Jedes mal ein Stückchen mehr

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TW: RAPE
-> in diesem Os wird das Thema Missbrauch und Vergewaltigung thematisiert.

Hello,
das ist der erste Teil eines Os der mir sehr am Herzen liegt. Er behandelt ein sehr ernstes Thema mit dem sich leider viel zu viele aus meinem Bekanntenkreis konfrontiert wurden. Ich habe versucht so sensibel an die Sache ranzugehen wie nur möglich. Ich habe auch lange überlegt ob und wie ich dieses Thema überhaupt thematisieren sollte und habe mich schließlich für diese Idee entschieden.

Wenn eure Grenzen schon einmal überschritten wurden, egal in welchen Kontext, bitte bitte sprecht mit Jemandem darüber und verarbeitet es dadurch.

Macht nicht den Fehler und verdrängt es wie ich. Bringt absolut nichts, glaubt mir.

Passt auf euch auf.

All the Love ~ L xx

《♡》

Ich schließe meine Augen, atme tief ein und lasse die Luft langsam wieder aus meinem Mund entweichen. Für einen Moment nehme ich nur das leise Klirren meines Löffels und die Wärme der heißen Teetasse wahr, die sich beide in meinen Händen befinden.

Langsam steigt der Duft meines Lieblingstees in meine Nase.

Gerade hatte ich wiedermal eine Kundin, die ein Medusa-Tattoo wollte. Die sechste in dieser Woche und wir haben gerade erst Mittwoch. Manche von ihnen haben mit mir darüber geredet, andere haben es mehr vorgezogen zu schweigen. Trotzdem hing die Schwere der Bedeutung des Tattoos die ganze Zeit über uns, ein bisschen so wie die Ascherückstände eines Feuer, die durch die Luft wehen und es dir manchmal erschweren zu atmen.

Ich mache diese Tattoos gern, auch wenn es jedesmal auch eine emotionale Belastung für mich ist. Für viele dieser Personen ist das Tattoo ein Weg damit umzugehen, eine Art Abschluss. Aus meiner Sicht ist es das mindeste ihnen dieses kleine bisschen Macht über ihren Körper wieder zurück zu geben.

Meine eigene Schwester wurde vergewaltigt, als sie gerade mal 16 war. Sie war auf dem Weg nach Hause, sie war zum ersten Mal feiern. Sie war alleine und dann ist es einfach passiert. Ganz plötzlich. Er kam aus einer Seitengasse gesprungen, hat sie überrumpelt und hat sie für ihr Leben lang traumatisiert. Es hat ein Jahr gedauert bis man ihn finden konnte und das auch nur, weil er sich selbst gestellt hat. Er konnte nicht mehr mit der Last leben.

Das hätte sich das Schwein wohl besser vorher überlegen müssen.

"Ey... alles gut bei dir?"

Ich öffne meine Augen und sehe zu dem Vorhang, der mich von dem Tattoostudio abgrenzt. Zayn steht dort, hält den Vorhang mit seiner rechten Hand zur Seite und sieht mich besorgt an. Seine eine Gesichtshälfte liegt im Dunkeln, da ich vorhin das Licht ausgemacht habe, als ich den Personalraum betreten habe.

"Es geht schon wieder" ,lüge ich mit einem geschlossenen Lächeln und sehe wieder zu meiner Tasse. Ich nehme den Teebeutel raus, lasse ihn abtropfen und werfe ihn rutiniert in den Mülleimer.

"War es wieder ein Medusa-Tattoo?" ,fragt er vorsichtig nach und betritt nun völlig den Personalbereich. Den Vorhang lässt er dabei los, weshalb der Raum mit einem mal wieder dunkler wird.

"Mhm."

Vorsichtig setzte ich die Tasse an und nehme einen Schluck von meinem heißen Tee.

"Die werden immer mehr. Ich hab gestern auch schon eins gemacht. Glaubst du es liegt daran, dass mittlerweile einfach mehr Leute darüber sprechen oder..."

Zayn vollendet den Satz nicht, das muss er auch gar nicht. Ich weiß genau worauf er hinaus will und mir gefällt der Gedanke überhaupt nicht, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mir diese Frage nicht auch schon gestellt habe.

"Hoffen wir einfach es ist das erste" ,sage ich missmutig.

Bevor Zayn noch etwas erwidern kann, ertönt die Klingel an der Rezeption.

