inhalt meiner Situation zu. Dort unten waren keine Steine oder derartiges zu sehen, das Wasser war glatt und die Gefahr aufgespießt zu werden vermutlich sogar geringer als minimal.

Ich schluckte. Machte einen zaghaften Schritt zurück.

Zweifel beschlichen mich, aber ich lieferte mich ihnen und der ängstlichen Stimme in meinem Kopf bereitwillig aus, denn ich wollte lebendig sein. Endlich einmal und wenn ich dafür alle meine üblichen Vorsätze Lügen strafen musste, dann war das der Preis. Einen Preis, den ich bereit war zu zahlen, ein Risiko, das es wert war, eingegangen zu werden.

Außerdem wartete dort unten Colliah auf mich, immer noch und das in eiskaltem Wasser.

Okay, okay, okay, überzeugte ich mich selbst.

Vorsichtig trat ich erneut an den Rand der Klippe, blickte darüber hinaus auf den Horizont und atmete tief ein.

Noch während ich ausatmete stieß ich mich ab, mit den Zehen des rechten Fußes verließ ich den sicheren Halt zuletzt. Kleinere Felsbröckchen bröckelten und stützten raschelnd in die Tiefe.

Und ich?

Ich flog, wie Colliah vor mir, breitete die Arme aus, wie ein Vogel, der Wind strich mir darüber und fuhr in mein T-Shirt, durch meine Haare, in meine Lungen, berührte jede Faser meines Körpers.

Für einen wunderbaren Moment schien ich in der Luft zu verharren.

Die Zeit stand still, doch natürlich setzte die Schwerkraft nach dieser kleinen Unendlichkeit wieder ein. Jegliches Körpergefühl ging mir verloren, ich war ein Pfeil, der die Lüfte durchschnitt, ich war ein Vogel, ich war ein Komet, ein verirrter Stern, der vom Himmel fiel.

Und ich saugte dieses Gefühl gierig, als wäre es mein letzter Atemzug, ein. Mit den Füßen zuerst traf ich aufs Wasser auf, schloss die Augen, hielt die Luft an, presste die Arme an den Körper, als sich die Wasserdecke über mir schloss und alles still wurde.

Jedes noch so kleine Geräusch wurde verschluckt.

Die Stille fertigte einen durchgängigen Sog, wie ein einziger langgezogener gleichzeitig sowohl tonloser als auch vernehmbarer Ton.

Ich ließ die Luft aus meinen Lungen, begrüßte die Schwärze.

Hier unten war ich allein, hier unten war ich sicher.

Ein beruhigendes Gefühl, mein Herzschlag verlangsamte sich, meine Gedanken kamen zum erliegen.

Frei.

Doch die Oberfläche hatte mehr zu bieten und der künstlich erzeugte Unterdruck verengte meinen Brustkorb. Ich öffnete die Augen, speicherte das Bild und die Ruhe ab und sah hinauf.

Zurück zum Licht, zurück zum Klang, zurück zu Colliah.

Mit einem lauten Krachen brach ich durch die Wasseroberfläche und sog gierig Luft in meine Lungen.

Mein Brustkorb bebte, aber meine Gedanken standen still.

Ein Jubelschrei drang aus meiner Kehle und mir wurde bewusst, dass sich ein Lachen auf meinem Gesicht breit gemacht hatte.

Colliah, der bereits vor mir wieder aufgetaucht war schwamm etwa zwei Meter entfernt und stimmte in meinen Schrei mit ein.

Ich konnte ihn teilweise nur undeutlich erkennen, da mir permanent Wasser vom Pony in die Augen ran. Ebenso war mein T-Shirt nun vollgesogen mit Wasser und waberte quallenartig, sacht um meinen Körper, liebkoste meine Haut im Takt der Wellen.

Colliah schwamm ebenfalls mit einem irren Lachen, auf mich zu, seine Augen, seine Haut, einfach alles an ihm strahlte förmlich Adrenalin und Freiheit aus. Er fragte nicht, warum ich so lange gebraucht hatte, er fragte nicht, warum ich ein T-Shirt trug.

