11. Versuchter Revoluzzer

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Am Abend hatte ich einen mordsschweren Karton mit 8500 Seiten Silva Mystica die Treppen hinauf zu schleppen. In meiner Fantasie sah ich mich schon durch die morschen Holzstufen brechen und in einem längst vergessenen Verschlag voller Staub und riesiger schwarzer Spinnen landen.

Rebecca, unsere Praktikantin, hatte mich zum Glück zusammen mit dem Karton in ihrem Mini nach Hause gefahren. Als wir auf den Hof fuhren, rümpfte sie zunächst die Nase.

„Hier wohnst du?"

Ich wollte lieber nicht wissen was sie als angemessenes Zuhause empfand. Dann jedoch breitete sich ein schwer zu deutendes Lächeln auf ihrem sommersprossigen Gesicht aus.

Gemeinsam wuchteten wir den Karton aus dem Kofferraum und schleppten ihn zur Eingangstür. Rebecca machte keine Anstalten sofort wieder los zu fahren. Erwartete sie etwa, dass ich sie auf einen Kaffee einlud?

Ich dachte nach.

„Junge, nimm dir Zeit! Lass dich nicht hetzen. Zähle einfach bis fünf, dann erst entscheidest du dich!", hatte meine Oma immer gesagt. „Die Zeit langziehen" nannte sie das.

Ein, zwei, drei, drei, vier, vier, vier, fünf.

„Magst du noch 'n Kaffee? Quasi als Dankeschön ...?"

Rebecca war recht hübsch. Pferdeschwanz, so wie ich einen gehabt hatte, schmale Nase, flippiger Kleidungsstil, der irgendwo in den Siebzigern stecken geblieben schien.

Sie lief zurück zu ihrem Wagen, und ich dachte schon, dass ich sie vergrault hatte, doch sie schloss bloß den Kofferraum und verriegelte die Seitentüren.

„Gerne!"

Ein süßes Lächeln, das diesen trüben Innenhof enorm aufwertete. Nicht jedoch so süß wie Maras Lächeln, beruhigte ich mich.

Während wir die abgetretenen Stufen zu meiner Wohnung hinauf stiegen, sah sie sich immer wieder um. Die abgewetzten Handläufe, den abplatzenden Lack des Geländers und die breiten Risse im gesprungenen Wandputz. Besonders unangenehm war mir die völlig vertrocknete Zimmerpflanze, die mein Nachbar vor einigen Tagen aus seiner Wohnung geschmissen und einfach hier abgestellt hatte.

Rebecca schien jedoch angetan.

„Genau so stelle ich mir 'ne Terroristenbude vor!"

Sie sah mich von der Seite an und grinste herausfordernd.

„Besetztes Haus und so, weißte!"

Ich spürte wie ich die Gesichtsfarbe verlor. Wir waren hier in einer südniedersächsischen Kleinstadt und nicht in West-Berlin!Für wen hielt sie mich? Einen untergetauchten RAF-Terroristen? Ich fasste mir in den Nacken, strich mir durch den Vollbart. Sah ich wirklich aus wie diese finsteren Gestalten auf den Fahndungsplakaten? Im Schalterraum der Hauptpost hing so eins. In unregelmäßigen Abständen wurde immer mal wieder eines der Gesichter durchgestrichen, was bedeutete, dass der oder die Gesuchte gefasst worden war.

„In welchem Teil der Stadt wohnst du denn ...?"

Sie wich meinem Blick aus, blickte auf den Boden, ganz so als schäme sie sich.

„Meine Eltern haben ein Haus in Dreilinden. Finde ich aber ätzend", beeilte sie sich hinzuzufügen. „Voll spießig. Das hier gefällt mir viel besser!"

Okay, dachte ich, das hätten wir geklärt. Auch sie liebte also diesen miefigen, studentischen Charme, diesen Hauch Anarchie in der kohlsuppengeschwängerten Luft.

Bekam ich das hin? Ich dachte schon. Gab ich hier heute Abend also den verruchten, durchradikalisierten Ex-Studenten.

