Völva - Seherin

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Morgen schon sollte es so weit sein, der Thing würde stattfinden. Man merkte das auch ganz deutlich am Verhalten der Jünglinge im Dorf und auch bei den Angereisten. Sie alle waren nervös und erfreut, dem König ihre Treue schwören zu dürfen um dann den goldenen Armreifen zu bekommen.

Kopfschüttelnd ging Runa den Weg entlang, zwischen neu gebauten Hütten hindurch. Überall waren Menschen. So viele Leute auf einem Haufen hatte Runa noch nie gesehen. Nicht dass sie sich erinnern würde, aber sie fand die Menge an Wikingern überwältigend.

Ein paar Jarls aus entfernteren Dörfern waren noch nicht erschienen. Doch bis zur ersten Sonne am nächsten Tag würden auch diese eintreffen. Auch der Gode war schon eingetroffen. Immerhin leitete er zusammen mit dem König den Thing. Er war sozusagen der Vertreter Odins auf der Erde und bezeugte den Schwur, den die angehenden Männer leisten werden.

Runa hatte beim Frühstück mit ihrer neuen Familie gehört, dass Sigi die angereiste Völva beherbergte und wollte ihr einen Besuch abstatten. Sie hatte die leise Hoffnung, dass ihr die Seherin vielleicht weiterhelfen konnte, sich zu Erinnern. Bjorn hatte bereits mit Runa gesprochen. Er hatte die Angst gehabt, sie könnte zu große Hoffnungen in die Kraft der Seherin setzen. Runa wusste allerdings, dass eine Völva nur das sieht, was Odin ihr erlaubt zu sehen. Und wenn er nicht wollte, dass Runa sich erinnert, dann würde auch die Seherin ihr nicht weiterhelfen können.

Allerdings wollte Runa mit ihr über die vergangenen Nähte sprechen. Denn sie trug ein Geheimnis mit sich, dass sie noch nicht einmal ihrem Mann anvertraut hatte. Nicht weil sie ihm nicht vertraute, sondern vielmehr weil sie sich sicher sein wollte, was ihre Träume zu bedeuten hatten.

Eigentlich konnte man es nicht mal Träume nennen, denn vor ihren Augen tauchten tief in der Nacht immer die gleichen Bilder auf. Ein Mann, groß und breitschultrig mit warmen braunen Augen und dunklen Haaren. Ein langer schwarzer Bart, der zu den Enden hin zu Zöpfen geflochten ist. Mit einem liebevollen Ausdruck im Gesicht. Jede Nacht seit nun mehr über sieben Nächten erschien er Runa im Schlaf, streckte seine Hände nach ihr aus und rief ihren Namen. Und trotzdem konnte Runa ihn nicht deuten. Er kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht woher. Natürlich versuchte sie ihm im Traum näher zu kommen, doch umso mehr sie es versuchte, desto weiter wurde sie von ihm weggetrieben. Keine Kraft ihre Körpers schaffte es, gegen den sog anzukommen.

Meistens wachte Runa dann verschwitzt auf uns saß mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Lager. Bjorns Schlaf war viel zu tief um das zu bemerken. Dafür war Runa sehr dankbar, denn sie war noch nicht so weit um mit ihm darüber zu sprechen. Und deswegen war sie nun auf dem Weg zu ihrer Freundin. Sie wollte der Seherin einige Fragen stellen.

Etwas außer Atem kam sie bei der Hütte ihrer Freundin an und klopfte erst zögerlich, dann entschlossener an die Türe. Es dauerte nicht lange, da wurde ihr die Tür von Sigi geöffnet.

„Runa, schön dich zu sehen. Möchtest du eintreten?" fragte Sigi erfreut.

„Ja bitte, ich würde sehr gerne rein kommen. Ich hab gehört bei die ist die Völva?" Runa blickte ihre Freundin fragend an.

„Ja, sie ist mein Gast." Nickte Sigi und machte Runa den Weg frei, damit diese das Haus betreten konnte.

Auf dem Stuhl am Tisch saß eine alte, dunkel gekleidete Frau. Alles was sie trug, war schwarz und lange. Ihr Kleid fiel sogar im Sitzen bis auf den Boden und auch die Ärmel reichten weit über die Fingerspitzen. Viele Ketten mit Goldplättchen hingen ihr um den Hals. Auf jedem Plättchen waren verschiedene Runen eingestanzt. Auf ihrem Kopf lag ein dünnes, schwarzes Tuch, dass die Stirn bedeckte und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden war. Ihre langen grauen Haare hingen ihr gerade hinunter bis zum Ansatz ihrer Brüste. Doch das faszinierendste an ihr waren ihre Augen. Diese waren durch und durch weiß. Nur der Rand der Iris war mit einem leichten, grauen Strich zu sehen.  Sofort war Runa von ihrem Blick gefesselt. Nur noch am Rande nahm sie die tiefen Falten im Gesicht der Seherin wahr.