"Ich muss, das ist bestimmt mein 14 Uhr Kunde" ,sage ich beinahe erleichtert, froh darüber von dem Thema wegzukommen. Raus aus dem dunklen Raum in das grelle Studio.

Leide konnte ich meinen Tee nicht leer trinken, weshalb ich ihn einfach Zayn in die Hand drücke.

Ich setzte mein Kundenlächeln auf, während ich zu unserer Rezeption laufe. Davor wartet ein Junge, der nicht wirklich so aussieht als sei er schon Achtzehn. Er wirkt sehr jung auf mich, seine Körperhaltung ist sehr verunsichert. Seine Schultern hängen nach vorne, den Kopf hat er leicht gesenkt. Die Hände hat er auf der Rezeption liegen, weshalb mir auffällt wie er nervös mit ihnen spielt. Seine Locken fallen ihm ein wenig ins Gesicht, was an der Art liegt wie er sie gestylt hat.

Ich bin sehr schlecht darin das richtige Alter von Leuten einzuschätzen, weshalb ich mir eigentlich so gut wie immer den Ausweis zeigen lasse, sobald ich mir nicht ganz sicher bin.

"Hey, du musst Harry Styles sein, richtig?" ,frage ich zur Sicherheit nochmal nach, da es durchaus auch ein Kunde von Luke oder Missy sein könnte.

"Ehm ja, ich bin hier für ein Tattoo."

Ich widerstehe dem Drang dazu etwas zu sagen, da wir hier nur Tattoos anbieten, aber da er sowieso schon so nervös ist, sehe ich lieber davon ab.

"Okay, ich müsste nur vorher nochmal kurz deinen Ausweis sehen, damit ich mir sicher sein kann, dass du wirklich schon volljährig bist."

"Oh ja 'tschuldigung" ,nuschelt der Lockenkopf, während er umständlich in seiner Hosentasche 'rumkramt. Schließlich holt er seinen Ausweis heraus und hält ihn mir hin. Ich nehme ihn entgegen.

"Erster Februar 1994... hey das ist ja heute! Du hast heute Geburtstag?" ,frage ich überrascht und sehe von dem Personalbild wieder zu der echten Version auf. Er beißt sich auf die Unterlippe und nickt langsam.

"Dann wünsch' ich dir Alles Gute zum Geburtstag" ,gratuliere ich ihm mit einem Lächeln, während ich ihm seinen Ausweis zurück gebe.

"Danke" , ein leichtes Lächeln huscht über sein Gesicht.

"Naja, dann lass uns mal in einen freien Raum gehen. Dort können wir dann alles besprechen. Ich bin übrigens Louis" ,stelle ich mich vor, auch wenn er das eigentlich schon wissen sollte. Schließlich wollte er unbedingt bei mir einen Termin.

"Sooo, was hast du dir den vorgestellt?" ,frage ich nachdem Harry sich auf die Liege gesetzt hat und jetzt mit den Beinen baumelt. Ich sitzte ihm gegenüber auf meinem mobilen Stuhl. Abwartend sehe ich ihn an, während er wieder den Blick senkt und mit seinem Fingern spielt. Er öffnet den Mund einen Spalt, bevor er ihn direkt wieder schließt und auf seine Unterlippe beißt. Auf einmal vergräbt er sein Gesicht in den Händen und nuschelt irgendetwas, während er von der Liege rutscht.

"Was? Könntest du das bitte nocheinmal wiederholen? Ich hab dich leider nicht verstanden" ,bitte ich ihn und halte ihn sanft am Arm zurück, als er aus dem Zimmer stürmen wollte.

Langsam nimmt er seine Hände von dem Gesicht und sieht mich an. Unruhig huschen seine grünen Augen hin und her.

Ich merke, dass er mir etwas sagen möchte, es aber einfach nicht über seine Lippen bekommt.

"Harry, du musst mir sagen wo das Problem ist, damit ich dir helfen kann. Ich weiß, dass das manchmal schwer sein kann, aber vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung."

"Ich glaub, ich hab nicht genug Geld für so ein Tattoo. Ich- ich hab am Telefon schon gefragt wie viel es denn ungefähr kosten wird und ich hab wirklich versucht das Geld zusammenzukratzen, aber es ist nicht genug. Entschuldigung, dass ich deine Zeit verschwendet habe" ,wiederholt er sein Gesagtes diesesmal erwas deutlicher und ausführlicher. Ich bekomme natürlich direkt Mitleid mit ihm und würde ihm am liebsten das Tattoo schenken, wenn ich könnte.

