Fliegen...

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Es war ein verregneter Novemberabend. Die Sonne hatte sich den ganzen Tag nicht gezeigt, doch wäre sie ohnehin schon seit Stunden verschwunden. Der Wind blies eisig und erbarmungslos unter der Eisenbahnbrücke hindurch, die seit nunmehr zwei Monaten ihr Zuhause war. So saß sie nun dort, eine dreckige, löchrige Decke um die knochigen Schultern, ihr dünnes, verfilztes Haar war noch immer tropfnass und hing kraftlos und strähnig über ihre ausgemergelten Wangen, doch das störte sie nicht weiter. Das einzige, was sie im Moment interessierte, war dieses kleine Objekt in ihrer zittrigen Hand. Wenn man näher hinsah, hätte man erkennen können, dass dieses Zittern ihren ganzen Körper erfüllte, doch nicht etwa die eisige Novemberkälte ließ sie erbeben. Es war stille Aufregung, freudige Erwartung, es war die Äußerung ihrer Sehnsucht, die tief wie ein Ozean ihr Herz zerfressen hatte, und die sie dazu getrieben hatte den Tag im strömenden Regen auf dem Marktplatz der nahen Stadt zu verbringen, sich vielleicht genug Geld zu erbetteln um sich endlich wieder dem hinzugeben was sich nun so sicher in ihrer Faust verbarg. Das künstliche, flackernde Licht einer nahen Straßenlaterne tauchte die Spritze in ein grelles, kühles Licht nachdem ihre knochigen Finger offenbarten, was sie zuvor so sicher bewahrt hatten. Die Flüssigkeit in dem zylindrischen Körper schien fast klar, lediglich einige weiße Schlieren reflektierten das Licht der Leuchtstoffröhre und gaben der Droge einen mysteriösen, nahezu magischen Schein. Sie hatte längst den Namen dessen vergessen, wonach sich ihr Geist so verzehrte, längst vergessen, was sie vergessen ließ, und es war ihr auch egal. Das einzige was sie interessierte war dieses Gefühl, wenn der Stoff wieder in ihre Venen schießen würde, diese Wärme, die ihre Adern erfüllen würde und die wohlig warmen Dunstschwaden, die ihr ihren Verstand vernebeln würden und die ihr Leben für einen Moment perfekt wirken lassen würden. Sie stöhnte leise auf, als das kalte Edelstahlröhrchen in ihre Haut eindrang, halb aus Schmerz, da ihre Armbeuge von den unzähligen Spritzen bereits völlig vernarbt und gereizt war, zum viel größeren Teil aber war es Befriedigung und die Gewissheit, dass sie in den nächsten Stunden weder den Schmerz, noch die Kälte oder den Regen spüren würde. Sie lehnte sich zurück, ihre Schulterblätter rieben sich durch den rissigen Stoff ihres alten Pullovers an der kalten Betonwand der Eisenbahnbrücke, als sie auf das Eintreten der Wirkung wartete. Einige Sekunden später war es soweit, die so sehnsuchtsvoll erwartete Wolke schien um ihren Kopf herum aufzuziehen und sich geradewegs durch ihren Schädel in ihrem Gehirn festzusetzen, und ihre Gedanken verschwammen in einem grauen Sumpf der Bedeutungslosigkeit. Auch ihre Eisenbahnbrücke verschwand und die Regentropfen, die vorher noch nahezu schmerzhaft laut in ihrem Kopf widergehallt waren schienen nun wie aus einem langen, dunklen Tunnel zu kommen, unwirklich weit entfernt. Und dann, erst dumpf, dann immer deutlicher kam die Erinnerung zurück, diese eine Erinnerung, die ihr so oft in den Kopf kam und sich dort festsetzte, jedesmal wenn die Droge sie wieder von ihrem kläglichen Leben fortholte und sie an diesen Ort brachte, der nur ihr allein gehörte.

