Die Mutter

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Sie rechnete damit, dass jeden Moment die Tür aufgehen und David in die kleine Wohnung treten würde. Sie hoffte es, während der Schmerz ihr Herz zerriss. Denn die Tür würde nicht aufgehen. David würde nicht zurückkommen. Nicht heute, nicht morgen. Nie mehr.

Vor ihr auf dem Wohnzimmertisch lagen die wenigen Bilder, die sie von David hatte. Sie waren alle schon mehrere Jahre alt, keines aus den letzten Jahren. Sie hatte keine mehr gemacht, war zu sehr damit beschäftigt gewesen, die schlechteste Mutter aller Zeiten zu sein. Bei dem Gedanken brach sie wieder in Tränen aus. Laut schluchzend krümmte sie sich auf der Couch zusammen, auf der sie einst mit ihrem Mann und David gesessen hatte. Damals, in einer Zeit, die aus einem anderen Leben zu sein schien. Dabei stieß sie das Rotweinglas zu Boden, das auf der Armlehne gestanden hatte. Egal, es war alles egal. Die Scherben, die sich auf dem Boden verteilten und der Wein, der sich in den Teppich sog. Wen kümmerte dieser verfluchte Teppich? Es hatte sie immerhin auch nicht gekümmert, dass sie ihren eigenen Sohn in den Selbstmord getrieben hatte. Dass sie zugesehen hatte, wie es ihm immer schlechter ging und doch nichts getan hatte. Zu sehr war sie mit Kerlen wie Kurt beschäftigt. Kerlen, die nichts für ihren Sohn David übrig hatten und ihn am liebsten vertreiben wollten. Was Kurt letztendlich auch geschafft hatte. Wobei sie ihm nicht die Schuld geben konnte, denn die lag bei ihr. Sie hätte etwas sagen können. Hätte eingreifen können. Sich besser um David kümmern, denn sie hatte ihn nicht besser behandelt als Kurt es getan hatte. Ihn hätte sie vor die Tür setzen sollen, statt zuzusehen, wie er ihren Sohn aus seinem Zuhause verbannte. Ihr eigen Fleisch und Blut. Alles, was sie noch gehabt hatte im Leben und alles, was ihr von ihrem Mann noch geblieben war. David hatte nie Schuld an all den Dingen getragen, die passiert waren. Auch wenn sie sich das aus Gründen, die ihr jetzt unerklärlich erschienen, wohl immer eingeredet hatte. Damit sie sich selbst nicht schuldig fühlen musste. Was sie nicht war, aber das tat nichts zur Sache. Jetzt waren sie beide gegangen, für immer. Vielleicht waren sie wenigstens wieder vereint, dort, wo sie jetzt waren. David hatte seinen Vater immer mehr geliebt, was sie ihm nicht mehr verdenken konnte. Nicht nach allem, was sie ihm angetan hatte.

In ihrem Inneren war ihr schon die ganze Zeit klar gewesen, dass etwas schief lief. Aber sie war viel zu sehr mit sich selbst und ihrer Trauer beschäftigt gewesen, als dass sie gesehen hatte, was sich vor ihren Augen abspielte. Alles was sie gesehen hatte, war die Nähe, nach der sie sich so gesehnt hatte und die Kurt ihr gegeben hatte. Allem anderen gegenüber war sie blind gewesen, doch das war keine Entschuldigung. David hatte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Hätte eines Tages einen Freund gefunden, mit dem er glücklich geworden wäre. Hätte einen Beruf gefunden, der ihn erfüllt hätte. Was er machen wollte, wusste sie nicht mal, so wenig hatte sie sich mit ihm auseinander gesetzt. Vielleicht etwas mit Menschen. David war schon immer sehr einfühlsam gewesen.

Sie zündete sich eine Zigarette an, während diese Vorstellungen ein Loch in ihre Seele brannten. Nahm ein paar Schlucke aus der Weinflasche. Sie wollte den Schmerz betäuben und wusste gleichzeitig, wie unfair das war. Wie falsch. Sie hatte es verdient, diesen Schmerz zu spüren. So wie David, der so vieles hatte ertragen müssen.


