31 - Die besten Freunde sind genauso verrückt wie du selbst

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Während ich mich von Shivan trösten lasse, frage ich mich, ob Syl jemanden hat, der ihn tröstet. Er hat Leute, mit denen er seine Pausen verbringt, mit denen er wahrscheinlich auch seine Freizeit verbringt – oder auch nicht, da er ja, wie er sagt, keine Zeit hat. Aber vertraut er ihnen? Redet er mit ihnen über seine Probleme? Besuchen sie ihn zuhause?

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, glaube ich das nicht. Da sind die leisen fiesen Stimmen, dass er mich in allen Belangen längst ersetzt hat – aber eigentlich glaube ich nicht, dass sie einander so nah sind. Er kennt die Typen nicht seit gestern, sondern schon seit Jahren. Und immer war ich derjenige, den er am meisten hat teilhaben lassen, zumindest glaube ich das. Ich war ja nie dabei, wenn er mit seinen anderen Freunden Zeit verbracht hat – allerdings war das auch nicht sonderlich oft, da wir im Wald schießen waren, wenn wir nicht zusammen gezockt haben.

Mein Herz tut weh und ich schluchze auf. Keine Chance, meine Tränen aufzuhalten, jetzt wo die Dämme einmal gebrochen sind. Syl soll jemanden haben, der ihn in den Arm nimmt, wie Shivan es bei mir tut. Ich wäre gern derjenige, der für ihn da ist, aber das will er nicht und ich verstehe verdammt noch mal nicht wieso nicht.

Shivan streichelt mir über den Rücken und zieht mich eng an seine Brust. Ich fühle mich gut und schlecht zugleich deswegen. Gut, weil ich mich angekommen fühle in seiner Umarmung. Weil die ganzen Zweifel verstummen und es sich einfach nur richtig anfühlt. Er vermittelt mir eine Geborgenheit, die ich zuletzt von meinen Eltern gespürt habe, bevor die Zeit des ewigen Streitens begonnen hat. Schlecht, weil ich an Syl denke und daran, dass ihm niemand dieses Gefühl vermittelt – vor allem seine Mutter nicht.

„Ich bin da, Denny", sagt Shivan leise. Seine Hand bewegt sich in raumgreifenden Bewegungen über meinen Rücken. „Das wird sich auch nicht plötzlich ändern. Versprochen."

Erst seine Worte machen mir klar, wie viel Angst ich auch davor habe, bald ganz allein dazustehen. Shivan wird Syl niemals ersetzen können, aber er hat ein offenes Ohr für mich und verbringt seine Tage gern mit mir. Dank ihm bin ich nicht allein mit den Menschen in meiner Konsole, die mich außerhalb der Games kaum interessieren.

Ich ziehe die Nase hoch. „Danke", flüstere ich. Ich drehe mein Gesicht zur Seite und wische mir über die nasse Haut. „Bin gleich wieder da." In der Hoffnung, ungesehen das Bad zu erreichen, löse ich mich. Ich lasse die klimpernden Vorhänge hinter mir und verberge meinen gesenkten Blick hinter meiner Hand. Eilig verschwinde ich im Badezimmer und schließe erleichtert die Tür hinter mir ab. Aus dem Spiegel blickt mir mein verheultes Gesicht entgegen und ich putze mir die laufende Nase mit Klopapier, ehe ich es mit kaltem Wasser wasche.

„Ablenken oder reden?", fragt Shivan, als ich am Paravent vorbei wieder in sein Zimmer trete.

„Ablenken", erwidere ich. Es gibt nichts zu sagen, nicht zu Shivan. Es gibt einiges, das ich Syl gern sagen würde – wenn er es denn hören wollen würde. Vielleicht kann ich ihm irgendwie zeigen, dass ich für ihn da bin, ohne ihn zu bedrängen. Um darüber und über ähnliche Dinge nachzudenken, schlage ich vor, dass wir einen Film schauen. Wir entscheiden uns für Need for Speed mit Aaron Paul in der Hauptrolle. Im Gegensatz zu Shivan kenne ich den Film schon, was mir nur recht ist. So kann ich mich besser in meine Gedanken verlieren. Und während wir so dasitzen, wandern sie von Syl weg zu der letzten Nacht, die ich bei Shivan verbracht habe. Ich erinnere mich an das Gefühl seiner Finger auf meiner Haut, die mich wie feine Federn sacht und vorsichtig berührt haben. An seine Lippen auf meinen und wie die ganzen Sorgen für einen Moment verstummt sind. Die Fragen, ob das okay und richtig ist.