„Wow, niemals würde irgendjemand erwarten was für ein Mensch du bist. Ich meine so, Mina Landers du bist es wert erkannt zu werden."

„Ich bin niemand..."

Wie konnte er so denken, so sprechen.

„Soll das ein Witz sein?!", das Lächeln breitete sich über seine verschmitzt und verdutzt dreinblickenden Augen aus.

„Du wirst diese ganzen Dinge tun koste es was es wolle, oder?"

„Naja vielleicht war es genug alles aufzuschreiben. Irgendwie ist es doch immer schöner von Dingen zu träumen, als wenn sie dann wirklich passieren... ich dachte... keine Ahnung was ich eigentlich dachte", mir wurde klar, wie sehr das stimmte. Ebenso wurde mir bewusst, dass ich keinen Boden unter den Füßen hatte, mit einem Mal drang die Kälte in meinen Körper."

„Okay. Stopp. Jetzt versteckst du dich wieder, dafür bist du doch nicht von 'ner verdammten Klippe gesprungen..."

„Das ich das gemacht hab' ist mir übrigens immer noch unbegreiflich", lachte ich kopfschüttelnd. Das Adrenalin in meinen Adern ließ mich fast hysterisch werden.

„Um auf den Punkt zu kommen. Wenn du etwas willst dann tu es. Lass uns mit der Liste anfangen. Vielleicht schaffen wir nicht alles, gut wahrscheinlich schaffen wir nicht alles, aber es wäre doch ein Anfang 10 Dinge zu tun."

„10?" Das war verrückt, ich hatte diese Liste nicht im Gedanken geschrieben, dass ein Anderer von ihrer Existenz erfuhr oder sie las, geschweige denn sie umsetzte.

Was wohl seine Hintergedanken sind?

„Genaugenommen 9, Nummer Eins „Klippenspringen" abgehackt", er lachte und fuhr mit den Fingern ein unsichtbares Häkchen in die Luft. Was auch immer mein Verstand mir warnend in den Weg warf, es war alles nichtig. Ich war bereits verloren, denn ich konnte nicht anders, als mich in Colliahs Sog ziehen zu lassen.

Wir schwammen zum Land, halfen uns gegenseitig auf die von der Brandung glitschigen Felsen und erklommen den kleinen, dahinterliegenden Hügel.

Es war offensichtlich warum Colliah so bewundert wurde, denn bei ihm war es fraglich ob er sich selbst Dinge einredete. Er schien exakt der zu sein, der er sein sollte und das Beste: es war ihm egal.

Das sah man an der Selbstverständlichkeit, mit welcher er sich seinen Weg bahnte, ohne jemals rabiat oder ruppig zu sein, immer achtsam wohin er trat, welchen Ast er zur Seite bog und darauf, dass mir nichts geschah.

Er hielt jeden Ast so lange fest, bis ich daran vorüber war.

Triefend stapften wir, zum zweiten Mal am heutigen Tag, durch das Unterholz und auch wenn wir schwiegen war es eine angenehme Stille. Die Ruhe nach dem Sturm, obwohl nach dem Sturm in diesem Fall vor dem Sturm bedeuten sollte.

Der Laubboden fühlte sich unter meinen nackten, nassen Fußsohlen mit, für diese Zwecke deutlich zu wenig Hornhaut, aufregend an. Wie mir die Blattkanten, der noch nicht lange gefallenen Blätter in die Haut stachen oder wie weich und federnd der Untergrund insgesamt war. Unzählige Eindrücke stürmten auf meine Sinneszellen ein, jetzt wo mein Tastsinn den vollständigen Betrieb aufnehmen konnte.

Mir fiel auf, dass nichts wirklich still war, überall zuckte es leicht, am Boden im Gebüsch, mal waren es kleine Vögel, mal Käfer mal der Wind, mal die Kettenreaktion an Anstößen mit einem der ebengenannten Auslöser.

Es war absolut erstaunlich und wunderschön.

Vielleicht war es die Kälte, oder das Adrenalin oder die außergewöhnliche Situation, die mich die Welt so sehen ließen, aber mir war es egal. Ich genoss jede Sekunde, dann sollten mir meine Augen eben einen Streich spielen und wenn schon.

