Kapitel 7

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Ava konnte den Blick nicht abwenden. Es begann als sie das Auto vor dem Haus parkte und ihre Augen den Waldrand streiften. Ein stiller Gedanke streifte so sachte über ihren Verstand. Bevor sie ihn ergreifen konnte, hatte ein Windstoß, der ihr blondes Haar aufwirbelte, ihn dahin getragen. Unaufhaltbar davon gewirbelt wie der grüne Ballon, der ihren Händen vor knapp sechs Jahren an der gleichen Stelle entrissen worden war.

Sie schüttelte den Gedanken ab und stieg die Treppen zur Haustür hinauf, während sie den Einkaufsbeutel auf ihrem Arm zu balancieren versuchte. Nachdem sich ihr Weg von Cyrias getrennt hatte, hatte es sie in einen kleinen Hobbyladen gezogen, in dem sie mehr ausgegeben hatte als angepeilt. Genauso schwer fühlte sich ihr Beutel mittlerweile an und sie musste mit den Trägern kämpfen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, von ihren Schultern zu rutschen, während sie mit dem Türschloss zu Gange war. Sie machte sich eine mentale Notiz, es bei der nächsten Gelegenheit zu ölen.

Vorsichtig stellte sie die Tasche auf dem Küchentresen neben dem Kühlschrank ab und begann die Einkäufe auszuräumen. Während sie das Mehl im Schrank verstaute, fiel ihr Blick in das umliegende Wohnzimmer. Dieses Ziehen in der Magengrube – ihr ständiger Begleiter seit ihrer Ankunft – machte sich bemerkbar, als ihr Blick über die Szenerie glitt. Der Raum sah aus, als hätte ein Tornado des Chaos darüber gewütet.

Auf dem Wohnzimmertisch lag das begonnene Strickmuster, das mit seinen Tiefrot und Sonnengelb in diesem Haus deplatziert wirkte. Der einzige staubfreie Fleck auf dem Sofa erinnerte sie an den Platz, an dem sie sich mit der Wolle in der Hand gesessen hatte, um sich abzulenken. Tief in ihrem Inneren hatte sie gehofft, dass sich ein Gefühl von Zuhause in ihr breit machen würde, wenn sie sich mit etwas Gewohntem beschäftigte. Doch es hatte nichts genützt. Ihre Augen waren immer wieder von den hölzernen Nadeln in ihren Händen zu der Stelle gewandert, an der ihre Tränen auf dem smaragdgrünen Teppich getrocknet waren und die Flusen zusammengeklebten.

In einem Anflug von Wut hatte sie sich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen, die Nadeln fallen gelassen und mit aller Kraft am Teppich gezerrt, bis er unter den Beinen des Couchtisches zerrissen war. Nun waren nur noch unter den Tischbeinen, die sie nicht abgehoben bekommen hatte, grüne Überreste zu erkennen. Den Rest hatte sie in die Speisekammer verstaut, als könnte sie damit noch eine Weile so tun, als wäre nichts passiert. Um es zu leugnen, wie sie es tat, seid ihr Onkel sie aus dem Haus geschleift hatte.

Scham überkam sie und sie drehte sich weg. Sie nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich auf die verbleibenden Einkäufe zu konzentrieren, doch aus dem Augenwinkel entdeckte sie immer wieder den kahlen Fleck. Deshalb wandte sie den Kopf letztendlich starr auf dem Fenster. Vor ihr tanzen die Baumkronen der alten Tannen am Waldrand im kalten Mittagswind. Ihre Augen hefteten sich darauf, als würde sie etwas zwischen den Bäumen regelrecht hypnotisieren.

Pikes Worte hallten in ihrem Kopf wieder wie ein dumpfes Echo. Hatte ihr Vater tatsächlich so viel Zeit mit irgendwelchen Erforschungen im Wald verbracht, wie Pike behauptete? Ihr fiel kein Grund ein, weshalb Pike sowas einfach behaupten sollte. Doch wie hatte ihr all die Jahre entgehen können, dass ihr Vater offenbar regelmäßig im Ireniac Forest herum gestromert war?