Ich denke das meinte Zayn damit, als er meinte ich hätte mehr Herz als Verstand.

"Hey, atme erstmal durch und setzt dich wieder. Ich bin mir sicher wir finden schon einen Weg. Sag mir doch mal für den Anfang, was du dir vorgestellt hast und dann kann ich dir sagen, was im Bereich des möglichen ist und was nicht. Und falls es tatsächlich nicht reichen sollte, kommst du einfach nochmal, sobald du genug hast okay?"

Harry nickt leicht.

Seine Hände liegen in seinem Schoß und er beginnt wieder mit seinen Finger zu spielen. Vermutlich ist es eine Art sich selbst zu beruhigen.

"Hast du eine Lieblingsband?" ,frage ich deshalb als mir ein Gedanke kommt.

"Ehm Fleetwood Mac" ,antwortet Harry etwas zögerlich. Nickend nehme ich seine Antwort wahr, verbinde mein Hände mit den Lautsprechern in dem Raum und öffne Spotify. Ich gehe auf das erst beste Album und lasse es als Hintergrundmusik leise laufen, in der Hoffnung, dass Harry sich dadurch ein wenig sicherer fühlt.

"Gut okay, also, hast du schon irgendeine Vorstellung wie es aussehen soll?" ,frage ich weiter, um das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zu lenken.

"Ich hab ein Bild dabei. Also es muss nicht genau so aussehen, ich dachte ich bringe es nur als Inspiration mit" ,murmelt Harry und zieht sein Handy schon aus der Hosentasche. Geduldig warte ich, bis er mir zögerlich das Display entgegen hält.

Etwas erschrocken blicke ich in das Gesicht einer Medusa. Damit habe ich heute wirklich nicht mehr gerechnet und ich muss mich wirklich anstrengen meine Überraschung nicht zu zeigen.

"Du weißt wofür sie steht oder?" ,frage ich vorsichtig nach, weshalb Harry eine Grimasse zieht.

"Ich frage nicht danach, weil ich wissen möchte aus welchem Grund du sie dir stechen lässt. Es gibt nur erstaunlich viele Leute die nicht wissen, was mit ihr verbunden wird, weshalb ich nur Sichergehen möchte, dass du diese Bedeutung weißt, bevor du sie dir stechen lässt. Viele lassen sie sich auch nur stechen, weil sie die Figur mögen" ,erkläre ich mich und versuche, diesen Part nicht allzu unangenehm zu machen.

"Ich... ich bin mir ihrer Bedeutung bewusst."

Ich nicke.

Ich presse die Lippen aufeinander.

"Du hast gesagt, dass das nur ein Inspirationsbild ist, richtig? Okay, wie groß soll sie ungefähr werden?" ,frage ich weiter und versuche meine Gedanken zur Seite zu schieben, die immer lauter werden.

"Zehn Zentimeter"

"Wo soll es hin?"

"Oberschenkel."

"Möchtest du irgendwelche Farben oder schwarz weiß?"

"Die Farben hätte ich gern wie hier ungefähr" ,antwortet Harry und deutet auf sein Handydisplay.

Ich nicke leicht und überschlage den Preis grob in meinem Kopf.

"Wie viel Geld hast du denn dabei?" ,frage ich als nächstes und sehe wieder in Harrys Augen, die sich rasch abwenden. Wieder greift er in seine Hosentasche und zieht ein paar verkrumpelte Scheine und einzelne Münzen aus seiner Hosentasche.

"Das müsste ein bisschen über 50 Euro sein."

Das Tattoo würde 150 kosten.

"Dann kann ich dir mit Freude mitteilen, dass es völlig ausreicht" ,verkünde ich mit einem breiten Lächeln, was Harry, zum ersten Mal seit er hier ist, ein ehrliches Lächeln entlockt.

"Ich würde kurz eine Skizze anfertigen und dann können wir nocheinmal gemeinsam drüber gehen, bevor wir mit dem tätowieren starten. Möchtest du so lang etwas zu trinken?"

Harry schüttelt seinen Kopf, weshalb ich mit meinem Stuhl zu dem Tisch rolle und anfangen wieder einmal Medusa zu skizzieren.