Sie war gerade 15 Jahre alt, ihr volles, dunkelgelocktes Haar fiel ihr locker bis über die Schultern, und sie stand inmitten der tanzenden und feiernden Menge ihrer Schulkameraden. Doch tanzte sie nicht. Diese Partys waren ihr schon immer suspekt gewesen, zu laute Musik, das Tanzen konnte kaum als solches bezeichnet werden, und Alkohol war bei weitem nicht das einzige was hier konsumiert wurde. Eigentlich hatte sie garnicht hingehen wollen, sie hatte doch sowieso niemanden, mit dem sie hätte Spaß haben können. Freunde hatte sie keine, wer wollte auch schon befreundet sein, mit dem unscheinbaren Mädchen aus der ersten Reihe, der Klassenstreberin, diesem unbekannten Wesen? Doch hatte ihre Mutter sie überredet hinzugehen, weil alle ja dort hingingen und sie so vielleicht Anschluss finden könnte. Das würde bestimmt spaßig werden, hatte sie gesagt. Und hier stand sie nun, allein, und beobachtete ihre Mitschüler wie sie immer mehr dem Alkohol verfielen. "Hey! Was'n los? Wa-rum stehst'n nur so da? Tri-hink doch auch'n Schlükschn!" Von hinten hatte sich Chris aus ihrer Klasse angeschlichen und seinen Arm um ihren Hals geworfen. Er kam ihr unangenehm nah, sein Atem roch unverkennbar nach Alkohol und sogar Zigarettenrauch als er ihr beim Sprechen geradewegs ins Gesicht hauchte. Sie verzog angeekelt das Gesicht und nuschelte etwas von wegen "keinen Durst", doch damit ließ sich ihr betrunkener Klassenkamerad nicht abwimmeln, im Gegenteil. "Na, also das müssn wir aber m-mal schleunigs ändern!" sagte er nur und zog sie mit sich. Und ehe sie sich versah stand sie mit einem Glas, in der eine bräunlich-trübe Flüssigkeit überschwappte, die für sie mehr nach Putzmitteln als nach einem Getränk roch, in einem Kreis mit Chris und seiner Clique. Die Gruppe stand in einem großen Kreis mitten auf der Tanzfläche, die Musik dröhnte so laut auf ihren Ohren, dass es beinahe schmerzte, und die abschätzenden Blicke der Anderen taten ihren Rest, dass sie sich fühlte wie ein seltsames Insekt, dass keinesfalls hier her gehörte. Doch in all ihrem Unbehagen hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf widerhallen, sie hörte sie sagen, dass sie genau deshalb überhaupt zu dieser Feier gehen sollte, um Kontakte zu knüpfen, um nicht immer die Außenseiterin zu sein, um endlich den Anschluss zu finden. Also entschied sie sich dazu mitzuspielen, ihre Zweifel runterzuschlucken und nur für einen Abend zu versuchen, auch mal cool zu sein, auch mal dazu zu gehören. Sie blickte in die Runde, setzte ihr Glas an und zwang sich einen großen Schluck des Inhalts hinunterzuspülen, was ihr kleine,  anerkennende Blicke von ein paar der Jungen einbrachte. Danach kostete es sie nur wenig Überwindung ebenfalls zu 'tanzen', genau so wie es die Mädchen der Runde taten, die sie vorher nur als die 'Stufenschlampen' gekannt hatte. Sie fühlte sich noch immer nicht wohl dabei, war dies alles doch überhaupt nicht ihre Welt, doch konnte sie nicht umhin zu bemerken, dass ihre Taktik offenbar funktionierte. Immer häufiger wurde ihr ein freundlicher Blick zugeworfen, immer weniger wurde getuschelt, immer weniger fühlte sie sich unerwünscht. So nahm der Abend seinen Lauf, und sie tanzte weiter, und sie trank, und so lernte sie ihre Mitschüler immer besser kennen, so dachte sie zumindest. Mitternacht war schon lange verstrichen als die Musik allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte und die Bedienungen an der Bar die letzte Runde ausriefen. Noch immer stand sie im Kreis von Chris und seinen Freunden und nachdem auch die letzten Jugendlichen von der Security herausgeworfen wurden fragte Robert, einer von Chris' Freunden, ob 'noch wer Lust hätte, mit in den Park zu kommen, nur für 'ne Stunde, zum 'Nachglühen' '. Ein paar Jungs schlossen sich Robert sofort an und als Chris sich zu ihr umdrehte und sie fragte, ob sie nicht auch mitkommen wollte, willigte sie ein. Zwar war sie schrecklich müde, ihr war kalt und der Alkohol hatte ihr ordentlich auf den Magen geschlagen, doch kam die nächste Bahn erst in einer Stunde und sie hoffte, wenn sie mitkäme würde sie das schmale Band, welches sie heute Abend mit einigen von ihnen geknüpft hatte, stärken können, sodass es vielleicht sogar länger halten würde. Also machte sie sich zusammen mit den Anderen auf den Weg in den nahe gelegenen Stadtpark, der um diese Uhrzeit menschenleer und still war. Alle gemeinsam setzten sie sich auf die Tische und Bänke des kleinen, runden Grillplatzes in der Mitte des Parks und blickten gemeinsam in den Sternenklaren Himmel. Vielleicht waren es nur einige Minuten gewesen, die sie alle dort so saßen, doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, eine Ewigkeit in der sie sich dessen klar wurde was in den letzten Stunden passiert war. Sie hatte sich völlig anders gegeben als sie wirklich war, und sie