Ihr Blick fiel auf den Ring, der noch immer ihren Finger zierte. Nachdenklich fuhr sie mit der Fingerkuppe über ihren Stein. Dieses Geschenk ihres Vaters war für sie schon immer etwas Besonderes gewesen. Plötzlich betrachtete sie das Schmuckstück allerdings aus völlig neuen Augen. Welche Bedeutung es für ihren Vater gehabt haben könnte, würde sie niemals erfahren. Genauso wie sie auf so viele weitere Fragen, die sie an ihn hatte, niemals eine Antwort erfahren würde. Außer, sie begab sich selbst auf die Suche danach.

Ein ungeheurer Drang nach Antworten schlug die Zähne tief in ihr Fleisch und zerrte an ihr. Zerrte sie in Richtung des Waldes. Ihr Körper machte sich selbstständig, bevor sie etwas dagegen tun konnte. In Windeseile packte sie die letzten Dinge in den Kühlschrank und ließ die restlichen Einkäufe auf der Küchentheke stehen. Bis zu ihrem Treffen mit Rufus blieben ihr noch mehrere Stunden. Genug Zeit für einen kurzen Abstecher in den Wald.

Eine Stunde zuvor hätte sie sich vermutlich selbst einzureden versucht, dass sie nur einen kurzen Spaziergang machte, ohne jegliche Hintergedanken zu hegen. Jetzt machte sie sich die Mühe gar nicht erst. Sie wollte wissen, wie viel Wahrheit in Pikes Worten steckte. Sie musste es wissen.

Da sie ihre Schuhe und ihre Jacke nicht ausgezogen hatte, seit sie aus der Stadt zurückgekommen war, nahm sie nur ihren Schal von der Garderobe. Bei ihrem Einkaufsbummel hatte sie ihn vergessen und es später bereut. Mit einer Hand griff sie in ihre rechte Jackentasche und fuhr mit einem Finger über das Metall des Haustürschlüssels. Hier durfte sie sich nicht aussperren, doch seit einer Einbruchsserie im vergangenen Winter in der Nachbarschaft ihres Onkels war sie nicht mehr bereit, einen Schlüssel draußen zu drapieren. Besonders nicht, wenn weit und breit keine anderen Häuser standen.

Für einen Moment heften sich ihre Augen auf die Tür neben der Garderobe. Seit ihrer Ankunft hatte sie alles daran gesetzt, sie zu ignorieren. Nun sah Ava sie jedoch wie nie zuvor. Dahinter verbarg sich das Arbeitszimmer ihres Vaters. Früher hatte sie nie verstanden, wofür er so etwas überhaupt brauchte. Als Polizist fand er Arbeit auf den Straßen der Kleinstadt und nicht in diesem Büro. Trotzdem hatte er unverhältnismäßig viel Zeit darin verbracht. Ihre einzige Vermutung war gewesen, dass er Akten mit nach Hause brachte, um sie in Ruhe zu bearbeiten. Plötzlich drängte sich ihr jedoch eine neue Idee auf.

Ava zog die Hand aus der Jackentasche und streckte sie nach der Türklinke aus. Langsam und bedächtig, als würde eine unsichtbare Wand gegen ihre Finger drücken und sie zurückzudrängen versuchen. Ihre Fingerkuppen streiften das staubige Metall und plötzlich kam es ihr vor, als bliebe ihr nicht mehr genug Luft zum Atmen. Sie nimmt einen tiefen Atemzug, doch es ist nicht genug.

Mit einem Finger fährt sie die Form der Klinke nach und sieht dabei zu, wie Staub zu Boden rieselt. Ihr Herz schlägt schwer in ihrer Brust. Wie viel hat sie wirklich über ihre Eltern gewusst und wie viel haben sie vor ihr versteckt, weil sie noch ein Kind war? Der Gedanke bohrt sich so spitz in ihr Herz wie ein Dolch. Die Antwort könnte sich hinter dieser Tür befinden. Ava müsste sie nur aufstoßen und einen Blick hinein wagen. Es klang so einfach und war gleichzeitig doch so schwer.