"Darf ich dir zuschauen?" ,fragt Harry vorsichtig, so als habe er Angst etwas falsch zu machen. "Klar, du kannst auch gern mit mir währenddessen sprechen und Wünsche äußern falls dir etwas einfällt" ,versichere ich ihm.

Harry nickt und stellt sich neugierig hinter mich. Ab und zu stelle ich ihm ein paar Fragen zu der Skizze, die er knapp beantwortet.

Als ich fertig bin und ich mich versichert habe, dass sie genauso aussieht wie er es möchte, beginne ich mit den Vorbereitungen. Mittlerweile ist alles Routine für mich, was bei Harry natürlich überhaupt nicht der Fall ist. Es ist sein erstes Tattoo, weshalb er jede meiner Bewegungen genau beobachtet.

"So, du wolltest es auf dem Oberschenkel haben, nicht? Dann müsstest du eben deine Hose ausziehen, du kannst sie auch nur bis zum Knie runterziehen das reicht völlig" ,versichere ich ihm, während er schon seine Hose aufknöpft und sie nach unten zieht. Sobald er es sich auf der Liege bequem gemacht hat, erkläre ich ihm die nächsten Schritte.

"Wo möchtest du es haben?"

Harry zeigt auf eine Stelle, ich nicke und hole den Rasierer. "Ich muss die Stelle eben kurz Rasieren, ist das okay für dich?" ,frage ich nach, um mich zu versichern.

Wieder nickt Harry.

Nachdem ich alles vorbereitet habe und unter Absprache mit Harry den Abdruck auf die richtige Stelle plaziert habe, frage ich Harry noch ein letztes Mal ob er sich sicher ist.

"Ja bin ich."

Ich nicke und setzte an.

"Versuch bitte still zu halten und melde dich, wenn es nicht mehr geht. Wir können zwischendurch auch Pausen machen. Vermutlich werde ich um die vier Stunden brauchen" ,teile ich ihm noch mit und bekomme daraufhin nur ein zustimmendes Brumen.

"Geht es vom Schmerz?" ,frage ich nicht lange danach. Immerhin ist es sein erstes Tattoo, da kann man sich im Vorhinein noch nicht wirklich auf den Schnerz einstellen, weil man gar nicht weiß, wie dieser sich anfühlen wird.

"Ja, ist aushaltbar" ,antwortet Harry und klingt dabei noch recht entspannt. Ich nicke leicht.

Es vergehen einige Minuten, in denen wir beide schweigen. Ich, weil ich mich konzentriere und Harry, weil er sich erstmal an die Situation gewöhnen muss.

"Du machst solche Tattoos oft, oder?" ,fragt Harry schließlich interessiert.

"Du meinst die Medusa Tattoos?"

"Mhm."

"Joa, ich habe sie definitiv schon ein paar mal verewigt" ,antworte ich mit einem geschlossenen Lächeln, bevor ich wieder ansetzte.

"Ich hab auf TikTok eine Frau gesehen, die hat sich hier ihr Tattoo stechen lassen von dir. Sie hat gesagt du wärst sehr lieb und verständnisvoll gewesen. Und sie meinte auch, dass du einem zuhören würdest." Den letzten Satz flüstert der Junge beinnahe. Ich schaffe es gerade noch so ihn zu verstehen.

Ich setzte ab und sehe im in die Augen. Verunsichert erwidert er meinen Blick. Ich versuche zu lächeln.

"Wenn du darüber sprechen möchtest höre ich dir zu, aber du darfst auch jeder Zeit wieder aufhören, falls du dich unwohl fühlen solltest" ,versichere ich ihm und sehe ihn eindringlich an. Harry nickt leicht. "Alles was du mir erzählst, bleibt zwischen uns, versprochen."

Wieder nickt er.

Ich warte noch einen kurzen Moment, bevor ich mich wieder an meine Arbeit mache. Innerlich baue ich meine Mauern auf, während ich auf Harrys Geschichte warte. Es fällt mir schwer mich von den Gefühlen anderer abzugrenzen, aber ich muss es trotzdem versuchen. Schließen wöre es ziemlich ungünstig in Tränen auszubrechen, während man tätowiert.

"Ehm, ich weiß nicht genau- also... Ich wurde mit sieben- also ich war sieben Jahre alt, als- als mein Vater mich das erste Mal..." Harry stoppt seine Erzählung und holt tief Luft, bevor er mit zitternder Stimme weiterspricht. Bei mir hat sich allerdings schon nach diesen Sätzen meine Magengegend vor Übelkeit zusammengezogen, da ich mir schon denken kann, wie Harrys Geschichte ungefähr aussieht.