hatte offenbar Erfolg damit, und nun saß sie hier, im Kreis der Menschen, die vielleicht eines Tages ihre Freunde werden würden. So hoffte sie es zumindest, doch dass ihr Wille dazu bereits wenige Augenblicke später auf so bedeutsame Art und Weise auf die Probe gestellt werden würde, damit rechnete sie in diesem Moment nicht im Geringsten. Nahezu unheilvoll knisterte der blaue Frischhaltebeutel, den Robert aus seiner Jackentasche zog, wie leise, säuselnde Stimmen, die sie vor dem warnten, was gleich passieren würde. Robert öffnete den Beutel und reichte ihn herum, doch erst als sie selbst die Plastiktüte in der Hand hielt konnte sie erkennen, was sich im Inneren dieser verbarg. Große, runde Cookies, ähnlich denen, die ihre Mutter immer zu Weihnachten backte, befanden sich darin, doch irgendetwas war anders an ihnen, nur wusste sie noch nicht genau was. Ohne groß länger darüber nachzudenken nahm sie sich einen der Kekse und beäugte ihn misstrauisch. "Beiß ruhig rein, ich verspreche dir, sowas hast du noch nie erlebt!" Sagte Robert mit einer Stimme, die ungewöhnlich belustigt klang. Sie blickte den Jungen genau an, und bemerkte dann dass er seinen Keks schon halb aufgegessen hatte. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, sie hatte eine Haschcookie in der Hand, einen echten Haschcookie. Erschrocken blickte sie auf und sah die erwartungsvollen Blicke der anderen, die ihr alle zu sagen schienen, sie solle sich nicht so anstellen und endlich in den Keks beißen. Es widerstrebte ihr zutiefst, genau das zu tun, doch befürchtete sie, wenn sie nicht den anderen nachziehen würde, ab spätestens Montag wieder ganz alleine auf dieser Welt zu sein, weshalb sie sich höchst widerwillig selbst dazu überredete es dieses eine mal zu probieren. Ein Keks würde schon nicht gefährlich sein, wie viel schaden könnte schon ein Stück Gebäck ausrichten? Also biss sie beherzt in den Cookie, was ihr ein anerkennendes und beglückwünschendes Lächeln der anderen einbrachte. Mit dem seltsam erdigen Geschmack der Kekse konnte sie sich beim besten Willen nicht anfreunden, und auch die Wirkung schien sich nicht einzustellen, dachte sie. Doch dann überkam es sie wie ein Schwall lauwarmen Wassers, plötzlich schien alles um sie viel heller, die Kälte der Nacht war vergessen, eine wohlige Wärme umfing sie. Begierig stopfte sie sich den restlichen Keks in den Mund und schluckte ihn herunter. Nur wenige Minuten dauerte es bis sich die volle Wirkung entfaltete. Es fühlte sich an als würde sie geradewegs aus ihrem Körper emporschweben, zurücklassen was sie so viele Jahre eingesperrt hatte, dem Käfig entfliehen, der ihr eigener Körper war. Sie stieg immer höher, und dann flog sie. Sie flog wie ein Adler über ihre Heimatstadt, weit über Wiesen und Felder geradewegs hinein in den Sonnenaufgang. Sie fühlte sich frei, zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei. Die Sorgen, ihre Einsamkeit, all das lag nun weit unter ihr, hier oben war sie das Mädchen dass sie tief in sich schon immer hatte sein wollen! All ihre zerbrochenen Träume und Hoffnungen überflog sie und ließ sie hinter sich, wie eine schroffe Felsküste, aus der Steine abbrachen und auf Ewigkeit im Meer verdanken. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich. Doch dass dies der Anfang vom Ende für sie sein würde ahnte sie noch nicht. Dass sie sich zurücksehen würde nach diesem Gefühl ahnte sie nicht, dass sie die Schule vernachlässigen würde ahnte sie nicht, dass ihre so innige Beziehung mit ihrer Mutter in die Brüche gehen würde ahnte sie nicht, dass sie die Schule abbrechen und dass all ihr Erspartes für immer härtere Drogen draufgehen würde ahnte sie nicht, dass ihre Sucht ihr ihren Ausbildungsplatz kosten würde und dass sie auf der Straße landen würde, all das ahnte sie damals noch nicht.

Langsam verblasste die Erinnerung, und sie lag wieder auf dem kalten Betonboden ihrer Brücke, ihre einzige Decke eng um ihren knochigen Körper gewickelt. Die Wirkung der Droge hatte nachgelassen und langsam spürte sie wieder die Kälte und den Schmerz. Doch lächelte sie nur leicht und schlief leise ein, in Gedanken noch immer oben in der Luft, im gleißenden Sonnenlicht. Nie wieder würden sich ihre Augen öffnen. Morgen würde ein Mitarbeiter der Müllentsorgung sie finden, die ersten Eiskristalle des Jahres in ihren schütteren Haaren, ihre Haut fahl und weiß, ihre Lippen blau. Man würde niemals feststellen, ob sie erfror, verhungerte oder an der Blutvergiftung starb, die ihre Adern bereits schwarz verfärbt hatte, und keiner ihrer 'Freunde' würde zu ihrer Beerdingung kommen. Lediglich ihre Mutter würde alleine der Einäscherung beiwohnen und bitterliche Tränen vergießen, über das Leid ihrer kleinen, süßen Tochter, die nur wieder lernen wollte zu fliegen.

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