Ihre Gliedmaßen waren wie betäubt, als wehrte sich ihr Körper gegen ihren Verstand. Es kostete sie all ihre Willenskraft, um die Finger um die Türklinke zu schließen. Kaum spürte sie das kalte Metall in ihrer Handfläche, zuckte sie instinktiv zurück, als würde ein elektrischer Schock durch ihren Körper fahren.
Nein!
Jede Faser ihres Körpers schrie ihr zu, dass sie das nicht tun durfte. Dass es sie nicht konnte. Nicht jetzt. Nicht, wenn sie so lange dafür gekämpft hatte, nicht im Leid zu ertrinken. Ein Spaziergang durch den Wald war eine Sache. Das hier war eine andere. Sie konnte nicht die Habseligkeiten ihrer Eltern durchsuchen. Nicht die Worte lesen, die er vermutlich überall hin gekritzelt hatte so wie er es immer getan hatte, wenn ihm ein guter Gedanke kam. Sie würde sich nur in der Suche nach Worten verlieren, die nicht da waren. Nach einer Erklärung, die es nicht gab. Nach einem Abschied, den sie niemals hören würde.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging geradewegs auf die Tür zu. Bevor sie erneut ins Zögern geraten konnte, packte sie die Klinke und trat im nächsten Moment in die Kälte hinaus. Zum ersten Mal, seit sie hier aufgetaucht war, bohrte sich der eisige Wind nicht wie tausend Nadelspitzen in ihre Haut. Stattdessen schien er die Hitze, die in ihr aufstieg, schlagartig wieder herunterzukühlen.

Sich von ihrem Haus abzuwenden, war wie eine Erleichterung. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sich ihre grün-blauen Augen auf den Waldrand richteten. Ein merkwürdiges Ziehen zog sie in Richtung der Bäume, die sich ihre Äste im Wind schüttelten. Sie schob die Hände tief in ihre Jackentaschen, bevor sie sich in Bewegung setzte. Wenn sie sich Zeit zum Zögern gab, würde sie sich nur wieder in einem Haus verschanzen, in dem sie keine Ruhe fand.

Die Äste knackten unter ihren Schuhen, als sie sich ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch bahnte. Als sie ein Kind war, dachte sie, sie liebte die Natur. Kaum war sie gezwungen, Alaska zu verlassen, war ihr jedoch klar geworden, dass kein Ort sie beeindruckte wie ihre Heimat. Nun wieder hier zu sein, ließ ihr Herz höher schlagen. Als könnte es irgendwo unter den dicken Schichten des Schmerzes die Fragmente ihrer Kindheit finden, die nicht von Dunkelheit überzogen waren.

Wohin sie ging, wusste Ava nicht. Ihr Körper bewegte sich von selbst, als hätte sie jede Kontrolle darüber verloren. Die einzige Antwort, die sie hatte, war dieser Drang, der sie vorwärts zog. Als würde ihre Seele einem verborgenen Pfad folgen, der vor ihren Augen verborgen bleiben wollte.

Steine knirschten unter ihren Schuhen, während sie sich zwischen den dicken Stämmen hindurch schlängelte. Die Bäume um sie herum reckten ihre Äste weit in den Himmel und schlossen sich über ihrem Kopf zu einem hölzernen Spinnennetz. Wie uralte, sanfte Riesen, die hier vor einer Ewigkeit ihr Ende gefunden hatten, und in ihrem letzten Atemzug entschieden hatten, denen, die nach ihnen kamen, den letzten Schutz zu geben, den sie bieten konnten. Der Gedanke ließ Avas Herz schmerzen.