Ich löse meinen Blick von Shivans Fernseher und suche nach seiner Hand. Shivan hat ein Bein aufgestellt, seinen Ellenbogen auf sein Knie gestützt und die Hand in seinen Haaren vergraben. Die andere Hand liegt auf seinem Oberschenkel auf der Matratze. Die Finger sind leicht eingerollt, seine Haltung ist entspannt. Sie liegt da, offen und ungeschützt. Ich könnte meine Hand ausstrecken und meine Finger mit Shivans verschränken, wie wir es letzte Woche gemacht haben. Wie wir es heute am Bahnhof gemacht haben und im Kino. Ich könnte und ich würde gern – aber ich trau mich nicht. Keine Ahnung, was mich abhält, denn beschweren würde Shivan sich gewiss nicht. Ich brauche keine Angst zu haben, von ihm abgelehnt zu werden, das hat er mir deutlich genug gezeigt und gesagt. Aber ich habe sie trotzdem. Stelle mir vor, wie er angewidert seine Hand zurückzieht und mich unter zusammengezogenen Augenbrauen her verständnislos anblickt. Wie er mir sagt, dass ich das alles falsch verstanden habe, und dass er gewiss kein Interesse an mir hat.

Wie paradox meine Gedanken sind, merke ich selber. Es macht mir Angst, dass Shivan mich mehr mag als nur als Kumpel, und es macht mir Angst, dass er mich vielleicht doch nicht mehr mehr mögen könnte.

„Alles okay?", reißt mich Shivans sanfte Stimme aus meinen Gedanken und ich hebe mit klopfendem Herzen den Blick, der noch immer auf Shivans Hand heftete. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen.

Ich nicke. Mein Blick huscht noch mal zu seiner Hand und ich überlege, ob ich ihn fragen soll. Da dreht er schon seine Handfläche nach oben und streckt die Finger. Ich lächle und spüre, wie meine Wangen heiß werden, während ich zögerlich meine Hand ausstrecke und meine Finger vorsichtig zwischen seine schiebe. Warm schließt seine Hand sich um meine und wieder ist da dieses leichte Kribbeln.

„Fühlt sich das für dich auch so gut an?", fragt Shivan leise, beinah bedächtig. Als wolle er diesen Moment nicht kaputt machen, und mir geht es ganz genauso.

„Ja", flüstere ich, weil meine Stimme versagt. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Das hier ist okay – und auch wieder nicht. Es ist okay, Shivans Hand zu halten. Ich merke es ganz deutlich. Die anfängliche Sorge, dass es vielleicht nicht richtig ist, auf diese Weise einem Jungen nah zu sein, ist verschwunden. Gleichzeitig ist es nicht okay, glücklich zu sein, während Syl es gewiss nicht ist. Und dieser Moment fühlt sich ziemlich nach Glück an. Neu und aufregend und schön und gleichzeitig voller Schuld und Angst und Trauer.

„Denny ...", klingt Shivans Stimme an mein Ohr und ich hebe den Blick. In seinen Augen spiegelt sich meine Sorge wider. „Mach dich nicht so fertig. Bitte."

Ich zucke mit den Schultern und sehe wieder auf unsere miteinander verschränkten Finger. „Ich kann nicht anders", sage ich leise. Das gute Gefühl ist schnell geschwunden und nur der Stein auf meiner Brust zurückgeblieben. Für einen Augenblick bin ich ein bisschen sauer auf Syl, weil ich wegen ihm das hier nicht genießen kann – doch dieses Gefühl verfliegt sofort wieder. Es ist nicht fair und unterstreicht nur wieder, dass ich keine echten Probleme habe. Außerdem ist es nicht Syls Aufgabe, mein Freund zu sein. Wahrscheinlich hab ich es gar nicht verdient.