"M-mein Vater. Hat mich-" Erneut bricht er ab.

"Lass dir Zeit, es ist okay. Du schaffst das" ,rede ich ihm gut zu, während er weiterhin versucht seine Kräfte für das kommende zu sammeln.

"Er hat mich sexuell Missbraucht. Mehrere Male und einmal auch..." Zittrig holt er Luft.

"Einmal hat er mich auch vergewaltigt."

"Wohnst du noch bei ihm?" ,frage ich vorsichtig nach und unterdrücke das Gefühl ihn zu bemitleiden. Meine erste Reaktion in solchen Situationen ist es immer noch mein Mitleid auszusprechen, doch mit der Zeit habe ich gelernt, dass das nicht der richtige Umgang mit solchen Problemen ist.

"Nein. Mom hat ihn rausgeworfen sobald sie es erfahren hat. Das war vor fünf Jahren, ich hab ihn seit dem nicht mehr gesehen."

"Wie geht es dir damit?" ,frage ich und scheine Harry, damit etwas verwirrt zu haben, denn er stockt etwas, bevor er vorsichtig eine Nachfrage stellt.

"Mit was genau?"

"Mit dem Missbrauch. Bist du in Therapie? Wenn du die Fragen nicht beantworten möchtest, dann tu das bitte auch nicht" ,erinnere ich ihn noch einmal daran, da ich viele Leute kenne, die es nicht schaffen für sich eine Grenze zu ziehen und aus Nettigkeit mehr erzählen, als sie eigentlich möchten.

"Ja, ich war in Therapie, ist mittlerweile aber einfach zu teuer. Ich hab es aber nie wirklich geschafft darüber zu sprechen, also die Worte auszusprechen. Das ist das erste Mal" ,gesteht Harry leise, was ein Ziehen in meiner Brust auslöst.

Das muss so ein wichtiger Moment für ihn gewesen sein.

"Es ist gut, dass du schaffst es auszusprechen. Ich weiß es tut weh und kostet Überwindung, aber es wird mit jedem Mal besser" ,versichere ich ihm mit dem Gedanken an meine Schwester.

"Glaubst du wirklich?"

Seine Stimme ist so zart, nur ein Hauchen und doch konnte ich sie über die lauten Geräusche der Tatöwiermaschine hinaus wahrnehmen und die zaghafte Hoffnung heraushören, die gerade ihren Anfang nimmt.

"Ja, weil mit jedem Mal, in dem du es aussprichst, du dir ein kleines bisschen von der Macht zurückholst, die er über dich hatte. Er hat es als Geheimnis halten wollen und indem du es nicht als dieses behandelst, wehrst du dich gegen ihn. Jedes mal ein Stückchen mehr."

"Jedes mal ein Stückchen mehr. Das hat irgendwie etwas tröstliches" ,wiederholt Harry meine Wörte leise, was mich zum Lächeln bringt.

"Ich hab' das früher immer meiner Schwester gesagt. Es ist wichtig sich auf die kleinen Fortschritte zu fokussieren. Sie geben einem mehr Mut durchzuhalten. Es ist wie eine Treppe, jeden Tag läufst du eine Stufe mehr nach oben, bis du eines Tages am Ziel angekommem bist" ,erkläre ich ihm stolz meinen Vergleich, den ich mir pber die Jahre ausgedacht habe. Für viele ist es schwer mit etwas anzufangen oder etwas zu bewältigen, weil es nach so viel aussieht. Doch wenn man sich seinen Weg in ganz viele Zwischenziele einteilt und beim Erreichen jedes einzelnen Ziels seinen Fortschritt feiert, verliert man viel seltener seine Motivation weiterzumachen.

"Danke" ,kommt es so ehrlich von dem Lockenkopf, dass mir mein Herz schwer wird.

"Wofür?"

"Du bist der erste, der mich nicht direkt bemitleidet hat" ,erklärt Harry.

"Es ist nie gut Leute in eine Opferrolle zu schieben. Die Gefahr ist dann viel zu groß, dass sie dort nicht mehr rauskommen. Man ist nur ein Opfer, wenn man es zulässt."