In diesem Ort ankerte etwas Altes, Mächtiges. Sie konnte es in diesem Atemzug spüren, den sie nahm. Beinahe ließ sie sich zu dem Gedanken hinreißen, die Erde unter ihren Füßen pulsieren zu spüren. Wie von selbst bewegte sie sich weiter durch das Unterholz in das Herz des Waldes hinein. Als würde sie eine unsichtbare Macht immer tiefer hineinziehen. Ein ungewohntes Kribbeln zuckte durch ihre Finger über ihre Haut bis in ihre Arme hinauf und ließ sie erschaudern.

Über ihren Kopf wurde der Wald immer dichter und schirmten sie immer weiter vor dem Sonnenlicht ab. Deshalb fiel es Ava sofort auf, als in der Ferne kleine Lichtpunkte über die Bäume huschten. Abrupt kam sie zum Stehen. Ihre Augen verengten sich, während sie auf die Stelle starrte. Irgendetwas an diesem Bild, das sich einige Meter von ihr entfernt abspielte, wirkte unnatürlich. Das Kribbeln in ihren Fingerkuppen wurde stärker.

Ava konnte es nicht in Worte fassen, was es war, doch da irgendetwas an diesem Ort. Es rief nach ihr. Zerrte an ihrem Körper wie unsichtbare Hände. Wie hypnotisiert setzte sie einen Fuß vor den anderen und steuerte geradewegs auf die Stelle zu. Als sie nah genug dran war, erkannte sie, dass es sich um eine Lichtung handelte.

Am Boden wuchsen milchig weiße Steine in einem unregelmäßigen Kreis aus dem Boden hinaus. Die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter drangen, spiegelten sich in der Oberfläche und warfen das Licht beinahe gespenstisch zurück. Ihr stockte der Atem.

Ihre Glieder waren schwer wie Blei, als Ava die Hand vor ihre Augen hob, an der sie ihren Ring trug. In dessen Stein brach sich das Licht auf die gleiche Weise in den Steinen am Boden. Instinktiv machte sie einen Schritt rückwärts.

Alles, was Pike gesagt hatte, stimmte. Ihr Vater musste hier gewesen sein. Die Wahrheit schloss sich um ihr Herz, wie eine Kobra um ihre Beute. Ihre Finger verkrampften sich zu einer Faust, als ein Zittern über sie rollte und ihren Körper schüttelte. Er war hier gewesen. Möglicherweise hatte er vor diesen verdammten letzten sechs Jahren, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, an genau dieser Stelle gestanden. In diesem Moment würde sie alles dafür geben, nur um mit ihm hier zu stehen. Sie brauchte keine Worte, keine Erklärungen. Sie wollte nur glauben, dass er noch immer hier war. Dass seine Existenz nicht vollständig von dieser Erde getilgt war.

„Dad", das Wort war ein kaum hörbares Flüstern aus ihrem Mund, als der Wind es packte und davonzutragen drohte. Es gab so viel, was sie sagen wollte. So viel, was sie am liebsten in die Welt hinaus geschrien hätte, damit sie endlich die Wahrheit hörte, die sie so lange in sich vergraben hatte. Doch es gelang ihr nicht, irgendeines dieser Worte aus ihrer Kehle herauszuzwingen.

Als sie letztendlich sprach, hörte sich ihre eigene Stimme fremd in ihren Ohren an: "Wieso hast du mir hiervon nie etwas gesagt?"
Nur langsam gelang es ihr, sich von der Stelle zu lösen, an der sie wie festgewurzelt gestanden hatte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als sie schlagartig ein merkwürdiger Respekt für diesen Ort überkam.

Kaum hatte sie den ersten Schritt in den Kreis hinein gemacht, begann die Luft um sie herum zu schwingen. Von ihren Füßen pulsierte etwas durch ihren Körper und ihr Herz machte einen Satz, der die Angst über sie hinweg rauschen ließ. Die Luft wurde ihr mit einer Wucht aus den Lungen gepresst, dass sie atmen begann wie ein Fisch an Land.