Runa setzte sich mit einem freundlichen Lächeln zu ihr an den Tisch.

„Ihr seid also die Seherin. Ich bin....." wollte Runa sie begrüßen, als ihr die Seherin ins Wort viel.

„Runa. Ich kenne euren Namen bereits mein Kind." Die Völva ließ sie keine Sekunde aus dem Blick.

„Ja, ich... woher wisst ihr das." Runa runzelte verwirrt die Stirn.

„Ich lass euch dann mal alleine. Bis später Runa." Verabschiedete sich Sigi, die merkte dass sie im Moment etwas störte und verließ leise die Hütte.

„Ich bin eine Völva Liebes. Ich habe bereits gesehen, dass du hier her kommen würdest. Du bist anders. Die meisten die hier her kommen um sich von mir helfen zu lassen, wollen ihre Zukunft sehen. Liebe, Kinder, Kriege und Krankheit. Manchmal auch der Tod. Aber du, du bist hier um etwas über deine Vergangenheit zu erfahren." Eigentlich war es keine Frage, sondern eine reine Feststellung der Seherin.

Überrascht starrte Runa die Völva an und konnte nur ein zartes Nicken zu Stande bringen.

„Nun mein Kind. Reich mir bitte deine Hand." Die alte Frau legte ihre Hand auf den Tisch.

Ohne zu zögern legte Runa ihre linke Hand in die der Seherin.

„Die Linke. Also bist du ein Herz-Mensch. Erfrischend." Lachte die Seherin und ihre Stimme klang nicht mehr wie zuvor. Sie hörte sich an als würde sie nicht aus dem Körper der gebrechlichen Frau kommen sondern erinnerte mehr an ein junges Mädchen. Auch hatten sich die Lippen der Frau nicht bewegt und trotzdem konnte Runa ihre Stimme klar und deutlich hören.

Mit der unteren Hand, hielt sie Runas Hand sanft fest, mit der anderen begann sie, ihre Lebenslinien auf der Innenseite entlang zu streichen.

„Da du nichts über deine Zukunft wissen willst, werde ich versuchen in deine Vergangenheit zu blicken." Wieder keine Bewegung der Lippen, die Stimme der Frau kam auch nicht durch Runas Ohren. Nein, es schien so als würde sie die Seherin in ihrem Kopf hören.

Dann zog die Völva mit ihrer freien Hand kleine Kreise über die Handfläche. Sie schloss ihre Augen und begann zeitgleich eine Melodie zu summen. Aufmerksam hörte Runa zu, es fiel ihr aber immer schwerer, ihre Augen offen zu halten. Immer wieder erwischte sie sich selbst dabei, wie ihre Lider schwer wurden und sich schlossen. Sie bemerkte kaum, dass sie es irgendwann nicht mehr schaffte, ihre Augen offen zu lassen. In ihrem Kopf entfaltete sich ein komisches Gefühl. Ein Druck der immer stärker wurde und Runa denken ließ, dass ihr Kopf gleich platzte. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Augen von hinten aus ihren Höhlen gedrückt  und blieben nur schwer drin. Ihre Ohren begannen zu Rauschen und sie konnte keines der Umgebungsgeräusche mehr wahrnehmen. Und trotzdem verspürte sie keinerlei Schmerz.

Genauso plötzlich wie der Druck kam, genauso schnell war er auch wieder verschwunden. Runa konnte ihre Auge wieder Problemlos öffnen und starrte nun die Seherin an. Deren Atem ging schnell und ihre Brust senkte sich hektisch.

„Mein Kind, deine Vergangenheit kann ich nicht genau sehen. Es liegt in einem dunklen Nebel versteckt. Nur Schemen haben sich mir gezeigt. Du wurdest nicht verloren und nach dir wird auch gesucht. Aber Unheil drohte dir und deiner Familie. Du stehst kurz davor, die Vergangenheit zu erkunden und sie wird sich dir offenbaren. Hab etwas Geduld." Brachte die Völva unter Keuchen und ächzen hervor.

„Ich stehe kurz davor?" fragte Runa nach.

„Geh jetzt mein Kind, mehr kann ich dir nicht sagen." Nun kam die Stimme wieder aus dem Mund der Seherin und klang auch wieder völlig anders.

„Was bedeutet das?" Wollte Runa erneut wissen, aber die Völva schloss erschöpft die Augen und zeigte ihr keinerlei Reaktion.

Zuerst verharrte Runa noch in der Hütte, doch sie würde von der Seherin keine weiteren Antworten bekommen. Obwohl das zuvor auch nicht wirklich Antworten waren. Aber sie wurde gesucht! Sie war nicht vergessen worden! Aber was für Unheil drohte ihr? Meinte die Seherin ihre Familie aus der sie kam? Oder warnte sie sie vor drohendem Unheil für ihre eigene kleine Familie?

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