Irgendwo musste ich noch die verknitterte Che-Guevara-Fahne haben, die ich unauffällig in der Küche platzieren konnte. Das würde jedoch zeitlich etwas schwierig werden. Mir fiel jedoch ein wo ich sie verstaut hatte: in der untersten Schublade meines Kleiderschranks. Eine noch viel bessere Idee kam mir in den Sinn. Ich konnte mich nackig machen und in die Fahne einwickeln. Überraschung! Im selben Moment schämte ich mich abgrundtief für diesen Gedanken und bat Mara im stillen Gebet um Entschuldigung.

Den Karton mit den Heften wuchtete ich ins Wohnzimmer und ließ ihn vor dem Fernseher auf den Boden gleiten. Ich ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Rebecca zog ihre dünne Jacke aus und schmiss sie über die Stuhllehne. Das Hemdchen, welches sie darunter trug, schien mindestens um ein, zwei Nummern zu klein zu sein. Ein Stück ihres Bauches lag frei und die kleinen Brüste wirkten eingequetscht. Weshalb tat sie sich das an? War das Berechnung? Ich versuchte nicht allzu auffällig hinzusehen.

„Hübsche Bude hast du hier!", hörte ich sie rufen während ich durch den Flur ins Klo verschwand. Die Tür ließ ich offen stehen, was seine Gründe hatte.

Mit sechs oder sieben Jahren, ich war gerade eingeschult worden, hatte ich mich auf der Geburtstagsfeier meiner Lieblingsoma im Badezimmer eingeschlossen, um nach verrichtetem Geschäft mit Schrecken festzustellen, dass ich die Tür nicht wieder aufbekam. Verzweifelt drehte ich den Schlüssel nach rechts, dann nach links, einmal, zweimal, dreimal, zog ihn aus dem Schlüsselloch, steckte ihn wieder hinein, dreht erneut wie ein Verrückter, rüttelte an der Türklinke. Nichts.

Die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich saß fest in meinem eigenen Mief. Damals war es mir wie Stunden vorgekommen. Wahrscheinlich waren jedoch nicht mehr als dreißig oder vierzig Sekunden vergangen, als ich draußen vor der Tür Stimmen hörte. Es war mein Opa.

„Du musst den Schlüssel so herum ..., das ..."

Ich verstand kein Wort. Mein Schluchzen war zu laut. Außerdem nuschelte mein Opa fürchterlich. Er trug ein Gebiss, das ständig wackelte, weil er billige Haftcreme vom Aldi benutzte.

Weitere Stimmen kamen hinzu. Meine Mutter. Meine Oma. Mein Vater. Sie alle versuchten mir wertvolle Tipps durch die Klotür zu geben.

„Den Schlüssel ganz behutsam und vorsichtig umdrehen, nicht so ruckhaft!"

„Tief durchatmen, Lupo! Rettung naht!"

„Wir lassen dir auch noch Kuchen übrig!"

„Bis du verheiratet bist, haben wir dich wieder draußen!"

Eine durchsichtige Flüssigkeit quoll durch das Schlüsselloch. Mein Opa hatte Schmieröl geholt und es fachmännisch zur Anwendung gebracht.

„Jetzt den Schlüssel rausziehen und noch mal reinstecken, aber ganz zart nur!" Draußen lachten sie, als hätte Opa einen Witz gemacht. Erwachsene waren komisch.

Da endlich, nach gefühlten vierundzwanzig Stunden Einzelhaft, sprang die Tür auf. Ich blickte in zwanzig Augenpaare, denn auf diese Größe war die Helfergemeinschaft inzwischen angewachsen. Sie alle blickten mich mit einer Mischung aus Mitleid, Spott und Erleichterung entgegen. Dann brachen sie plötzlich in schallendes Gelächter aus und bildeten ein Spalier, durch das ich, wie der König aus dem Exil, zurück ins Wohnzimmer schritt.

Oma schnitt mir das größte Stück Schwarzwälder Kirschtorte ab, das ich je gesehen hatte.

Aus dem Bad rief mein Opa: „Mannomann hat der Kleine einen Schiss! Und er hat gar nicht gespült ...!"

Ich wurde rot wie die kandierte Kirsche auf meinem Tortenstück, und hoffte inständig, dass die Festgesellschaft meinen Opa nicht verstanden hatte. Ganz klein machte ich mich zwischen Onkel Ullrich und Tante Hiltrud, die mir tröstend ihre goldberingte Hand auf den Kopf legte.


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