Einen Wimpernschlag später rauschte die Energie aus ihrem Körper hinaus wie eine Welle, die an einem Wellenbrecher zerschellte, und ließ sie mit zitternden Beinen zurück. Wie lange sie dort stand und einfach so weiter atmete, konnte Ava nicht sagen. Nur dass sie erst aufhörte, als sich der Eindruck zu ersticken legte und sich in ihrem Kopf nichts mehr drehte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein schwaches Leuchten auf, das sie zuvor kaum wahrgenommen hatte. Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie die Hand ein weiteres Mal in ihr Sichtfeld hob. Der kleine, ungeschliffene Stein, den sie zuvor an ihrem Ring begutachtet hatte, hatte auf die gleiche Weise zu glimmen begonnen wie die Steine, die den Kreis bildeten. Anstelle des weißlichen Lichtes, das die anderen absonderten, hatte sich der gewohnte lilafarbene Schein ihres eigenen Kristalls so deutlich verstärkt, dass er mit bloßem Auge einfach zu erkennen war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Irgendetwas stimmte mit diesem Ort nicht. Das war ganz deutlich. Diese Erkenntnis weckte in ihr gleichermaßen das Verlangen mehr zu erfahren und auf der Stelle Reißaus zu nehmen.

Doch sie zwang sich, nicht auf der Stelle kehrt zu machen. Ihren Verstand, der ihr zu flüsterte, welch dumme Idee das war, ignorierte trotz besseren Wissens einfach. Sie konnte sich nicht sicher sein, dass sie diesen Ort wieder fand, wenn sie jetzt zurückging. Dann würde sie es unweigerlich bereuen, den Schwanz eingezogen zu haben.

Testweise machte sie einen weiteren Schritt vorwärts und stählte sich innerlich erneut für dieses betäubende Gefühl. Doch als sie es am wenigsten erwartete, blieb es aus. Avas dunkle Augenbrauen zuckten in die Höhe, nicht ganz sicher, ob sie das als Erfolg einordnen konnte. Möglicherweise wanderte sie gerade auch am Rand zum Wahnsinn und hatte sich das erste Mal nur eingebildet. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigenen Gedanken.

Als auch beim nächsten Schritt nichts passierte, ging sie immer weiter, bis sie den Kreis durchquert hatte und vor einem der Steine zum Stehen blieb. Dort ging sie in die Knie. Nun war sie sich beinahe sicher. Das Schmuckstück, das in ihrem Ring steckte, musste von hier stammen. Eine andere Erklärung gab es nicht. Pike sagte, der Edelstein würde seinen Ursprung in diesem Wald haben und sie konnte sich kaum vorstellen, dass es einen zweiten Steinkreis gab.

Mit der Hand wischte sie die toten Blätter und den aufgewirbelten Dreck von der Oberfläche, um einen klaren Blick darauf zu erhalten. Was auch immer diese Kristalle waren. Sie waren gleichzeitig wunderschön und irgendwie gespenstisch. Ein Gefühl, das sie beim Anblick ihres Ringes nie überkommen hatte. Er war das letzte Geschenk, das sie von ihrem Vater hatte, und seit sie ihn wieder trug, fühlte sie sich ihm näher. Als würde er sie beschützen.

Gerade wollte sie die Hand erneut nach dem Stein ausstrecken, da zerriss eine männliche Stimme die Stille: "Wenn ich du wäre, würde ich das nicht anfassen."
Abrupt fuhr Ava herum.

Ein Mann stand hinter ihr zwischen den Bäumen. Er konnte kaum älter sein als sie selbst. Vielleicht ein oder zwei Jahre. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er mit finsterem Blick jede ihrer Bewegungen.

„Ach ja?", die Antwort kam, bevor Ava darüber nachdenken konnte: "Dann habe ich wohl Glück, dass du nicht in meinem Körper steckst."
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, während sie sich zu voller Größe aufrichtete. Woher diese Worte plötzlich kamen, konnte sie sich selbst nicht erklären. Vermutlich war es der Schock über sein unerwartetes Auftauchen, der ihren Verstand für einen Moment aussetzen ließ.