"Willst du mir jetzt sagen, dass ich einfach nur kämpfen muss, um da rauszukommen?" ,fragt Harry und zieht unzufrieden seine Nase hoch, was mir nicht entgeht, da ich gerade absetze und zu ihm sehe. Ich schüttel meinen Kopf, bevor ich weiter mache.

"Nein. Mit einem Kampf hat das nichts zu tun. Hierbei geht es mehr darum die eigene Einstellung zu ändern. Sich nicht mehr als Opfer anzusehen. Es ist passiert, du kannst es nicht ändern. Du musst nach vorne schauen und versuchen irgendwie weiter zu machen. Damit meine ich nicht, dass du das Geschehene verdrängen sollst. Es ist verdammt wichtig darüber zu sprechen, es aufzuarbeiten und seinen Frieden zu finden, aber es ist eben auch verdammt wichtig danach weiterzumachen. Nach vorne zu sehen. Rückfälle und negative Gefühle sind vollkommen okay und du solltest sie auch zulassen. Du musst nur aufpassen, dass sie dich nicht verschlingen und in ein zu tiefes Loch reißen" ,führe ich meine Aussage weiter aus, da ich auf gar keinen Fall möchte, dass Harry denkt sein Problem könnte mit einem so einfachen Lösungsansatz behoben werden wie "kämpfe". Es ist auch okay mal nicht zu kämpfen, niemand kann für immer stark sein.

Es folgt eine ziemlich lange Zeit in der wir wieder nicht reden. Ich vermute mal, dass Harry mein Gesagtes erstmal sacken lassen muss.

"Wie schaffe ich das? Also meinen Frieden damit zu finden?" ,fragt er schließlich und seufze leise. Das ist eine ziemlich schwere Frage.

"Das ist schwer zu sagen. Jeder hat da eine eigene Vorgehensweise. Manchen hilft es das ganze immer wieder aufzuschreiben, andere schreiben Lieder darüber oder Gedichte. Malen Bilder, sprechen mit Freunden darüber. Nur eins ist sicher, es ist ein längerer Prozess den man dabei gehen muss, aber er ist machbar. Jedes mal ein Stückchen mehr."

"An dir ist echt ein Therapeut verloren gegangen" ,sagt Harry nach einiger Zeit, als ich gerade wieder abgesetzt habe. Ich muss wegen dieser Aussage etwas lachen, bevor ich mich mit einem Schmunzeln wieder ans tätowieren mache.

"Glaub mir, ich bin besser hier aufgehoben."

Harry erwidert daraufhin nichts.

Wieder schweigen wir für eine Zeit, bis mir etwas einfällt, was meine Schwester mir einmal erzählt hat. Ihr hat dieser Fakt geholfen, sie meinte er hatte etwas tröstliches.

"Harry?"

"Mhm?"

"Wusstest du dass sich nach sieben Jahren alle deine Zellen erneuert haben? Das heißt nach sieben Jahren hast du einen Körper, der noch nie von ihm berührt wurde" teile ich ihm dieses Mal mit leiser Stimme mit, so als wäre das ein Geheimnis, das nur uns beide etwas angeht.

Ein Lächeln schleicht sich auf seine Lippen.

"Das ist eine schöne Vorstellung."

《♡》

"Wie fühlst du dich?" ,frage ich mit einem leichten Lächeln, nachdem ich die Folie über sein fertiges Tattoo gemacht habe.

"Kaputt, aber glücklich" ,antwortet Harry mit halb offenen Augen und lächelt mich an. Seine Haare sind zerzaust, da er zwischendurch an ihnen gezogen hat, weil es doch mehr weh getan hat, als erwartet. Auch seine Lippen haben eine dunklere Farbe bekommen, durch das viele drauf beißen. Er sieht wirklich sehr fertig aus.

"Bist du glücklich mit dem Tattoo? Bitte sei ehrlich, du verletzt meine Gefühle nicht, immerhin musst du dein restliches Leben damit herumlaufen."

Harry beäugt daraufhin sein fertiges Tattoo zum ersten Mal genau. "Sie ist wunderschön" ,kommt es nach einer Weile von ihm und ich fange an erleichtert zu lächeln. Harry rutscht mit einem Mal von der Liege und macht anstalten aufzustehen.

"Vorsichtig nicht das-" setzte ich an und springen schon förmlich von meinem Stuhl, um ihn aufzufangen, falls er umkippen sollte. Viele meiner Kunden haben die Zeitspanne unterschätzt in der sie tätowiert wurden und was das mit dem Körper machen kann. Schnelles Aufstehen ist da nicht wirklich förderlich.