Als ein Schlüssel sich im Schloss drehte, schreckte sie hoch. Ihr Herz schlug schneller in der dummen Hoffnung, es könne David sein, der heimkam. Aber es war nicht David. Es war Kurt. Wenige Sekunden später stand er in der Wohnzimmertür. Sein Blick wanderte von seiner Freundin auf der Couch zu dem zersprungenen Weinglas am Boden und dem roten Fleck auf dem Teppich. Dann zu den Zigarettenstummeln, die wahllos überall verteilt lagen.

„Wie sieht es denn hier aus?", fragte er erzürnt.

„David", hauchte sie mit brüchiger Stimme. Sie hatte das Gefühl am Schmerz zu ersticken.

„Was ist schon wieder mit", polterte Kurt los, aber sie unterbrach ihn mit ihren leisen Worten.

„Er ist tot." Kurt hielt inne. Starrte sie an. Schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge gelegen hatten runter und sagte erstmal nichts.

„Was ist passiert?", fragte er schließlich.

„Er ist gesprungen", war alles, was sie hervorpressen konnte, während hysterische Schluchzer ihrer Kehle entwichen. Erneut zerfetzte der Schmerz ihr Inneres, während ihr das alles immer noch so furchtbar surreal erschien. Wieder verstrichen einige Augenblicke, in denen man sie nur weinen hörte, bis Kurt etwas sagte. Es war nur ein Wort und er sagte es leise, mehr zu sich selbst als zu ihr. Aber sie hörte es. So deutlich, als würde es ihr Trommelfell zerschneiden.

„Schwuchtel." Die Tränen versiegten, die Schluchzer blieben ihr in der Kehle stecken. Fassungslos starrte sie Kurt an.

„Schwuchtel?", wiederholte sie leise, dann fing sie an zu schreien. „Schwuchtel? Das ist mein Sohn, von dem du da sprichst, du verdammter Wichser!" Ohne zu merken, was sie tat, griff sie sich die Weinflasche und schleuderte sie in Kurts Richtung, während ihr wieder die Tränen übers Gesicht liefen. „Mein Sohn, der sich umgebracht hat, weil ich zugelassen habe, dass du ihn wie Dreck behandelst. Verpiss dich und tritt mir nie mehr unter die Augen!" Die Weinflasche zerschellte an der Wand neben Kurt, der rote Wein lief die Tapete hinab. Fassungslos starrte Kurt auf die Scherben und ballte dann die Fäuste.

Was fällt dir ein, du Schlampe? So redest du nicht mit mir!", brüllte Kurt zurück und machte einen bedrohlichen Schritt in ihre Richtung. Doch das interessierte sie nicht. Sie hatte alles verloren, was ihr etwas bedeutet hatte, sie hatte nichts zu befürchten. Sie sprang vom Sofa auf und stürzte sich gegen Kurt. Stieß ihn aus dem Wohnzimmer gegen die Flurwand.

Verpiss dich!", wiederholte sie, aber Kurt wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Er holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihr Kopf wurde herumgewirbelt, aber der Schmerz in ihrer Wange konnte den in ihrem Inneren nicht übertreffen. Sie griff sich eine Vase, die rechts neben der Tür auf einer Kommode stand, und zog sie Kurt mit aller Kraft über den Kopf. Mit einem dumpfen Klirren zersprang die Vase in tausend Teile und endlich wich Kurt zurück.

„Du bist ja verrückt! Vollkommen durchgedreht!", kam es atemlos von ihm. Seine Augen waren weit aufgerissen und sahen aus, als wollen sie im nächsten Moment aus seinem Kopf springen. Eilig lief er den Flur hinab zur Wohnungstür und riss diese auf. Duckte sich im letzten Moment, als sie eine weitere Vase nach ihm warf, die nur noch die Tür traf, die Kurt hinter sich zuknallte.

Lass dich nie wieder hier blicken!", brüllte sie ihm noch hinterher, ehe sie schluchzend zusammenbrach. Es war das einzig Richtige, Kurt vor die Tür zu setzen. Das hätte sie schon so viel früher tun müssen. Jetzt war es zu spät, jetzt änderte es nichts mehr. Egal, was sie täte, nichts brachte David mehr zurück.

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