Der Unbekannte stieß einen Laut aus, der beinahe wie ein ersticktes, ungläubiges Lachen klang. Der Ausdruck in seinen verdunkelte sich, als hätte sich ein Schatten darüber gelegt, während er mit dem Kopf schüttelte. Trotz des seichten Windes tanzte keine seiner dunklen Haarsträhnen aus der Reihe. Entweder benutzte dieser Mann eine ungesunde Menge an Gel oder an diesem Ort stimmte tatsächlich etwas nicht.

„Du verschwindest besser von hier", seine Stimme war kalt wie das Eismeer, über das Ava nach Spring Haven gekommen war: "Ich will dich hier nicht nochmal mehr erwischen."
Er machte eine Handbewegung, als würde er eine Katze aus seinem Hinterhof vertreiben.

Beinahe wäre Ava die Kinnlade hinuntergefallen. Es kostete sie all ihre Selbstkontrolle, sich diese Blöße nicht zu geben. Stattdessen drehte sie sich demonstrativ um und warf einen Blick hinter sich, als erwartete sie halb, dass hinter ihr lautlos eine weitere Person aufgetaucht war. Doch natürlich stand dort niemand! Obwohl sie damit nicht gerechnet hatte, hatte sie es beinahe gehofft. Mit dem Gedanken, dass ihr ein Fremder vorzuschreiben versuchte, wohin sie gehen konnte, wollte sich ihr Stolz einfach nicht anfreunden.

Erneut fuhr sie zu ihm herum. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
„Oh, ich wusste gar nicht, dass ich mir von fremden Männern, die auf wahnsinnig gruselige Weise hinter mir auftauchen, Befehle erteilen lasse", erwiderte sie gezwungen ruhig und versuchte, die Arme so gut es ging neben sich hängenzulassen, um damit nicht in der Luft herumzufuchteln. Ärger staute sich in ihrem Bauch. Für wen hielt sich dieser Mann?
„Zumal wohl kaum die Rede davon sein kann, dass du mich erwischt hast", fügte sie hinzu, während die Ruhe ihre Stimme mit jedem Wort weiter verließ: "Das hier ist ein Wald. Bist du irgendein Waldelfe? Denn wenn nicht, hast du kein Recht, mir zu verbieten hier zu sein."

Der Unbekannte lachte erneut auf diese Weise, die dafür sorgte, dass sie sich wie eine Idiotin fühlte.
„Wer ich bin?", er schüttelte ungläubig mit dem Kopf, als müsste sie tatsächlich wissen, wer vor ihr stand: "Ich bin Isaac Clearwater. Meiner Familie gehört diese Stadt."
Er machte eine schwenkende Handbewegung, als würde er ihr damit zu sagen versuchen, dass sie auf seinem Boden stand.

Hätte er sich mit einem anderen Namen vorgestellt, hätte sie lautstark zu lachen begonnen. Doch sein Nachname warf sie aus der Bahn. Pike hatte einen Mann mit diesem Namen erwähnt. Das hier konnte jedoch unmöglich der Clearwater sein, von dem er gesprochen hatte. Dafür wirkte er viel zu jung. Trotzdem verlieh ihr diese Offenbarung ein ungutes Gefühl.

„Bezweifele ich", brachte sie hervor. Innerlich hoffte Ava, dass er ihr ihre Gedanken nicht ins Gesicht geschrieben standen. Egal, welche Andeutungen Pike gemacht hatte. Sie würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen. Egal, wer seine Familie war.