Harry hatte allerdings nie vor zu laufen, sondern wollte mich einfach nur umarmen. Sobald ich das realisiere, entspanne ich mich augenblicklich und halte ihn einfach nur in meinen Armen.

"Danke für das Tattoo und für alles andere. Ich hab das gebraucht" ,flüstert Harry gegen meine Schulter, weshalb ich die Umarmung noch ein bisschen verstärke. Ich antworte daraufhin nichts, sondern versuche nur die Tränen zurückzuhalten. Es schockiert mich immer wieder für wie wenig manche Menschen dankbar sein können.

Ich weiß nicht wie lang wir dort so stehen, aber als ein Klopfen zu vernehmen ist, lösen wir uns sofort von einander und sehen zur Tür. Zayn steckt vorsichtig seinen Kopf in das Zimmer und lächelt entschuldigend.

"Hey, ich wollte nur wissen wie lang ihr noch ungefähr braucht, weil wenn es noch sehr viel länger über unsere Öffnungszeiten hinausgeht würd' ich dir den Schlüssel da lassen Lou. Ich müsste nämlich heute noch wohin." Bei dem letzten Satz, zieht er beide Augenbrauen hoch und sieht mich direkt an.

Ah stimmt, er hat heute ein Date.

"Eh nein wir sind eigentlich gerade fertig, Harry muss nur noch bezahlen."

"Ah perfekt, dann kann ich das auch machen, während du hier aufräumst" ,bietet Zayn mit einem Lächeln an. Zuerst nicke ich bei seinem Vorschlag, doch dann fällt mir wieder ein, dass Harry ja eigentlich nicht genug Geld hat.

"Oh äh, könntest du vielleicht hier aufräumen und ich mach das mit dem Geld? Bitte" ,frage ich meinen besten Freund und versuche mich an einem Schmollmund, den er mir Augenrollend abnimmt.

"Gut, dann eben so 'rum, aber vielleicht sollte sich Harry noch die Hose hochziehen, bevor ihr geht" ,wirft Zayn noch hinterher, weshalb ich überrascht zu Harry sehe. Das hatte ich völlig vergessen. Mit hochrotem Kopf versucht Harry sich seine Hose hochzuziehen. Damit die Folie nicht verrutscht, helfe ich ihm dabei und nachdem er den letzten Knopf zugemacht hat, lege ich meine Hand an seinen unteren Rücken und leite ihn an Zayn vorbei aus dem Raum. Natürlich nicht ohne ihn zumindest ein bisschen böse anzuschauen, immerhin ist Harry wegen ihm rot angelaufen.

"Sooo das wäre dann 50 Euro, falls noch irgendwelche Fragen bezüglich des Tattoos aufkommen sollten, kannst du jederzeit hier anrufen, aber eigentlich habe ich dir alles wichtige gesagt" ,ratete ich den Text wie immer runter und versuche dabei nicht in einen allzu monotonen Ton zu verfallen.

Harry nickt leicht und gibt mir das Geld. Ich zähle es kurz nach und stelle fest, dass es fünf Euro zu viel sind.

"Das sind fünfundfünzig Euro" ,stelle ich fest und will ihm das überschüssige Geld wieder zurück geben, doch er schüttelt den Kopf.

"Ich hab' gesehen, dass jeder von euch Mitarbeitern eine Trinkgelddose hat, ich würd' dir gern die fünf Euro geben" ,kommt es mit einem leichten Lächeln von ihm, doch ich kann das wirklich nicht annehmen, weshalb ich die Münzen vor ihm auf die Rezeption legen. Ich möchte nicht, dass er sich so fühlt, als würde er mir irgendetwas schulden. Ich habe das alles sehr gern gemacht.

"Du hast gesagt du hast nicht so viel Geld, du hast für das Tattoo gespart und ich finde du solltest das restliche Geld behalten."

"Und ich finde du bist viel zu nett und solltest auch mal nach dir schauen" ,antwortet Harry daraufhin, nimmt das Geld in die Hand und steckt es kurzerhand selbst in die Trinkgelddose mit meinem Namen drauf. Mein Mund öffnet sich schon im Protest, doch da stoppt er mich auch schon.

"Weißt du, es gibt einen Grund warum so viele ausgerechnet zu dir kommen, um sich ein Medusa Tattoo stechen zu lassen. Du bist ein toller Mensch und du hast mir heute sehr weiter geholfen. Danke."