„Darf ich dich noch mal in den Arm nehmen?", fragt Shivan und ich nicke schnell. Seine Wärme hüllt mich ein, als er mich an seine Brust zieht, und wieder steigen Tränen in mir auf, die ich tapfer runterschlucke. Syl hätte Grund zum Weinen, ich hab keinen. Ich brauche mich nicht immer so anstellen, sollte lieber mal lernen, allein klarzukommen.

Shivan streichelt mir über den Rücken. „Ich will nicht, dass du so traurig bist", sagt er leise.

Ich zucke mit den Schultern.

„Wollen wir morgen mit Jeffrey spazieren gehen? Mir hilft das immer, wenn ich traurig bin."

Ich denke an das hässliche Lama und stelle mir vor, wie Syl Shivan als bescheuert bezeichnen würde. Wie er wohl über mich redet, bei seinen neuen Freunden? Wenn er überhaupt über mich redet.

„Okay", sage ich, weil ich Shivan nicht auch noch enttäuschen will. Ist ja auch nicht seine Aufgabe, mich zu trösten ...

Ich behalte meine Tränen und Sorgen für mich und versuche, weniger traurig zu sein. Shivan und ich schauen den Film zu Ende und legen uns bald schlafen. Ich liege mit dem Rücken zu ihm und schaue im Dunkeln gegen die Wand. Bestimmt wäre es schön, würden wir einander wieder an den Händen halten, aber dafür ist kein Platz in meinen wilden Gedanken, die sich überschlagen und gar nicht daran denken, sich zu beruhigen. Ich weiß jetzt schon, dass ich nicht schlafen können werde. Eine Weile schweigen wir uns an und ich bin mir sicher, Shivan ist bereits eingeschlafen, da erklingt wieder seine Stimme.

„Wenn du nicht willst, ist das voll okay, aber ... mir ist wichtig, dass du weißt, dass ich dir gern zuhör und dass ich gern mit dir über deine Sorgen rede. Ich hab dir ja erzählt, dass ich mit den Leuten aus meiner Schule gar nicht mal so gut klarkomme. Weil ich für sie der Spinner bin ..." Er macht eine kurze Pause und atmet tief ein. „Das war nicht immer so. Am Anfang waren wir alle ein bisschen komisch, wie Kinder halt sind. Aber nach und nach sind alle erwachsen geworden, nur ich wohl irgendwie nicht. Und auch Leute, von denen ich dachte, dass sie meine Freunde sind, fingen an, sich über mich lustig zu machen. Erst im Spaß, glaube ich, dann wurde es immer ernster. Und jetzt hänge ich in meiner Freizeit mit 'nem Haufen Spinner ab – aber, ganz ehrlich? Das sind die besten Freunde, die ich je hatte. Weil sie mich schätzen für das, was ich bin, und nicht dafür, wie andere mich sehen. Weißt du, wie ich das meine?"

Ich nicke langsam. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, der dafür sorgt, dass meine Stimme belegt klingt, als ich leise antworte: „Syl ist halt genau so ein Spinner wie ich. Deswegen ist das ja so hart alles." Ich muss schlucken, der Kloß wird noch dicker.

Shivan bewegt sich hinter mir, sein Gewicht verlagert sich auf der Matratze. Ich spüre wieder seine Wärme, dann seinen Arm, der sich sanft über meine Seite legt. Vorsichtig rückt er an mich heran. „Nimm mal deinen Kopf hoch."

Ich tue, wie mir geheißen.

Shivan schiebt seinen anderen Arm zwischen Hals und Schulter hindurch und legt ihn um mich. Mit der anderen Hand zieht er unsere Decken zurecht und legt seinen Kopf hinter meinem aufs Kissen. Und auch, wenn ich mich dadurch weniger allein fühle, ist mir klar, dass ich mit dieser Freundschaft niemals werden abschließen können.


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