Die Muskeln in seinem Kiefer zuckten, während er sie mit ausdrucksloser Miene musterte.
„Ich weiß nicht, was du dir einbildest über diese Stadt zu wissen", er löste sich von dem Fleck, an dem es bis jetzt verweilt war und ging überraschend schnellen Schrittes auf sie zu: "Ich weiß nur, dass du offensichtlich falsch liegst, wenn du glaubst, einfach herkommen und tun zu können, was du willst."
Er blieb so nah vor ihr stehen, dass sie seinen warmen Atem auf ihren kalten Wangen spüren konnte. Jede Faser ihres Körpers schrie danach einen Schritt rückwärts zu machen, um sich aus seiner Reichweite zu begeben, doch ihre Sturheit gewann den Kampf.

„Deshalb sage ich es jetzt nochmal deutlich für dich, damit auch dein offensichtlich hohler Schädel es versteht", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er eine Hand hob und ihr mit dem Zeigefinger und Daumen gegen die Stirn schnippte: "In diese Stadt zu kommen, war ein Fehler. Wenn du schlau wärst, verkaufst du also so schnell es geht deine Dreckshütte und schwingst deinen kleinen, süßen Arsch aus der Stadt. Sonst lasse ich dich höchstpersönlich spüren, welche Konsequenzen ein Fehler wie dieser für dich hat."

Genau das ist doch mein Plan, Arschloch, dachte sie, konnte aber keines dieser Worte herausbringen. Sie wusste nichts über diesen Mann, außer dass das eine Genugtuung war, die sie ihm niemals geben würde. Egal wie sehr sie das Haus loswerden und nach Hause zurück wollte. Er würde davon nie erfahren. Stattdessen spuckte sie ihm entgegen: "Du kannst es versuchen."

Nun, da er ihr so nah war, sah sie, wie in seinen unheimlich dunklen Augen ein Ausdruck aufflammte, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie wollte ihre Worte bereuen, doch ihr Stolz wehrte effektiv jede Vernunft ab, die sie hätte überkommen können.
„Wenn du nicht freiwillig abhaust, werde ich dafür sorgen", er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und war damit noch näher, als sie es überhaupt für möglich gehalten hatte. Sein Schatten warf sich über ihr Gesicht, während er auf sie hinab starrte. Die Muskeln in seinem definierten Kiefer zuckten.

Irgendetwas an seiner Reaktion spornte sie nur noch weiter an. War da etwas an seinem Nachnamen und seinem Auftreten, das ihr ein wenig Angst machte? Möglich. Doch er war lange nicht so furchteinflößend, wie er von sich selbst zu denken schien. Sie kannte Leute wie ihn. Vermutlich hatte er diese Stadt noch nie verlassen und hielt sich – nur weil sein Vater hier etwas Einfluss hatte – für wichtig. Deshalb gab es für sie nur eine logische Antwort, als die Wut in ihrem Bauch zu explodieren drohte.
„Viel Glück bei dem Versuch."

Als Ava sich an ihm vorbei schob, prallte ihre Schulter absichtlich leicht gegen seine. Dabei machte sie sich nicht einmal die Mühe, eine falsche Entschuldigung über die Lippen zu bringen. Stattdessen lief sie geradewegs auf die Bäume zu, die von der Lichtung zurück in den dichten Wald führten. Mit seinem Bullshit war sie fertig. Mit diesem Ort allerdings noch lange nicht. Sie würde zu einem anderen Zeitpunkt herkommen und zu Ende führen, was sie angefangen hatte. Wenn er so erpicht darauf war, sie von hier fernzuhalten, dass er ihr drohte, musste es sich um mehr als eine zufällige Ansammlung merkwürdiger Steine handeln.

Aus dem Augenwinkel warf sie einen letzten Blick in seine Richtung. Er hatte sich von der Stelle gelöst, an der sie ihn zurückgelassen hatte. In ähnlicher Weise wie sie zuvor, war er mit dem Rücken zu ihr vor dem Stein, von dem sie den Dreck gewischt hatte, in die Hocke gegangen. Sie schüttelte leicht den Kopf und setzte ihren Weg fort.

Ein weiteres Mal drehte sich Ava nicht um. Sie lauschte lediglich auf Schritte im Geäst. Doch nichts war zu hören.

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