"Uhm gern gesehen" erwiedere ich überfordert, da ich noch nie sonderlich gut mit netten Worten umgehen konnte, die an mich gerichtet sind.

Harrys Mundwinkel zucken leicht nach oben, bevor er nickt und sich zur Tür umdreht.

"Bis bald Louis" ,ruft er noch über seine Schulter und winkt dabei leicht, bevor er im nächsten Moment schon das Studio verlassen hat.

"Tschüss" ,murmel ich immer noch überfordert und verwirrt von Harrys plötzlichem selbstbewusstsein. Stirnrunzelnd starre ich die Tür an und frage mich ab welchem Punkt Harry so selbstbewusst geworden ist. Im Vergleich zu heute Mittag war sein Auftreten schon sehr viel selbstsicherer.

"Ok, ich hab ganz viele Fragen."

Erschrocken zucke ich zusammen und sehe zu Zayn der neben mir steht. Er nimmt mir das Geld aus der Hand und sortiert es in die offene Kasse ein. Verwundert sieht er mich an.

"50 Euro? Für Sechs Stunden? Außerdem sah das Motiv relativ groß aus" ,hebt Zayn hervor und mustert mich irritiert. Ich fange an ertappt zu grinsen und ziehe mein Genick ein. Zayns Verwirrung verschwindet innerhalb von ein paar Milisekunden aus seinem Gesicht.

"Lou" ,fängt er vorwurfsvoll an, doch ich grätsche ihm direkt dazwischen.

"Er hatte nicht genug Geld und er hat extra darauf gespart. Ich konnte ihn nicht wegschicken. Ich zahl die restlichen 100 Euro selbst."

"Was für ein Motiv hatte er?"

"Ein Wal" antworte ich ohne zu zögern.

Zayns Augen verengen sich. Natürlich fällt er nicht auf meine Lüge herein. Verdammt.

"Louis William Tomlinson."

"Ist ja gut, vielleicht wollte er eine Medusa" ,gebe ich klein bei, weshalb Zayn den Kopf schüttelt.

"Louis du kannst nicht immer die Preise runter drücken, nur weil jemand ein traumatisches Erlebnis mit dem Tattoo verarbeiten will" ,versucht Zayn mir zum vermutlich fünfzigsten Mal klarzumachen.

"Ich weiß doch Zayn, aber er hat mir so leid getan und da-"

"Hast du genug Geld auf der Seite, um das zu bezahlen oder brauchst du unterstützung?" ,fragt er seufzend, da er mittlerweile weiß, dass mit mir bei solchen Geschichten nicht mehr zu diskutieren ist.

"Nein, alles gut. Ich hab letzte Woche überstunden gemacht, weil ich mir doch ein Zugticket nachhause kaufen wollte. Das müsste aussreichen."

"Louis-"

"Nein ich möchte weder Geld noch eine Standpauke darüber, dass ich auch nach mir selbst schauen muss. Das tue ich tatsächlich sehr gut Zayn. Ich hab mir gestern sogar etwas gekocht."

Zayn möchte zuerst darauf etwas erwidern, doch entscheidet sich kopfschüttelnd dagegen.

"Dieses Verhalten wird dir irgendwann noch das Genick brechen" ,seufzt Zayn und sieht mich kopfschüttelnd an.

Vermutlich hat er damit recht, aber ich kann mich einfach nicht dazu bringen für manche Tattoos mehr zu verlangen. Und am Ende des Tages bin ich lieber ein bisschen Ärmer, als aus dem Trauma anderer Leute Geld zu machen. Unser Chef hat nämlich vorgeschlagen die Preise der Medusa-Tattoos zu erhöhen, da diese ja so gefragt seien.

Er ist ein Arschloch, weshalb ich mit den Preisen bei diesen Tattoos extra kulanter bin.

Ich hätte für Harrys Tattoo eugentlich noch mehr als 150 Euro berechnen müssen, aber das Arschloch hat schon genug von dem Geld, da brauche ich keinen armen Harry über den Tisch ziehen.

Ja, vermutlich hat Zayn recht damit, dass mir dieses Verhalten irgendwann das Genick brechen wird, aber wenigstens habe ich bis dahin ein reines Gewissen.

Für alles was danach kommt wird sich bestimmt schon eine Lösung finden.

~To be continued~

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