Ich sah die Welt klarer als bisher.

Alles war hochauflösend, als hätte man an einer Kameralinse das Objektiv verändert und das Bild nun scharf gestellt.

HD ist ein Scheißdreck dagegen, dachte ich amüsiert.

Schon bald brachen wir aus dem Gebüsch, auf die freie Fläche am Rande der Klippen.

Unsere Kleidung lag noch unverändert dort wo sie entweder fallen gelassen oder fein säuberlich hin drapiert wurde. Erleichtert und dankbar stürzte ich mich auf mein kleines Kleidertürmchen.

Mittlerweile hatte meine Haut zwar zu trocknen begonnen, mein T-Shirt und meine Haare troffen jedoch natürlich immer noch. Am ganzen Körper hatte ich eine Gänsehaut gebildet und mir lief das Wasser aus dem Oberteil in Rinnsalen die zitternden Beine hinab.

Während ich mit klammen, fast tauben Fingern unbeholfen versuchte schnellstmöglich in meine Hose zu steigen, hatte Colliah sich diese bereits angezogen und schnalle den Gürtel zugeschnallt. Jetzt kam er Moment vor welchem ich mich am liebten drücken würde.

Ich musste mein nasses Shirt ausziehen.

Den Kompromiss damit zu springen war ich willentlich eingegangen, jedoch hatte sich damit nicht alles gelöst, es hatte mir lediglich Zeit erkauft.

Komm schon, Farbe bekennen Mina. Wie bei einem Pflaster, schnell und schmerzlos.

Hastig drehte ich mich um, spürte wie mir die Röte Hitze ins Gesicht schickte und zog mir den nassen Klumpen Stoff über den Kopf, warf in schnellstmöglich auf den Boden, sollte er doch dreckig werden und schnappte mir mit einem halben Hechtsprung meine Bluse, die ich mir schützend vor den Körper hielt.

„Du kannst mein T-Shirt haben, wenn du magst", als ich mich umsah bemerkte ich, dass Colliah mir mit ausgestrecktem Arm sein weißes Shirt hinhielt, als wäre es nichts.

„Aber, es ist doch deins? Was willst du tragen?", seine ritterliche Geste war zwar lieb überforderte mich jedoch heillos.

„Nun nimm schon, deine Lippen sind ja ganz blau", er hob den Arm ein kleines Stückchen höher, forderte mich auf endlich zuzugreifen.

„D-d-danke", meine Zähne schlugen nun schon aufeinander und mir war schlichtweg zu kalt, um dieses Angebot auszuschlagen.

Insgeheim freute ich mich darauf Colliahs Geruch auf meiner Haut zu tragen, mich darin einzuhüllen und zu hoffen das vielleicht etwas von seinem Charakter auf mich abfärbte. Ein bisschen Offenheit, Mut oder was auch immer es war, dass ihn so selbstsicher machte.

Nur eine kleine Briese würde schon reichen.

Ich griff danach und zog ein mir über den Kopf, meine Bluse folgte, jedoch konnte ich die Knöpfe vorne nun nicht mehr schließen. Meine nasse Unterwäsche durchweichte zwar alles ein Wenig, aber alles in allem begann langsam die Wärme in meinen Körper zurückzukehren.

Zitternd rieb ich die Hände aneinander und blies Luft hinein.

Unterdessen fischte Colliah nach einigem Suchen einen dunkel-grünen, etwas ausgewaschenen, zerfransten Kapuzenpullover aus seinem Rucksack und zog ihn über den nackten Oberkörper. Mein T-Shirt befestigte er mit den Ärmeln am Tragegurt seines Rucksacks.

„So kann es etwas trocknen."

„Danke, erneut", ich lächelte verlegen.

Was passierte hier gerade, ich stand im einen Moment quasi nackt vor einem Jungen und nun trug ich sein T-Shirt, die Welt steckte voller Überraschungen. Darüber konnte man nur den Kopf schütteln.

„Was hast du?", er hatte mein leichtes Zucken bemerkt.

„Ach nichts von Bedeutung", nein das war es wirklich nicht, nicht im Vergleich.

„Was tun wir jetzt?", innerlich flehte ich ihn an die Führung zu übernehmen.

„Wie wär's mit einem rasch eingelegten Zwischenstopp bei unseren jeweiligen Quartieren? Ich stehe nicht so sehr auf halbnasse Jeans und du könntest dir die Haare trocknen."

Natürlich war das nicht das Einzige was ich trocknen würde, aber es war taktvoll und feinfühlig von ihm mein halb durchsichtiges Oberteil nicht zu erwähnen.

Wir setzten uns erneut in Bewegung, um nicht an Ort und Stelle festzufrieren.

„Wieso nennst du es Quartier und nicht Zuhause", ich war neugierig.

„Weil es a) nur temporär ist und b) mein Zuhause werde ich mir irgendwann selbst erschaffen, c) es ist mein Zuhause ich mag lediglich den Klang des Wortes Quartier, zu guter Letzt d) ich wollte mit meiner Sprachkenntnis prahlen, die meisten Mädchen finden das offengesagt nicht unbedingt schlecht", seine Rede untermalend gestikulierte er mit den Händen in der Luft.

„Stattgegeben, der Richter ist überzeugt", ich nickte anerkennend und fuchtelte absegnend mit dem Zeigefinger, war dieser regelrechte Begründungsschwall doch gleichermaßen niedlich wie unerwartet.

Noch immer leicht berauscht verging der Weg zurück zur Schule. Am Zaun angekommen hielt Colliah mir diesen ein Stück hoch, damit ich leichter hindurchkriechen konnte.

Sowohl T-Shirt als auch Bluse waren mittlerweile an manchen Stellen ordentlich mit Wasser vollgesogen und die anfängliche Wärme war erneut Geschichte.

Erst als das Schulgebäude vor meinen Augen auftauchte, wir klammheimlich am Rand des Geländes umherschlichen und mit der Kälte auf meiner Haut, wurden die Geschehnisse vollends real.

Du tust das gerade tatsächlich, du schwänzt, du bist von einer Klippe gesprungen, mit einem der angesagtesten Typen der Schule wirfst du dir rhetorische Bälle zu als wäre es das selbstverständlichste der Welt, verrückte Welt.

„Wir müssen vorsichtig sein, damit uns niemand bemerkt und vom Parkplatz aus schnappen wir uns mein Motorrad, schieben es ein Stück, nur bis wir aus der Straße hinaus sind, hier wäre es noch zu laut zu hören, dann zischen wir ab", Colliah stellte es in seinen Worten sehr simpel dar, aber seine angespannte Körperhaltung verriet, dass auch er etwas nervös war. Erwischt werden sollten wir wirklich nicht, auch wenn jeder wusste, dass Schüler, insbesondere die Angesagten, ab und an dem Unterricht willentlich fernblieben.

„Du kennst den Ablauf ja schon Recht gut", ich neckte ihn unter anderem, um ihn seiner selbstsicheren Rolle zuzuweisen.

Nichtsdestotrotz hielt ich sobald wir vom Rand weg- und somit auf den geteerten Vorplatz hinaustraten, Kopf und Oberkörper ein weiteres Stückchen gesenkt, sodass es meinen angespannten Rücken entlang zog. Mehr als einmal sah ich mich in dieser Minute um, jedes Mal in der Erwartung die Holztüren des Haupteingangs aufschwingen zu sehen, unseren Rektor in der Mitte mit den Händen in die Hüfte gestemmt und hochrotem Kopf.

Doch nichts geschah, wir kamen unbehelligt am Motorrad an, Colliah löste in einer fließenden Bewegung den Ständer und begann zu schieben. Nur ein kurzes Rucken, dann rollte die Maschine, trotz Größe und offensichtlichem Gewicht, brav neben ihm her.

Wir waren still, schon seit dem Zaun gewesen, aber es war angenehm, keine peinliche Stille mehr. Beide hingen wir unseren Gedanken nach und das fühlte sich absolut in Ordnung an.

Obwohl, zugegebenermaßen, meine Gedanken darum kreisten, was er wohl gerade gedachte.

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro